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b) Zur Bedeutung der allgemeinen Justizgewährungspflicht in Deutschland

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In Deutschland lässt sich dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG ebenfalls eine allgemeine Justizgewährungspflicht entnehmen. Als Konsequenz des staatlichen Gewaltmonopols, des Selbsthilfeverbots und der allgemeinen Friedenspflicht der Bürger[75] korrespondiert damit i.d.R. ein aus Art. 2 Abs. 1 GG bzw. spezielleren Grundrechten abgeleiteter Justizgewährungsanspruch.[76] Dieser garantiert einen Mindeststandard, der auch im Rahmen des Verwaltungsrechtsschutzes nicht unterschritten werden darf, aber optimierungsfähig ist.[77]

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Zu den wesentlichen Ausprägungen des in Art. 20 Abs. 3 GG angesprochenen Rechtsstaatsprinzips zählt auch die Garantie effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG.[78] Soweit ihr Anwendungsbereich reicht, verdrängt sie den allgemeinen Justizgewährungsanspruch jedoch als lex specialis.[79] Letzterer hat – wie auch der übergreifende Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit – für den Verwaltungsrechtsschutz daher nur eine lückenfüllende Funktion.

§ 127 Zur verfassungsrechtlichen Prägung des Verwaltungsrechtsschutzes im europäischen Rechtsraum › II. Verfassungsrechtliche Vorgaben für den Verwaltungsrechtsschutz › 3. Verwaltungsrechtsschutz als Teil materieller (Grund-)Rechtsgarantien

3. Verwaltungsrechtsschutz als Teil materieller (Grund-)Rechtsgarantien

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Da Rechte nur wirksam sind, wenn sie im Konfliktfall auch durchgesetzt werden können, ist die effektive Durchsetzbarkeit der von den einzelnen (Grund-)Rechten geschützten Interessen ein integraler Bestandteil dieser (Grund-)Rechte selbst.[80] Einem (Grund-)Recht wohnt daher typischerweise ein umfassendes „Effektivitätsgebot“ inne, das nicht nur Grundlage der aus dem einzelnen (Grund-)Recht abgeleiteten Abwehr-, Unterlassungs- und Folgenbeseitigungsansprüche ist, sondern auch eine Vorwirkung in das Verwaltungsverfahren hinein entfaltet (due process). Zugleich ist es Basis für die Zuerkennung von Amtshaftungs- und Entschädigungsansprüchen.[81] Da all dies zur Effektivität eines (grund-)rechtlich geschützten Interesses bzw. subjektiven öffentlichen Rechts gehört, beinhaltet die Zuerkennung eines Abwehr-, Leistungs- oder Teilhaberechts gegenüber dem Staat und seiner Verwaltung daher stets auch ein – in der Regel vor Gericht einzulösendes – Durchsetzungsversprechen. Ein Anspruch auf gerichtlichen Rechtsschutz gegen die Verwaltung ergibt sich damit auch unmittelbar aus dem jeweils betroffenen (Grund-)Recht. Das mag vor allem in den Rechtsordnungen Bedeutung erlangen, die keine ausdrückliche Rechtsschutzgarantie kennen.

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In Rechtsprechung und Schrifttum in Deutschland hat sich daraus eine Debatte ergeben, die – soweit ersichtlich – in anderen Rechtsordnungen so nicht geführt wird, die aber dennoch von allgemeinerer Bedeutung werden kann: Kennt die Verfassung – wie Art. 19 Abs. 4 GG – eine formelle Rechtsschutzgarantie, schließt das eine flankierende Herleitung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz aus den materiellen Grundrechten zwar nicht aus. Das Nebeneinander beider Gewährleistungen wirft – wie die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zeigt[82] – jedoch die Frage auf, ob die Garantie effektiven Rechtsschutzes damit nicht funktionslos wird.[83] Hinzu kommt, dass die Beschränkungsmöglichkeiten von materiellen Grundrechten und Rechtsschutzgarantie häufig variieren.

