Ius Publicum Europaeum

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IV. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der
europäischen Rechtsgemeinschaft

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Ähnlich wie das Verfassungsrecht durch die ausgreifende Rechtsprechung des BVerfG kontinuierlich an Bedeutung für die Verwaltungsgerichtsbarkeit gewonnen hat, ist auch das Europarecht wegen der umfassenden Durchdringung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen durch das Unionsrecht für die Verwaltungsgerichte in vielen Bereichen alltäglicher Begleiter geworden. Die Verwaltungsgerichte in Deutschland haben das Europarecht dabei in der Gesamtbetrachtung überwiegend konstruktiv aufgenommen.

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Die von EuGH-Rechtsprechung und Lehre entwickelten Figuren des europäischen Verwaltungsrechts sind von der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland im Wesentlichen ohne grundsätzliche Beanstandung geblieben. Das Grundmuster des europäisierten Verwaltungsrechts ist in Deutschland nicht prinzipiell in Frage gestellt worden: Ergeben sich aus dem Anwendungsvorrang des Europarechts Abweichungen für die Rechtsanwendung, so werden diese in aller Regel hingenommen.

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Ohne jeden Zwischenfall ist die Entwicklung freilich auch nicht verlaufen. So verbinden sich mit der Rs. Alcan[285] aus dem Jahre 1997, in der die Vertrauensschutzgarantien des deutschen Verwaltungsrechts mit dem vorrangigen Europarecht kollidierten, eine durchaus kontroverse Diskussion und ein Aufmerksamkeitsschub für die Überformung des nationalen Verwaltungsrechts durch Europarecht. Die Aufregung konzentrierte sich indessen vor allem auf das Schrifttum[286] und hat in Gerichtsentscheidungen keinen Niederschlag gefunden. Ein prinzipieller Widerstand gegen die Alcan-Rechtsprechung ist in der Folge dann auch zunehmend verschwunden.[287]

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Es bestehen dabei aber auch kritische Einschätzungen: Auch mehr als 20 Jahre nach dem Alcan-Urteil wird für die Verarbeitung der Einwirkungen des Europarechts auf das innerstaatliche Recht bei der Verwaltungsgerichtsbarkeit Optimierungspotenzial gesehen.[288] Die Durchsetzung des Europarechts im innerstaatlichen Rechtskreis werde durch die Verwaltungsrechtsprechung partiell auch dort behindert, wo es für die Gerichte Auslegungsspielräume gibt – letztlich sei die Akzeptanz abweichender Rationalitäten des Europarechts eine Frage der inneren Einstellung einer jeden Richterpersönlichkeit.[289]

§ 129 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland › IV. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der europäischen Rechtsgemeinschaft › 1. Allgemeines

1. Allgemeines

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Die Einwirkung des Europarechts auf das nationale Verwaltungsrecht ist schon in einer Reihe von älteren EuGH-Entscheidungen von der Fleischkontor-Entscheidung 1971 bis zum Milchkontor-Urteil 1983 nachweisbar[290] und von den deutschen Verwaltungsgerichten bis hin zum BVerwG akzeptiert gewesen,[291] auch wenn noch zu Beginn der 1990er-Jahre ein Richter des BVerwG formulierte, dass das „an sich festgezimmerte, in vielen Stürmen bewährte Schiff mit dem Namen ‚Deutsches Verwaltungsrecht‚“ nun von allerlei europäischem Recht „umspült“ werde.[292] Über solche Vorstellungen seetauglicher Versiegelung eines abgeschlossenen Rechtskörpers ist die Zeit hinweg gegangen.[293]

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In eine zeitliche Nähe zum Alcan-Urteil 1997 fallen gleich mehrere umfassende Analysen der sich mit der europäischen Integration verbindenden Veränderungen des Verwaltungsrechts in Deutschland. Neben den Staatsrechtslehrertagungsvorträgen von Manfred Zuleeg und Hans Werner Rengeling 1993[294] sind vor allem die Mitte der 1990er-Jahre entstandenen Habilitationsschriften von Stefan Kadelbach, Armin Hatje, Michael Brenner und Thomas von Danwitz zu nennen.[295]

