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4. Verwaltungsgerichtsbarkeit und neue Formen der Streitbeilegung

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Gerichte lösen Konflikte durch Entscheidung. In jüngerer Zeit ist die Einsicht gewachsen, dass verhandelte Konfliktlösungen gegenüber der Dezision zahlreiche Vorteile aufweisen. Dies verbindet sich mit dem Aufkommen alternativer Streitbeilegungsmechanismen vielfältiger Art, zugleich werden auch im etablierten Gerichtssystem bestehende Wege der alternativen Streitbeilegung, etwa mittels Vergleich, gefördert.

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Die Verwaltungsgerichtsbarkeit erscheint mit Blick auf die besondere Konfliktstruktur zwischen in aller Regel übermächtigem Staat und alleine auf Recht und Gericht verwiesenem Bürger für eine ausgehandelte Konfliktlösung nur auf den ersten Blick nicht besonders geeignet. Der Staat hat zwar einerseits mit seiner Verpflichtung auf ein Gemeinwohl und Recht und Gesetz begrenzte Verhandlungsspielräume, andererseits eben auch Gestaltungsspielräume insbesondere in den zahlreichen Fällen etwa von Ermessensentscheidungen. Gerade im Bereich komplexer Planungsentscheidungen haben sich Mediationsverfahren als geeignetes Mittel für befriedende, verschiedenste Interessen und Gesichtspunkte berücksichtigende Lösungen erwiesen.

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Nachdem sogar im Strafrecht mit seinen besonders strengen Anforderungen an Regelbindung mit prozessualen Absprachen gearbeitet wird, verwundert es nicht, dass auch im Verwaltungsprozess (Vergleiche) und außerhalb des Verwaltungsprozesses (Mediation) Ansätze für Konfliktlösungen jenseits der richterlichen Entscheidung bestehen.[132] Die Diskussion dazu hält seit drei Jahrzehnten an.[133] Sicherlich bestehen hier je nach Teilrechtsgebiet nach wie vor unterschiedliche Rahmenbedingungen.

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Mit dem Inkrafttreten des Mediationsgesetzes 2012[134] hat der Bundesgesetzgeber eine Rechtsgrundlage für die gerichtsinterne Mediation auch bei den Verwaltungsgerichten geschaffen,[135] deren Zulässigkeit im Bereich der Verwaltungsgerichte bis dahin nicht unumstritten war.[136]

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Zahlreiche Richterinnen und Richter haben mittlerweile eine zusätzliche Qualifikation als Mediatoren erworben.[137] Nicht selten wird berichtet, dass diese Qualifikation zugleich der originären Rechtsprechungstätigkeit zugutekommt.

§ 129 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland › II. Rollen und Funktionen der Verwaltungsgerichtsbarkeit › 5. Selbstverständnis der Verwaltungsgerichtsbarkeit und Deutungsangebote in der Dogmatik und Theorie

5. Selbstverständnis der Verwaltungsgerichtsbarkeit und Deutungsangebote
in der Dogmatik und Theorie

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In Deutschland ist das Selbstverständnis der Verwaltungsgerichtsbarkeit möglicherweise aus Gründen des föderalen Umfelds heterogener als es zunächst scheint.

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Wo beispielsweise in Bayern durch die Karrierewege eine gewisse Nähe zwischen Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit gepflegt wird, ist in anderen Ländern, die einen Wechsel zwischen der ordentlichen Gerichtsbarkeit und der Verwaltungsgerichtsbarkeit fördern oder gar verlangen, ein eigenes Selbstverständnis der Verwaltungsrichter möglicherweise geringer ausgeprägt. Da, wo Verwaltungsrichter ausschließlich für die Verwaltungsgerichtsbarkeit rekrutiert werden und auch nicht während ihrer Laufbahn in die Verwaltung wechseln müssen, dürfte ein bestimmtes Selbstverständnis am ausgeprägtesten sein. Zugleich ist freilich denkbar, dass sich ein besonderes Selbstverständnis der Gerichtsbarkeit gerade dann besonders ausprägt, wenn man die „andere Seite“ – also insbesondere die Verwaltung, aber auch andere Gerichtsbarkeiten oder allgemein staatliche Tätigkeiten – aus eigener Anschauung kennengelernt hat. Letztlich kommt es hier auf die einzelnen Karrierewege und Richterpersönlichkeiten an.