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Eine konsistente Lösung ergibt sich, wenn man erkennt, dass Art. 19 Abs. 4 GG als formelles Hauptgrundrecht[84] – anders als die materiellen Grundrechte – selbst keine originären Ansprüche gegenüber dem Staat und seiner Verwaltung begründet, sondern auf die Durchsetzung und Effektivierung der anderweitig begründeten Rechte und Ansprüche zielt. Indem er das den materiellen Grundrechten innewohnende Effektivitätsgebot aufgreift und für der Verwaltung zurechenbare Rechtsverletzungen einen effektiven gerichtlichen Individualrechtsschutz anordnet, erscheint er insoweit zum einen als lex specialis gegenüber den materiellen Gewährleistungen.[85] Zum anderen erfasst er auch allein aufgrund einfach-gesetzlicher Dezision begründete Rechte, soziale Leistungsrechte etwa, oder die wachsende Zahl von (Teilhabe-)Rechten auf unionsrechtlicher Grundlage (z.B. Anspruch auf Umweltinformationen gem. RiL 2003/4/EG, § 3 Abs. 1 UIG),[86] soweit der Gesetzgeber ihre Geltendmachung – vorbehaltlich unionsrechtlicher Vorgaben (Art. 47 GRCh)[87] – nicht ausgeschlossen hat.

§ 127 Zur verfassungsrechtlichen Prägung des Verwaltungsrechtsschutzes im europäischen Rechtsraum › III. Verfassungsrechtliche Vorgaben für die organisatorische Ausgestaltung des Verwaltungsrechtsschutzes

III. Verfassungsrechtliche Vorgaben für die organisatorische Ausgestaltung des Verwaltungsrechtsschutzes

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Konkrete Vorgaben organisatorischer Art für den Verwaltungsrechtsschutz finden sich in den einzelnen Rechtsordnungen in höchst unterschiedlichem Maße. Während die CF den Verwaltungsrechtsschutz nur beiläufig erwähnt,[88] finden sich in anderen Verfassungen vergleichsweise detaillierte Bestimmungen über Organisation und Verfahren der mit dem Verwaltungsrechtsschutz befassten Gerichte – in Polen[89] etwa oder in Österreich, wo das B-VG der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Abschnitt A des Siebenten Hauptstücks unzählige Detailregelungen widmet.[90]

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In Deutschland kann von einer Monopolisierung des Verwaltungsrechtsschutzes in den Händen der Verwaltungsgerichtsbarkeit(en) nicht die Rede sein. Das GG weist – im Wesentlichen aus historischen Gründen – bestimmte Streitigkeiten vielmehr den ordentlichen Gerichten zu (Art. 14 Abs. 3 Satz 4, Art. 34 Satz 3 GG),[91] ordnet eine Auffangzuständigkeit der ordentlichen Gerichte an (Art. 19 Abs. 4 Satz 2 GG) und begnügt sich im Übrigen mit der Auflistung der fünf obersten Gerichtshöfe des Bundes, zu denen u.a. drei in der Sache dem Verwaltungsrechtsschutz dienende Gerichtshöfe gehören – das Bundesverwaltungsgericht, das Bundessozialgericht und der Bundesfinanzhof (Art. 95 Abs. 1 GG). Das GG geht damit zumindest von der Existenz von fünf Fachgerichtsbarkeiten mit den genannten Gerichtshöfen an ihrer Spitze aus. Dies steht einer Zusammenfassung der Verwaltungs-, Sozial- und Finanzgerichtsbarkeit[92] zu einer einzigen Verwaltungsgerichtsbarkeit, wie sie immer wieder diskutiert wird, zwar nicht im Wege; eine Mehrheit hat sich dafür in den letzten 70 Jahren jedoch nicht gefunden. Existenz und Funktion der Verwaltungsgerichtsbarkeit sind damit zwar nicht rechtlich,[93] wohl aber faktisch abgesichert. Von der funktionalen Gleichwertigkeit aller fachgerichtlichen Rechtswege ausgehend,[94] verbürgt das GG zwar einen gerichtlichen Verwaltungsrechtsschutz, nicht aber auch einen Verwaltungsgerichtsschutz. Ob Verwaltungsrechtsschutz durch die Verwaltungsgerichte oder die ordentlichen Gerichte gewährt wird, ist vielmehr eine Frage der (rechts-)politischen Zweckmäßigkeit. Kraft gesetzlicher Anordnung sind die ordentlichen Gerichte so auch jenseits des Bereichs von Art. 14 Abs. 3 Satz 4 bzw. Art. 34 Satz 3 GG für Aufopferungsansprüche und Ansprüche aus öffentlich-rechtlicher Verwahrung zuständig (§ 40 Abs. 2 Satz 1 VwGO), für Baulandsachen (§ 217 Abs. 1 Satz 4 BauGB), das Kartell-[95] und das Vergaberecht (§§ 97 ff. GWB)[96] sowie mittlerweile auch für weite Bereiche des Regulierungsrechts.[97] Aus alldem lässt sich jedenfalls nicht entnehmen, dass der Verwaltungsrechtsschutz vorrangig der Verwaltungsgerichtsbarkeit zugewiesen wäre. Der Verwaltungsrechtsschutz liegt vielmehr in den Händen von drei verwaltungsrechtlichen sowie der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Bei der Zuständigkeitsabgrenzung ist der Gesetzgeber relativ frei. Entsprechend unsystematisch, von tagespolitischen Kompromissen und den Interessen von Fachbruderschaften und Lobbyisten geprägt, fällt diese denn auch aus, wobei ein gewisses Ressentiment des Gesetzgebers gegen die als zu übergriffig empfundene Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht von der Hand zu weisen ist.