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Breiten Raum nehmen in diesen Abhandlungen nicht nur die Kollisionslagen zwischen dem deutschen und dem europäischen Recht ein. Schon mit der differenzierten Antwort auf die Frage nach der kompetenziellen Grundlage[296] für die europäisch induzierte Beeinflussung nationalen Verwaltungsrechts verband sich die zunehmend verbreitete Einsicht, dass das nationale Recht auf Dauer nicht vom neuen Recht unverändert bleiben würde.[297] Es wurde nämlich immer deutlicher, dass unabhängig von europäischen Kompetenztiteln für die „Regelung“ von Verwaltungsverfahren, Verwaltungsrecht u.ä. über das europarechtliche Diskriminierungsverbot und das europarechtliche Effektivitätsprinzip eine gleichsam indirekte Europäisierung erfolgte. In den genannten Arbeiten wurden in aller Regel Einzeltopoi des „Verwaltungsrechts unter europäischem Einfluss“ abgearbeitet,[298] etwa die Bestimmung des subjektiven Rechts,[299] Fragen der Haftung,[300] der Bestandskraft von Verwaltungsentscheidungen,[301] der Einflüsse auf die Verwaltungsorganisation und auch schon Fragen des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes.[302]

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Jenseits der mit dem Alcan-Fall besonders sichtbaren Einwirkungen auf das nationale Verwaltungsverfahrensrecht, sind die Einwirkungen auf das nationale Verwaltungsprozessrecht zunehmend in das Bewusstsein der Verwaltungsrechtswissenschaft gerückt.[303] Hier gilt die von Claus Dieter Classen für das Verwaltungsverfahrensrecht gemachte Beobachtung von der Europäisierung des nationalen Verwaltungsverfahrensrechts als zwingende Folge der Europäisierung des materiellen Verwaltungsrechts[304] entsprechend.

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Ansonsten hat sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesen Einwirkungen, etwa durch Dirk Ehlers,[305] zunächst eher auf die praktischen Fragen, unter weitgehender Ausblendung theoretischer Grundüberlegungen, konzentriert. Oliver Dörr hat demgegenüber die grundsätzliche Frage nach der Rechtsschutzgarantie des Grundgesetzes unter den Bedingungen der europäischen Integration thematisiert.[306] Er kommt zu dem Ergebnis, dass einerseits der gemeinschaftsrechtlich überlagerte Art. 19 Abs. 4 GG effektiven Rechtsschutz vor deutschen Gerichten zur Geltendmachung subjektiver Rechte aus Gemeinschaftsrecht verbürgt, zugleich aber Art. 19 Abs. 4 GG dem Einzelnen auch effektiven Rechtsschutz zur Durchsetzung der Grenzen des innerstaatlichen Wirkungsanspruchs des Europarechts garantiert.[307]

§ 129 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland › IV. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der europäischen Rechtsgemeinschaft › 2. Äquivalenz- und Effektivitätsprinzip

2. Äquivalenz- und Effektivitätsprinzip

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Die EU verfügt nur über eine sehr kleine Eigenverwaltung. Sie ist daher in aller Regel auf die Unterstützung der mitgliedstaatlichen Verwaltungen angewiesen. Das Verwaltungsverfahren und der Rechtsschutz gegen die Verwaltung werden dabei weiterhin von der mitgliedstaatlichen Rechtsordnung zur Verfügung gestellt. Die gleichförmige Anwendung des Europarechts darf dabei aber nicht beeinträchtigt werden. Der EuGH hat dazu Prinzipien entwickelt, die Teil der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts sind.