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Karrierestationen von Verwaltungsrichtern können vor oder nach der Tätigkeit am Verwaltungsgericht beispielsweise sein: Zivilgerichte, Strafgerichte, Staatsanwaltschaft, Sozialgerichte, Ministerialverwaltung, Parlamentsverwaltung, Fraktions- oder Abgeordnetenmitarbeiter, Prüfungsverwaltung in den Justizprüfungsämtern, wissenschaftliche Mitarbeiter am BVerfG oder BVerwG, internationale Organisationen.

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Einen Zusammenhang zwischen Selbstverständnis und dem Wandel des Rechtsschutzsystems hat man in Frankreich beobachtet, wo sich das Richterbild in jüngerer Zeit gewandelt hat. So wird beschrieben, dass das Selbstverständnis der Richter sich wegentwickelt habe vom Selbstbild des hohen Beamten mit Rechtsprechungsfunktion hin zu einem Richter, vor dem Hintergrund einer allgemeineren Rehabilitation der Justiz.[138] Dies wiederum kann erklären helfen, warum sich in Frankreich die vorrangige Orientierung am objektiven Rechtsschutz[139] in Richtung einer Subjektivierung lockert. Einen vergleichbaren Konnex zwischen Selbstbild und Rechtsschutzsystem mag es in Deutschland in den Anfängen der Verwaltungsgerichtsbarkeit im 19. Jahrhundert gegeben haben.

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Festhalten lässt sich jedenfalls, dass in Deutschland heute selbstverständlich ein Selbstverständnis als Richter besteht. Versinnbildlicht wird dies bereits durch den offensichtlichsten aller Aspekte, das äußere Erscheinungsbild: Die Verwaltungsrichter in Deutschland tragen allesamt Richterroben, was in anderen Ländern für Verwaltungsrichter nicht durchgehend die Regel ist.[140]

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Ferner besteht – bei aller Ausdifferenzierung der individuellen und landesspezifischen Karrierewege[141] – mehr oder weniger auch ein gewisses Selbstverständnis und Selbstbewusstsein als Verwaltungsrichter. Hier spielt nicht selten ein spezifisches Interesse am Öffentlichen Recht und an Grundfragen der Kontrolle von Hoheitsgewalt und politischer Macht eine Rolle, das sich nicht selten schon im Studium herausbildet, wenn die Zu- oder Abneigung zu den für alle Jurastudenten vorgeschriebenen Pflichtfächern des Öffentlichen Rechts die Nachwuchsjuristen polarisiert. Mit dem Korpsgeist, der sich beispielsweise in Frankreich aus dem gemeinsamen Besuch einer Eliteschule als Zugangsvoraussetzung für den Eintritt in den Conseil d’État ergibt,[142] ist das Gruppenselbstverständnis deutscher Verwaltungsrichter indessen nicht vergleichbar. Entsprechend besteht auch keine Tradition, in der sichergestellt wird, dass bestimmte Stellen durch Verwaltungsrichter zu besetzen sind, wie es etwa in Frankreich mittlerweile für die Mitarbeiter der französischen Mitglieder des EuGH der Fall ist.[143]

§ 129 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland › II. Rollen und Funktionen der Verwaltungsgerichtsbarkeit › 6. Interaktion von Verwaltungsgerichtsbarkeit und Rechtswissenschaft

6. Interaktion von Verwaltungsgerichtsbarkeit und Rechtswissenschaft

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Die Interaktion von Verwaltungsgerichtsbarkeit und Rechtswissenschaft hat eine lange Tradition. Sie reicht zurück bis zu den ersten Ansätzen einer juristischen Methode im Verwaltungsrecht bei Friedrich Franz von Mayer 1857.[144] Zutreffend ist beobachtet worden, wie Verwaltungsrechtswissenschaft und Rechtsprechung in besonderem Maße aufeinander angewiesen waren, solange es keine Kodifikationen des Allgemeinen Verwaltungsrechts (VwVfG 1976) und des Verwaltungsprozessrechts (VwGO 1960) gab.[145] Für die Zeit bis 1960 bzw. 1976 ist von einer „Symbiose von praxisbezogenen Theoretikern und theoretisch denkenden Praktikern“ gesprochen worden.[146]

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Zwischen der Verwaltungsgerichtsbarkeit und der Rechtswissenschaft besteht auch heute noch ein enger Austausch. Dies umfasst sowohl personelle wie auch inhaltliche Aspekte.