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In Italien hat die Cost. die seit dem 19. Jahrhundert historisch gewachsene Rechtswegabgrenzung zwischen ordentlichen und Verwaltungsgerichten anhand der Unterscheidung von diritti soggetivi und interessi legittimi[98] in Art. 24, Art. 103 und Art. 113 Cost. rezipiert und das Nebeneinander der beiden Gerichtszweige im Bereich des Verwaltungsrechtsschutzes verfassungskräftig festgeschrieben, dem Gesetzgeber allerdings auch hier Raum zur näheren Zuständigkeitsabgrenzung gelassen.[99] Eine vollständige Zuweisung aller Verwaltungsrechtsstreitigkeiten an die Verwaltungsgerichtsbarkeit erlaubt die Cost. aber nicht.[100]

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Hervorzuheben ist ferner der jüngst vollzogene – in seinen praktischen Auswirkungen freilich noch nicht klar abzuschätzende – Systemwechsel in Ungarn: Hatte man in Fortführung des sozialistischen Erbes zunächst an der Vorstellung einer einheitlichen Gerichtsbarkeit festgehalten und die für Verwaltungssachen zuständigen Spruchkörper organisatorisch bei den ordentlichen („Einheits“-)Gerichten angesiedelt, was neben anderen Schwierigkeiten einer Spezialisierung der Richter im Wege stand,[101] so hat die 7. Änderung des GrundG vom 28. Juni 2018 den die Gerichtsverfassung regelnden Art. 25 GrundG umfassend novelliert und eine institutionelle Trennung zwischen ordentlicher und (neu zu errichtender) Verwaltungsgerichtsbarkeit eingeführt.[102] Während die ordentlichen Gerichte nunmehr exklusiv für die Zivil- und Strafgerichtsbarkeit zuständig sind (Art. 25 Abs. 2 Satz 1 GrundG), weist Art. 25 Abs. 3 Satz 1 GrundG der Verwaltungsgerichtsbarkeit die Zuständigkeit für die „Verwaltungsrechtsstreitigkeiten und sonstige in einem Gesetz bestimmte Sachen“ zu. Hat der Gesetzgeber bei der Zuordnung von arbeits- und sozialrechtlichen Streitigkeiten noch Spielraum, sind die Verwaltungsstreitigkeiten den neuen Verwaltungsgerichten nunmehr ausschließlich und unentziehbar zugewiesen.