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Das Äquivalenzprinzip fordert, dass die Mitgliedstaaten unionsrechtliche Sachverhalte nicht ungünstiger behandeln dürfen als rein innerstaatliche Maßnahmen.[308] Für den Rechtsschutz gegen die Verwaltung in Deutschland verbinden sich mit dem Äquivalenzprinzip keine nennenswerten Schwierigkeiten, weil im deutschen Verwaltungsprozess keine Ansatzpunkte für unterschiedliche Verfahrensgestaltungen abhängig vom Ursprung des materiellen Rechts bestehen.[309]

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Das Effektivitätsprinzip besagt, dass durch das nationale Recht die Durchsetzung des Unionsrechts nicht praktisch unmöglich gemacht oder wesentlich erschwert werden darf.[310] Hier ist das Konfliktpotenzial größer, nicht zuletzt weil aus der Binnensicht einer in Jahrzehnten entwickelten Rechtsordnung die vom Europarecht geforderte objektive Sicht auf das eigene Recht nicht einfach und schmerzfrei ist. Zugleich ist auch in der Rechtsprechung des EuGH deutlich, dass nicht jeder für den Einzelnen ungünstige Unterschied im Vergleich zu anderen Prozessordnungen, etwa bei Fristen oder formalen Anforderungen, auch das europarechtliche Effektivitätsprinzip verletzt,[311] insofern also durchaus eine gewisse Flexibilität besteht.

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Im Bereich des Eilrechtsschutzes und der Klagebefugnis sind gleichwohl die Anforderungen des Europarechts unübersehbar.[312] Daneben haben sich Auswirkungen auf das deutsche Verwaltungsverfahrensrecht ergeben,[313] etwa im Hinblick auf eine Ermessensreduktion der Verwaltung,[314] die Ausweitung von Fristen für die Rückforderung staatlicher Beihilfen[315] oder die Aufhebung unionsrechtswidriger Verwaltungsakte.[316]

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Insgesamt ist nicht zu erkennen, dass den europarechtlichen Vorgaben aus dem Äquivalenz- und dem Effektivitätsprinzip von den Verwaltungsgerichten in Deutschland Widerstand entgegengesetzt wird.[317]

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Wie die materiellen Anforderungen aus dem Europarecht auf verfahrensrechtliche Aspekte einwirken und die deutsche Verwaltungsgerichtsbarkeit reagiert, illustriert besonders anschaulich ein Urteil aus dem Ausländerrecht von 2004 (Rs. Orfanopoulos).[318] Darin verlangt der EuGH Abweichungen im nationalen Verfahrensrecht im Hinblick auf den Zeitpunkt der Einzelfallbetrachtung, zum anderen im Hinblick auf das Erfordernis einer Überprüfung auch der Zweckmäßigkeit einer Ausweisung.

 

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Der EuGH hat in der Rs. Orfanopoulos deutlich gemacht, dass die Voraussetzungen des Vorliegens einer gegenwärtigen Gefährdung grundsätzlich zu dem Zeitpunkt erfüllt sein müssen, zu dem die Ausweisung auch tatsächlich erfolgt. Dies wird vom EuGH mit dem Standardargument zum Effektivitätsprinzip begründet: Auch wenn die Ausgestaltung von Gerichtsverfahren Sache der Mitgliedstaaten sei, so dürften doch „diese Verfahren die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren“.[319] Dies widerspricht indessen der deutschen Rechtslage, wo es mit Blick auf § 79 Abs. 1 Nr. 1 und § 113 Abs. 1 Nr. 1 VwGO bei einer Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt auf die Rechtmäßigkeit im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung – in aller Regel ein Widerspruchsbescheid – ankommt,[320] unabhängig von der bis zur gerichtlichen Entscheidung verstrichenen Zeit.