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Ordentliche Professoren des Rechts können als Richter im Nebenamt wirken. Verwaltungsrichter sind vielfältig als Lehrbeauftragte oder Honorarprofessoren in der universitären Lehre engagiert. In der von Justizprüfungsämtern organisierten Staatsprüfung (Staatsexamen) sind Verwaltungsrichter und Hochschullehrer Seite an Seite tätig. Anders als in anderen Staaten[147] ist in Deutschland die forensische Tätigkeit von Universitätsprofessoren als Rechtsanwalt in Verwaltungsprozessen nicht sonderlich verbreitet. Eine Rechtsanwaltszulassung benötigen Universitätsprofessoren dabei nicht: Nach § 67 VwGO können sich die Beteiligten durch einen Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz,[148] der die Befähigung zum Richteramt besitzt, als Bevollmächtigten vertreten lassen.

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Zahlreiche Verwaltungsrichter veröffentlichen in den einschlägigen Fachzeitschriften des Öffentlichen Rechts und beteiligen sich an der Kommentarliteratur, gemeinsam mit Hochschullehrern. Die Wissenschaft wiederum begleitet die Praxis durch die kritische Reflexion der Rechtsprechung und in der Kommentarliteratur. Die Wissenschaft hat den Beitrag der Verwaltungsgerichte zur verwaltungsrechtlichen Systembildung auch ausdrücklich gewürdigt.[149]

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Es bestehen also zahllose, rege, formalisierte, aber auch informelle Kontakte zwischen der Verwaltungsgerichtsbarkeit und der Rechtswissenschaft. Dies erklärt sicherlich, warum es zwischen verwaltungsgerichtlicher Praxis und Rechtswissenschaft in Deutschland keine solchen Kommunikationsprobleme gibt wie vielleicht andernorts.

 

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Gegenseitiges Verständnis wird gewiss auch durch die weitgehend gleiche generalistisch angelegte Ausbildung von Richtern wie Professoren bis hin zum Zweiten Staatsexamen begünstigt. Dies dürfte auch ein Unterschied zu anderen Staaten sein.[150] Allerdings darf man dabei nicht unterstellen, dass alle Hochschullehrer jedenfalls im Rahmen ihres Referendariats einmal die Verwaltungsgerichtsbarkeit von innen kennengelernt haben. Referendariat und Zweites Staatsexamen sind nämlich für die Laufbahn als Hochschullehrer gar nicht erforderlich, allerdings doch weitgehend Standard. Die Ausbildung bei der Verwaltungsgerichtsbarkeit ist indessen keine Regelstation in der Referendarausbildung mehr. Man kann dort allerdings im Rahmen der eigenen Schwerpunktsetzung eine Ausbildungsstation absolvieren. Immerhin ist aber eine Station in der Zivilgerichtsbarkeit für alle Referendare Pflicht, so dass zumindest insofern eine Begegnung mit der Richtertätigkeit erfolgt. Und nach wie vor ist die deutsche Ausbildung zum Volljuristen an der „Befähigung zum Richteramt“ (§ 5 DRiG) als Ausbildungsziel orientiert.

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Auch wenn es keine Mauern und Gräben zwischen der Verwaltungsgerichtsbarkeit und der Rechtswissenschaft gibt: Im Kern verbleiben die Akteure nüchtern besehen dann doch in ihren jeweiligen Rollen. Ein ständiger kontinuierlicher Wechsel ist nicht die Regel, die jeweiligen Funktionen und Sozialisationen bleiben gut unterscheidbar. Das mag man daran ablesen, dass in der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer als der zentralen Berufsvereinigung der Professoren des Öffentlichen Rechts praktizierende Verwaltungsrichter keine hervorgehobene Rolle spielen, weil die Zugangsvoraussetzung der Habilitation dann doch bedeutet, sich vorrangig auf den universitären Karriereweg zu begeben. Ähnlich bleiben auch die Verwaltungsrichter in ihren Berufsvereinigungen[151] letztlich unter sich, wenn auch die Rechtswissenschaft in Form von Gastbeiträgen eingeladener Hochschullehrer präsent ist.

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Das einschlägige Schrifttum jenseits der Kommentarliteratur wird in Deutschland deutlich durch die Rechtswissenschaft geprägt. Ein Werk wie das erstmals 1956 von Angehörigen des Conseil d’État herausgebrachte „Les grands arrêts de la juridiction administrative“,[152] das mehr ist als nur eine Sammlung wichtiger Entscheidungen der Verwaltungsgerichtsbarkeit ist, gibt es in Deutschland nicht.