 

§ 127 Zur verfassungsrechtlichen Prägung des Verwaltungsrechtsschutzes im europäischen Rechtsraum › IV. Verfassungsrechtliche Anforderungen an den „Rechtsweg“ und seine Ausgestaltung

IV. Verfassungsrechtliche Anforderungen an den „Rechtsweg“ und seine Ausgestaltung

§ 127 Zur verfassungsrechtlichen Prägung des Verwaltungsrechtsschutzes im europäischen Rechtsraum › IV. Verfassungsrechtliche Anforderungen an den „Rechtsweg“ und seine Ausgestaltung › 1. Individualrechtsschutz und objektive Rechtmäßigkeitskontrolle

1. Individualrechtsschutz und objektive Rechtmäßigkeitskontrolle

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Systembildende Bedeutung für den Verwaltungsrechtsschutz kommt ferner der primär subjektiven oder objektiven Ausrichtung des Verwaltungsrechtsschutzes zu. Hier lässt sich eine deutliche Annäherung der ursprünglich sehr unterschiedlichen Systeme feststellen.

a) Zum Stellenwert des Individualrechtsschutzes

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In Deutschland,[103] Griechenland,[104] Großbritannien,[105] Italien,[106] Österreich,[107] Portugal,[108] der Schweiz[109] und Spanien[110] wird der Verwaltungsrechtsschutz in erster Linie als Instrument des Individualrechtsschutzes verstanden, das dem Schutz des Bürgers und seiner subjektiven öffentlichen Rechte bzw. Interessen dient. Dass der Verwaltungsrechtsschutz zugleich der Durchsetzung des Legalitätsprinzips dient, ist eine Art Kollateralnutzen.[111]

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Ist der Rechtsschutz gegenüber der öffentlichen Gewalt als Grundrecht ausgestaltet,[112] kommt darin zum Ausdruck, dass die Rechtsschutzgarantie – wie alle Grundrechte – primär den Einzelnen und seine Selbstbestimmung im Auge hat, weniger die institutionellen und funktionellen Weiterungen, die mit einem ausgebauten Rechtsschutzsystem einhergehen.[113] Als „formelles Hauptgrundrecht“[114] ist die Rechtsschutzgarantie insoweit eine „Bastion der Individualität“[115] und zugleich eine Systementscheidung für einen auf den Individualrechtsschutz konzentrierten Verwaltungsrechtsschutz.[116] Das gilt auch für Großbritannien, das unter Rückgriff auf die rule of law jedenfalls bei der Verletzung subjektiver Rechte eine quasi-verfassungsrechtliche Verbürgung von Verwaltungsrechtsschutz kennt[117] und obwohl die tribunals eine Zweckmäßigkeitskontrolle vornehmen, die zugleich der Korrektur der Verwaltung dient.

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In Frankreich[118] – aber auch in Belgien,[119] Polen[120] und Schweden[121] – werden Individualrechtsschutz und objektive Rechtmäßigkeitskontrolle hingegen nicht als dermaßen dichotomische Antipoden verstanden. Hier geht beides vielmehr Hand in Hand: (Gerichtliche) Rechtsbehelfe dienen der Sanktionierung rechtswidrigen Verwaltungshandelns und damit zugleich der Wahrung der Rechte und Interessen der Bürger, ohne dass Letzteres allerdings im Vordergrund stünde.[122] Obwohl Polen mit Art. 45 Abs. 1, Art. 77 Abs. 2 und Art. 78 Verf. über eine Rechtsschutzgarantie verfügt, räumt es dem Individualrechtsschutz keinen deutlichen Vorrang ein, sondern steht insoweit dem französischen Verständnis näher.[123] Der Akzent auf der objektiven Rechtmäßigkeitskontrolle bedeutet freilich nicht, dass Rechtsverletzungen keiner (verwaltungs-)gerichtlichen Überprüfung unterlägen. Vielmehr lässt sich gerade der Entwicklung des französischen Verwaltungsprozessrechts in den vergangenen Jahren durchaus entnehmen, dass dort individuelle Interessen und Belange an Gewicht gewonnen haben.