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Das BVerwG hat auf das Urteil Orfanopoulos hin seine Rechtsprechung modifiziert:[321] Der Auslegung des materiellen Gemeinschaftsrechts durch den EuGH in der Rs. Orfanopoulos „folgt der Senat und gibt insoweit seine bisherige entgegenstehende Rechtsprechung zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt auf. Für die gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Ausweisungen freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht ist danach nunmehr der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung des Tatsachengerichts maßgeblich. [. . .] Die Tatsachengerichte sind danach künftig nicht nur befugt, sondern im Rahmen der ihnen nach § 86 Abs. 1 VwGO obliegenden Aufklärungspflicht auch verpflichtet zu prüfen, ob die behördliche Gefährdungsprognose und die Ermessensentscheidung bezogen auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung im Ergebnis auf einer zutreffenden tatsächlichen Grundlage beruhen [. . .]. Liegen neue Tatsachen vor, die sich auf die Ausweisungsvoraussetzungen und die Ermessensentscheidung für eine Ausweisung auswirken können, so hat das Gericht der Ausländerbehörde in gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung von § 114 Satz 2 VwGO Gelegenheit zur Anpassung ihrer Entscheidung und insbesondere auch zu aktuellen Ermessenserwägungen zu geben. Insoweit trifft die Ausländerbehörden eine Pflicht zur ständigen verfahrensbegleitenden Kontrolle der Rechtmäßigkeit ihrer Ausweisungsverfügung.“

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Nachdem der EGMR 2008 die Linie des EuGH bekräftigte,[322] weitete das BVerwG die Rechtsprechung auf alle Ausländer aus.[323]

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Das Fallbeispiel belegt nicht nur, wie das nationale Verwaltungsgericht sich den europarechtlichen Vorgaben fügt, sondern darüber hinaus auch das Ineinandergreifen von Unionsrecht, Konventionsrecht und nationalem Prozessrecht.

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Auch die Spielräume zur Durchführung eines Vorverfahrens vor dem Verwaltungsprozess hat der EuGH im Orfanopoulos-Urteil für bestimmte Konstellationen eingeschränkt. Grundsätzlich können nach deutschem Recht vor Erhebung der Anfechtungsklage Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit eines belastenden Verwaltungsaktes von der Verwaltung im Rahmen eines Vorverfahrens nachgeprüft werden. Nach § 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann indessen durch Landesgesetz eine abweichende Regelung getroffen werden. In Baden-Württemberg, wo die Rs. Orfanopoulos ihren Ausgang nahm, war mit Art. 6a AGVwGO von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht und für Verwaltungsakte der Regierungspräsidien das Vorverfahren ausgeschlossen worden.

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Der EuGH hat hierzu festgehalten, dass in einem solchen Fall keine sichere Garantie einer erschöpfenden Prüfung der Zweckmäßigkeit einer beabsichtigten Ausweisungsmaßnahme bestehe. Dies genüge nicht den Erfordernissen eines hinreichend effektiven Schutzes[324] und würde Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221 „die praktische Wirksamkeit nehmen“.[325] Wörtlich heißt es:

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„Artikel 9 Absatz 1 der Richtlinie 64/221 steht einer Bestimmung eines Mitgliedstaats entgegen, die gegen eine von einer Verwaltungsbehörde getroffene Entscheidung über die Ausweisung eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats ein Widerspruchsverfahren und eine Klage, in denen auch eine Prüfung der Zweckmäßigkeit stattfindet, nicht mehr vorsieht, wenn eine von dieser Verwaltungsbehörde unabhängige Stelle nicht besteht. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob Gerichte wie die Verwaltungsgerichte die Zweckmäßigkeit von Ausweisungsmaßnahmen überprüfen können.“