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Auch eine planvolle und umfassende Beobachtung der Rechtsprechungsentwicklung durch die Gerichtsbarkeit selbst, wie sie in Frankreich beim Conseil d’État in der Section du rapport et des études geleistet wird,[153] hat sich in Deutschland bislang nicht entwickelt. Ansätze dafür bieten sich möglicherweise auf der Internetpräsenz der Verwaltungsgerichte.

§ 129 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland › II. Rollen und Funktionen der Verwaltungsgerichtsbarkeit › 7. Die Rolle der Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Entwicklung des Verwaltungsrechts

7. Die Rolle der Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Entwicklung
des Verwaltungsrechts

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Die Rolle der Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Entwicklung des Verwaltungsrechts und insbesondere in der Entwicklung von Grundsätzen des Verwaltungsrechts ist in Deutschland wohl weniger offenkundig als etwa in Frankreich[154] und schwer quantifizierbar, aber sie ist nicht zu leugnen.

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Dies betrifft zum einen die Rolle, die Akteure aus der Verwaltungsgerichtsbarkeit außerhalb von Gerichtsentscheidungen mit Veröffentlichungen gespielt haben. So entstammt beispielsweise das berühmte, bis heute nachwirkende und Perspektiven prägende Diktum Fritz Werners (des langjährigen Präsidenten des BVerwG) vom Verwaltungsrecht als konkretisiertem Verfassungsrecht einem Fachaufsatz.[155] Über ihre Mitwirkung an der in Deutschland sehr verbreiteten Literaturgattung der rechtswissenschaftlichen Kommentare prägen Verwaltungsrichter nicht nur das Prozessrecht, sondern auch das materielle Verwaltungsrecht mit.[156]

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Aber auch durch Rechtsprechung ist das deutsche Verwaltungsrecht an maßgeblichen Stellen weiterentwickelt worden. Dies gilt jedenfalls für die Vergangenheit. Vieles vom heute kodifizierten Verwaltungsrecht ist zuvor von den Verwaltungsgerichten richterrechtlich ausgeformt worden. Manches wurde dabei von der Rechtswissenschaft aufgenommen, vielleicht sogar im Wechselspiel mit der Rechtswissenschaft weiterentwickelt. Im Bereich der Handlungsformen geht die Lehre vom Verwaltungsakt auf Friedrich Franz von Mayer und dann vor allem Otto Mayer zurück, sie wurde dann jedoch bis zur Kodifizierung (heute in den Verwaltungsverfahrensgesetzen des Bundes und der Länder, § 35 bzw. Art. 35 des jeweiligen VwVfG) gerichtlich vorangetrieben. Die Verwaltungsvorschriften wurden von Fritz Ossenbühl gleichsam entdeckt,[157] diese Entdeckung wurde in der Folge von den Gerichten angenommen und rezipiert.

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Manche Rechtsentwicklung geht aber auch originär auf die Verwaltungsgerichte zurück. Ein prominentes Beispiel für die richterrechtliche Rechtsfortbildung im Bereich des allgemeinen Verwaltungsrechts ist das Staatshaftungsrecht.[158]

§ 129 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland › III. Die rechtlichen Grundlagen der Verwaltungsgerichtsbarkeit im Kontext

III. Die rechtlichen Grundlagen der Verwaltungsgerichtsbarkeit im Kontext

§ 129 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland › III. Die rechtlichen Grundlagen der Verwaltungsgerichtsbarkeit im Kontext › 1. Verfassungsrechtliche Grundlagen

1. Verfassungsrechtliche Grundlagen

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Für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland enthält das Grundgesetz von 1949 eine Reihe wichtiger Grundlagenbestimmungen. Art. 20 Abs. 2 GG nennt die Rechtsprechung als dritte Gewalt und verleiht ihr damit eine eigenständige verfassungsrechtliche Kontur. Art. 20 Abs. 3 GG bindet die Rechtsprechung an Recht und Gesetz. Art. 92 GG spricht eine Bestandsgarantie der Dritten Gewalt aus.[159] Art. 97 Abs. 1 GG sichert die Unabhängigkeit der Richter. Art. 95 Abs. 1 GG sieht die Errichtung des BVerwG vor. Art. 19 Abs. 4 GG schließlich gewährleistet effektiven Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt als Grundrecht – dies ist gleichsam die Grundnorm des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes. Die Verfassung enthält damit bereits die wichtigsten Weichenstellungen. Durch Gesetz werden entlang dieser Vorgaben weitere Ausgestaltungen vorgenommen. Das gilt namentlich für die Organisation der Verwaltungsgerichtsbarkeit und das Verfahren im Einzelnen.[160]