b) Individualrechtsschutz und Legalitätsprinzip

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Ein lückenloser Individualrechtsschutz wirkt sich zwangsläufig disziplinierend auf die Verwaltung aus, weil diese die mögliche Inanspruchnahme von Rechtsschutz stets in Rechnung stellen muss,[124] und dient insoweit auch der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung bzw. dem Legalitätsprinzip. Mit jeder Inanspruchnahme von Verwaltungsrechtsschutz geht auch stets eine objektive Rechtmäßigkeitskontrolle der Verwaltung einher, die dem demokratisch legitimierten Recht zur Durchsetzung verhilft.[125] Dass die Inanspruchnahme von Individualrechtsschutz immer auch der Durchsetzung des Legalitätsprinzips bzw. der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung dient und damit jeder Kläger immer auch – als „citoyen“ im wahrsten Sinne des Wortes[126] – gewissermaßen als „Organ der Rechtspflege“ handelt,[127] ist eine aus dem Unionsrecht geläufige Einsicht, wo der EuGH den Kläger seit der Rs. van Gend & Loos für die Durchsetzung des Unionsrechts mobilisiert bzw. instrumentalisiert hat.[128] Das gilt über das Unionsrecht hinaus, auch wenn die objektive Rechtmäßigkeitskontrolle in einem durch die Prägekraft einer Rechtsschutzgarantie auf den Individualrechtsschutz ausgerichteten System des (Verwaltungs-)Rechtsschutzes stets nur ein – unvermeidlicher, aber willkommener – „Reflex“ bleibt.

c) Angleichung der Rechtsschutzsysteme durch Ausweitung subjektiver Rechte und einer bereichsspezifischen objektiven Rechtmäßigkeitskontrolle

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Die Angleichung des Verwaltungsrechtsschutzes im europäischen Rechtsraum beruht vor allem auf den beiden Megatrends im Verwaltungsrecht der vergangenen 70 Jahre – der Konstitutionalisierung und der Europäisierung. Beide haben eine kontinuierliche Ausweitung subjektiver öffentlicher Rechte bzw. rechtlich geschützter Interessen angetrieben[129] und zudem zahlreiche Handlungen der Exekutive einer gerichtlichen Kontrolle unterworfen, die lange Zeit als nicht justitiabel gegolten haben.[130]

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Auch in Rechtsordnungen, die den Individualrechtsschutz ins Zentrum stellen, ist der gezielte Einsatz des Verwaltungsrechtsschutzes für eine objektive Rechtmäßigkeitskontrolle im Übrigen nicht ausgeschlossen.[131] Soweit Rechtsschutz ausschließlich der Wahrung öffentlicher Belange durch eine für die Durchsetzung des Rechts mobilisierte natürliche oder juristische Person dient – wie etwa die altruistische Verbandsklage im Umwelt- und Naturschutzrecht[132] –, stellt sich das der Sache nach als Durchbrechung der Systementscheidung für den Individualrechtsschutz dar.[133] Zwar schließt diese den Einsatz gerichtlicher Verfahren für eine objektive Rechtmäßigkeitskontrolle nicht aus; einer grundlegenden Systemverschiebung wird sie jedoch entgegenstehen, sodass die Belastung der Gerichte mit allein der objektiven Rechtmäßigkeitskontrolle der Verwaltung dienenden Verfahren die Gewährleistung effektiven Individualrechtsschutzes nicht faktisch aushöhlen darf.[134]

§ 127 Zur verfassungsrechtlichen Prägung des Verwaltungsrechtsschutzes im europäischen Rechtsraum › IV. Verfassungsrechtliche Anforderungen an den „Rechtsweg“ und seine Ausgestaltung › 2. Gewährleistungsgehalt der Rechtsschutzgarantie