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Die Folge daraus ist für Deutschland, dass die Verwaltungsgerichte – die selbst aus Gründen der Gewalten- und Funktionenteilung keine Zweckmäßigkeitsprüfung anstellen können – in jedem Fall, in dem kein Widerspruchsverfahren stattgefunden hat, die Verwaltung jedenfalls zur Durchführung eines Widerspruchsverfahrens mit einer erneuten Zweckmäßigkeitsprüfung zu verurteilen hätten.[326] In der Folge hat sich die Rechtslage durch Ablösung der Richtlinie 64/221 durch Art. 31 der Unionsbürgerrichtlinie geändert, weil dieser keine Einschaltung einer „anderen Stelle“ im Sinne des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221 vorschreibt. Danach bleibt es für Unionsbürger bei der Abschaffung des Widerspruchsverfahrens.[327]

§ 129 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland › IV. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der europäischen Rechtsgemeinschaft › 3. Vorläufiger Rechtsschutz

3. Vorläufiger Rechtsschutz

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Die EuGH-Entscheidungen in den Rs. Tafelwein, Zuckerfabrik Süderdithmarschen und Atlanta[328] haben die Überlagerung des nationalen Verwaltungsprozessrechts, insbesondere im Bereich des einstweiligen Rechtsschutzes, durch das europäische Recht besonders deutlich gemacht[329] und einmal mehr die Frage nach der kompetenziellen Dimension aufgeworfen.[330]

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Die VwGO bietet in den §§ 80 Abs. 5, 80a, 47 Abs. 6 und 123 umfassende Möglichkeiten zur Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes. Die den mitgliedstaatlichen Rechtssystemen ansonsten fremde Suspensionsautomatik[331] des § 80 Abs. 1 VwGO kann dabei den Anwendungsvorrang des Unionsrechts ins Leere laufen lassen.[332] Das Effektivitätsprinzip betrifft aber nicht die Ausgestaltung des deutschen Prozessrechts, sondern dessen Anwendung. So darf das deutsche Recht – trotz Effektivitätsgebot – einen Suspensiveffekt vorsehen, obwohl eine aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen auch die Anwendung von Unionsrecht (vorläufig) hemmen kann. Das Effektivitätsgebot wird aber wirksam, wenn sich die Frage stellt, ob und wann eine solche Hemmung im Einzelfall konkret eintritt.[333]

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Die typische Situation betrifft den – zunehmend häufigeren[334] – Fall, dass die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage durch Gesetz oder durch Bescheid ausgeschlossen ist und ein Betroffener nach § 80 Abs. 5 VwGO die gerichtliche Wiederherstellung des Suspensiveffekts beantragt, weil er einem Verwaltungsakt widersprochen hat, der auf Unionsrecht beruht.

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Hierzu hat der EuGH 1991 in der Rs. Zuckerfabrik Süderdithmarschen[335] Grundsätze formuliert, die für Anträge nach § 123 VwGO entsprechend gelten.[336] In der Sache gibt der EuGH den nationalen Gerichten die Kriterien vor, nach denen er selbst über vergleichbare Eilrechtsschutzmaßnahmen entscheidet. Demnach darf dem Antrag nur stattgegeben werden, wenn dem Betroffenen unter angemessener Berücksichtigung des Unionsinteresses ein schwerer irreparabler Schaden droht, wenn das Gericht erhebliche Zweifel an der einschlägigen europarechtlichen Regelung hat und wenn es zu diesen Zweifeln eine Vorlage an den EuGH richtet.[337]

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Die Kritik an dieser Rechtsprechung richtet sich auf ein angebliches Minus beim Individualrechtsschutz zugunsten der einheitlichen Durchsetzung des Unionsrechts.[338] Demgegenüber ist zu würdigen, dass der EuGH hier ausnahmsweise – wenn auch nur zeitweise – die Effektivität des Europarechts hintanstellt und diese Entscheidung dezentralisiert und – ein großer Vertrauensvorschuss – den nationalen Gerichten überlässt, wenn auch nach den Kriterien des EuGH.