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Der berühmte Satz von Otto Mayer zum Verwaltungsrecht – „Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht“[161] – lässt sich für Deutschland nicht ohne weiteres auf das Verwaltungsprozessrecht anwenden,[162] weil trotz aller Kontinuitäten und Entwicklungslinien die Verfassungsbindung des Rechtsschutzes gegen die Verwaltung in Deutschland insbesondere mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG 1949 neu einsetzt. Auf das Verwaltungsprozessrecht übertragen lässt sich – für Deutschland – sehr viel besser der Ausspruch von Fritz Werner vom Verwaltungsrecht als konkretisiertem Verfassungsrecht[163]: Auch das Verwaltungsprozessrecht konkretisiert Verfassungsrecht.[164]

§ 129 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland › III. Die rechtlichen Grundlagen der Verwaltungsgerichtsbarkeit im Kontext › 2. Die Institution – Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit

2. Die Institution – Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit

a) Aufbau der Spruchkörper

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Die Frage nach dem Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit berührt unterschiedliche Dimensionen. Neben den Mikrostrukturen der Spruchkörper (Einzelrichter, Kammern, Schöffen etc.) spielt dabei die allgemeinere Stellung der Richter und ihre Einbindung in größere Zusammenhänge – wie etwa die Unterstellung unter ein bestimmtes Ministerium – eine Rolle.

aa) Verwaltungsgerichte

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Die erste Instanz der Verwaltungsgerichtsbarkeit bilden in Deutschland 51 Verwaltungsgerichte.[165] Sie sind Einrichtungen der Länder, ihre gesetzliche Grundlage finden sie indessen im Bundesrecht (§§ 1, 2 VwGO). Sie entscheiden gem. § 5 Abs. 3 Satz 1 VwGO grundsätzlich in Kammern in der Besetzung von drei Berufsrichtern und zwei ehrenamtlichen Richtern. Bei Beschlüssen außerhalb der mündlichen Verhandlung wirken die ehrenamtlichen Richter nicht mit (§ 5 Abs. 3 Satz 2 VwGO), sie werden auch nicht mit einem Einzelrichter zusammen tätig.[166] Die Übertragung auf einen Einzelrichter soll nach § 6 VwGO der Regelfall bei rechtlich und tatsächlich einfachen Fallgestaltungen sein. Nach § 87a Abs. 2 bzw. Abs. 3 VwGO kann mit Einverständnis der Beteiligten der Vorsitzende oder der Berichterstatter anstelle einer Kammer entscheiden. In der Praxis ist der Einzelrichter heute die Regel, die Kammerentscheidung die Ausnahme.

bb) Oberverwaltungsgerichte und Verwaltungsgerichtshöfe

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Auf der zweiten Ebene bestehen in Deutschland derzeit 15 OVGs.[167] In jedem Bundesland besteht ein solches Gericht, nur Berlin und Brandenburg haben seit einiger Zeit ein gemeinsames OVG. In Bayern, Baden-Württemberg und Hessen heißen die OVGs aus historischen Gründen „Verwaltungsgerichtshof“ (VGH). OVGs und VGHs sind Einrichtungen der Länder, ihre gesetzliche Grundlage findet sich in §§ 1, 2 VwGO und den entsprechenden Ausführungsgesetzen der Länder.[168] Sie entscheiden gem. § 9 Abs. 2, 3 VwGO in der Regel in Senaten durch drei Richter.[169] § 12 i.V.m. § 11 VwGO sieht die Entscheidung durch einen Großen Senat vor, soweit über eine Frage des Landesrechts endgültig entschieden wird.

cc) Bundesverwaltungsgericht

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Das BVerwG mit Sitz in Leipzig[170] ist das oberste deutsche Verwaltungsgericht. Es ist eine Einrichtung des Bundes, in Art. 95 Abs. 1 GG auf verfassungsrechtlicher Ebene bereits vorgesehen und in § 10 VwGO näher ausgestaltet. Das BVerwG entscheidet im Senat mit fünf Richtern, bei Beschlüssen außerhalb der mündlichen Verhandlung durch drei Richter. Es bestehen zehn Revisionssenate und zwei Wehrdienstsenate. § 11 VwGO sieht einen Großen Senat vor.[171] 55 Richter sind am BVerwG tätig.[172]