2. Gewährleistungsgehalt der Rechtsschutzgarantie

a) Verwaltungsrechtsschutz als Gerichtsschutz

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Effektiver Rechtsschutz wird – vorbehaltlich anderweitiger verfassungsrechtlicher[135] oder supranationaler Vorgaben[136] – grundsätzlich durch staatliche Gerichte gewährt.[137] Auch der Verwaltungsrechtsschutz liegt insoweit vorrangig in der Hand von Gerichten. Das gilt auch für Großbritannien, jedenfalls dann, wenn man die unabhängig und in einem gerichtsähnlichen Verfahren entscheidenden tribunals miteinbezieht.[138]

b) Verwaltungsinterner Rechtsschutz

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Die meisten europäischen Rechtsordnungen kennen aber auch Formen eines verwaltungsinternen Rechtsschutzes, vor allem in der Gestalt eines – dem gerichtlichen Verfahren vorgeschalteten – obligatorischen oder fakultativen Beschwerde- oder Widerspruchsverfahrens.[139] In der Regel beruht dies auf einer einfach-gesetzlichen Anordnung, mitunter ist es auch verfassungsrechtlich vorgegeben, etwa in Polen, wo die Verfassung die sog. instanzielle Verwaltungskontrolle ausdrücklich vorschreibt (§ 78 Verf.).[140]

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Zum verwaltungsinternen Rechtsschutz gehören auch die Konstellationen, in denen das Gesetz eine Streitentscheidung zwischen Bürger und Verwaltung besonderen verwaltungsinternen Ausschüssen überträgt. In Deutschland – vergleichbare Einrichtungen finden sich aber auch in anderen Rechtsordnungen[141] – gilt dies namentlich für die Beschlusskammern bzw. -abteilungen im Energiewirtschafts- und Kartellrecht (§ 59 Abs. 1 Satz 1 EnWG, § 51 Abs. 2 bis 4 GWB) sowie für die Vergabekammern (§ 155 ff. GWB). Mangels organisatorisch-institutioneller Trennung von der Exekutive sind solche Einrichtungen Behörden und keine Gerichte, auch wenn ihre Mitglieder unabhängig sind und sie in einem gerichtsähnlichen Verfahren entscheiden.[142] Davon zu unterscheiden ist, ob sie den Anforderungen des Art. 267 AEUV genügen und zu einer Vorlage an den EuGH berechtigt sind.[143] Denn dem EuGH geht es insoweit weniger um einen effektiven Rechtsschutz denn darum, die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts möglichst umfassend durchsetzen zu können.

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Soweit gegen die Entscheidungen des verwaltungsinternen Rechtsschutzes der Weg zu den Gerichten eröffnet ist – sei es die Klageerhebung nach Abschluss eines Vorverfahrens,[144] sei es als „Rechtsmittel“[145] – liegt in der Regel erst darin die den verfassungsrechtlichen Anforderungen bzw. Art. 6 EMRK genügende Einlösung der Garantie effektiven Rechtsschutzes.[146] Insoweit ist der verwaltungsinterne Rechtsschutz – vorbehaltlich spezifischer verfassungsrechtlicher Vorgaben – jedenfalls unter dem Blickwinkel der Rechtsschutzgarantie nicht entscheidend, sodass auch gegen seine Streichung in der Regel keine verfassungsrechtlichen Einwände bestehen dürften.[147]

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Zum Befund der Rechtsschutzgarantie in Europa gehört in diesem Zusammenhang auch, dass die Mitgliedstaaten bei der Gründung supranationaler Einrichtungen wie den Europäischen Schulen[148] oder dem Europäischen Patentamt[149] – anders als in der EU – keine unabhängigen Gerichte geschaffen, sondern den Rechtsschutz ebenfalls internen Beschwerdekammern zugewiesen haben.[150] Hier stellt sich mit Blick auf die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Übertragung von Hoheitsrechten die Frage, welches Mindestmaß an wirkungsvollem Rechtsschutz dabei gewährleistet werden muss und ob die Verwaltungspraxis der supranationalen Einrichtungen dem gerecht wird.[151]