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Von dieser Konstellation, in der es letztlich um die Abwehr von Anforderungen des Unionsrechts geht, unterscheidet sich die Konstellation, in der Regelungen des vorläufigen Rechtsschutzes der Durchsetzung des Unionsrechts dienen; dies ist aus europarechtlicher Perspektive unproblematisch.[339]

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Daneben kann es noch eine Konstellation geben, in der der Sofortvollzug eines Verwaltungsaktes, der auf Unionsrecht beruht, im Interesse der Union zwingend geboten ist. Dieser Fall ist in § 80 Abs. 2 VwGO nicht ausdrücklich aufgeführt, insbesondere liegt kein durch Bundesgesetz vorgeschriebener Fall vor. Um dem Effektivitätsgebot zu genügen, bleibt nur, § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO dahingehend unionsrechtkonform auszulegen, dass die sofortige Vollziehung des Verwaltungsaktes mit Blick auf die Anforderungen des Unionsrechts im öffentlichen Interesse liegt und von den deutschen Behörden entsprechend anzuordnen ist.[340]

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Denkbar ist, dass die Behörde unter Rückgriff auf die Tafelwein-Konstellation den Sofortvollzug eines europarechtlich veranlassten Verwaltungsaktes anordnet, der Einzelne dagegen unter Bezug auf die Süderdithmarschen-Rechtsprechung wiederum Eilrechtsschutz begehrt. Das nationale Verwaltungsprozessrecht fungiert dann nur noch als Andockstelle für das Europarecht.

§ 129 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland › IV. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der europäischen Rechtsgemeinschaft › 4. Klagebefugnis und Zugang zum Gericht

4. Klagebefugnis und Zugang zum Gericht

a) Überlagerung mitgliedstaatlicher Konzepte durch europarechtliche Systementscheidungen

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Der Überlagerungsaspekt ist am Beispiel der Einführung von Verbandsklageelementen in das deutsche Verwaltungsprozessrecht besonders intensiv diskutiert worden.[341]

248

Nach § 42 Abs. 2 VwGO setzt die Klagebefugnis die Behauptung der Verletzung eines subjektiv-öffentlichen Rechts voraus. Mithin muss sich der Kläger nach der Schutznormtheorie auf eine Rechtsnorm berufen können, die nicht nur öffentlichen, sondern – zumindest auch – Individualinteressen dienen soll. Für die deutschen Verwaltungsgerichte wird beschrieben, wie noch in den 1990er-Jahren die Anforderungen des Effektivitätsgebots ausgeblendet und die Schutznormtheorie auch auf gemeinschaftsrechtlich begründetes Recht unbesehen angewandt wurde.[342] Dem steht in jüngerer Zeit eine stärkere Berücksichtigung der unionsrechtlichen Vorgaben gegenüber, wenn auch nicht ohne Einschränkungen.[343] Dem BVerwG wird eine sorgfältige und zutreffende Würdigung unionsrechtlicher Vorgaben attestiert.[344]

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Jedenfalls ist in den dem deutschen Verwaltungsprozessrecht zu Grunde liegenden subjektiven Rechtsschutz durch Entwicklungen auf der internationalen und europäischen Ebene Bewegung gekommen.

250

Aus dem Europarecht können sich individuelle Rechte teils direkt als auch teils indirekt durch Richtlinien ergeben, ohne dass hierbei die deutsche Schutznormtheorie zur Anwendung kommt:[345] Da es sich bei dem Unionsrecht um autonomes Recht handelt, ergibt sich nämlich aus ihm selbst, ob der Einzelne aus einer Norm Rechte herleiten kann.[346] Ergeben sich Rechte des Einzelnen unmittelbar aus unionsrechtlichen Bestimmungen, so wirkt deren Auslegung durch den EuGH objektivierend auf die Klagebefugnis und den Rechtswidrigkeitszusammenhang im deutschen Verwaltungsprozess ein.[347]

251

In diesem Kontext sind auch verfahrensunabhängige Akteneinsichtsrechte nach den Informationsfreiheitsgesetzen des Bundes[348] und einiger Bundesländer zu erwähnen, die auf europäische Einflüsse zurückzuführen sind; diese dienen nicht primär der Durchsetzung privater Interessen im Sinne der Schutznormtheorie.

 

252

Den Ausgangspunkt für eine jüngere Entwicklung in Richtung einer teilweisen Objektivierung des deutschen Verwaltungsprozessrechts bildet die Aarhus-Konvention als völkerrechtliches Abkommen über internationale Standards im Umweltschutzrecht.[349] Parteien dieses Abkommens sind sowohl die Mitgliedstaaten als auch die EU. Ziel der Aarhus-Konvention ist ein verbesserter allgemeiner Zugang zu gerichtlichen Verfahren, beispielsweise auch für Umweltverbände, um Verletzungen des Umweltrechts beanstanden zu können.[350] Auf Ebene der EU wurde die Aarhus-Konvention u.a. mit der Richtlinie 2003/35/EG und durch Änderungen der Richtlinien 85/337/EWG und 96/61/EG umgesetzt. Deutschland setzte diese Richtlinie wiederum im UmwRG a.F. in nationales Recht um. Danach müssen Umweltverbände in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren zwar nicht die Verletzung eigener Rechte geltend machen, jedoch müssen sie sich auf Rechte berufen, die Individualrechte schützen.[351]

253

Diese „schutznormakzessorische Umweltverbandsklage“[352] nach § 2 UmwRG a.F. wurde von zahlreichen Stimmen als unionsrechtswidrig beanstandet, da damit sowohl gegen Art. 9 Abs. 2 Aarhus-Konvention als auch Art. 10a der Richtlinie 85/337/EWG und Art. 15a Abs. 1 der Richtlinie 96/61/EG verstoßen werde.[353] In einem vom Umweltverband BUND initiierten Rechtsstreit um die Errichtung eines Steinkohlekraftwerks in NRW legte das OVG Münster dem EuGH Fragen nach der Reichweite des Zugangs von Umweltverbänden nach der Richtlinie 85/337/EWG vor. Der EuGH weitete darauf mit dem Trianel-Urteil 2011 die Klagebefugnis von Umweltverbänden im Sinne eines möglichst effektiven Rechtsschutzes aus. Im Kern sprach der EuGH Umweltverbänden das Recht zu, einen Verstoß gegen Umweltschutzrechte, die auf Unionsrecht basieren, auch dann gerichtlich geltend machen zu können, wenn dieses Umweltrecht nur Interessen der Allgemeinheit – und nicht auch Individualinteressen – dient.[354]

254

Auf dieses Urteil hin wurde Anfang 2013 § 2 Abs. 1 Nr. 1 UmwRG geändert. Umweltverbände können nunmehr unter bestimmten Voraussetzungen grundsätzlich Rechtsbehelfe einlegen, ohne eine Verletzung in eigenen Rechten behaupten zu müssen, wenn sie geltend machen, dass eine Entscheidung im Rahmen einer Umweltverträglichkeitsprüfung Rechtsvorschriften widerspricht, die dem Umweltschutz dienen und für die Entscheidung von Bedeutung sein können.[355]

255

Neben diesen auf das Trianel-Urteil des EuGH zurückgehenden Änderungen hin zur Statuierung eines objektiven Rechtsschutzes im deutschen Verwaltungsprozessrecht durch Änderung des UmwRG, hat die Aarhus-Konvention in Verbindung mit dem sog. Braunbären-Urteil des EuGH[356] aber auch zu einer Neuinterpretation des § 42 Abs. 2 VwGO geführt. So hat das BVerwG in einem Urteil vom 5. September 2013 das Klagerecht von Umweltverbänden erweitert, indem es den Begriff des subjektiven Rechts in § 42 Abs. 2 VwGO umfassender ausgelegt hat.[357] Konsequenz dieses Urteils ist, dass Umweltverbände die Befugnis haben, mit einer Klage die Änderung eines Luftreinhalteplans zu erzwingen.[358]