Ius Publicum Europaeum

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2. Entwicklungslinien

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Die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte ist auch ein Spiegel ihrer jeweiligen Zeit. Für die Bundesrepublik lässt sich gut beobachten, wie die Verwaltungsgerichte zunächst mit Kriegsfolgen und Wiederaufbau beschäftigt waren und dann mit zunehmender Konsolidierung der Verhältnisse andere Themen und Orientierungen sichtbar wurden (Demonstrationsrecht, Hochschulzugang/Numerus clausus, Asylrecht),[39] alles unter den Vorzeichen einer „Verrechtlichungskultur“ (Everhard Franßen).[40] Zudem hat sich das Öffentliche Recht enorm entwickelt: Michael Stolleis nennt hier als sich erst in jüngerer Zeit neu formierende Gebiete das Sozialrecht, das Umweltrecht, das Datenschutzrecht, das Telekommunikationsrecht und das Informationsverwaltungsrecht.[41] Daneben weiteten sich etablierte Gebiete wie das Bau- und Kommunalrecht, das Beamtenrecht, das Ausländer- und Asylrecht und das Schul- und Hochschulrecht deutlich aus.[42] Das Wirtschaftsverwaltungsrecht wäre hier ebenfalls zu nennen. Und zu alledem ist parallel immer stärker die europäische Dimension getreten.

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Bestimmte Grundfragen haben sich bei der Entwicklung des Rechtsschutzes gegen die Verwaltung indessen immer wieder gestellt. Für manche dieser Fragen sind die Antworten gegeben, für andere Fragen bleiben sie vorläufig. Ob hoheitliches Handeln überhaupt gerichtsförmiger Kontrolle unterliegen soll, ist heute für Deutschland bejaht. Auch die Entscheidung zugunsten einer gesonderten Gerichtsbarkeit neben der ordentlichen Gerichtsbarkeit kann als endgültig angesehen werden.[43]

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Wo die Grenzlinie zwischen der Verwaltungsgerichtsbarkeit und einem gerichtsfesten Eigenbereich der Verwaltung mit Entscheidungsspielräumen verläuft, gehört ebenfalls zu den Grundfragen. Eine allgemeine Antwort darauf ist indessen nicht möglich. Immerhin ist ein Trend feststellbar, und zwar zu einer immer stärkeren Begrenzung unkontrollierter Verwaltungsbereiche. Die maßgeblichen Akteure bei dieser Entwicklung dürften die Gerichte sein.

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Auch die Grundfrage nach objektivem oder subjektivem Rechtsschutz ist in Bewegung geblieben. Die weit zurückreichende Traditionslinie in Deutschland ist dabei die Orientierung am subjektiven Recht,[44] die sich unter der Geltung des Grundgesetzes mit seinem Fokus auf Grundrechtsschutz noch verstärkt hat.[45] Hier ist weniger durch die Gerichte als durch europarechtliche Vorgaben veranlasst eine Bewegung zu beobachten, in der auch Raum für objektiven Rechtsschutz in Deutschland entsteht.[46] Die in der Orientierung am subjektiven Recht liegende Begrenzung von Rechtsschutz wird damit reduziert. Wenn sich tatsächlich das deutsche Leitbild wandelt und die Orientierung am objektiven Rechtsschutz zunimmt[47] und wenn zugleich in anderen, eher am objektiven Rechtsschutz orientierten Systemen eine Entwicklung zur zunehmenden Subjektivierung ausgemacht wird,[48] dann lässt sich über das Aufkommen eines übergreifenderen Konvergenzphänomens nachdenken, das auf einen Rechtsschutz gegen die Verwaltung mit objektiven und subjektiven Elementen hinausläuft.[49]

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Ein Erklärungsversuch dazu richtet sich auf Tiefenstrukturen und argumentiert, dass die europäischen Rechtsordnungen auf denselben Grundlagen beruhen, nämlich dem Römischen Recht und seiner Auslegung durch die europäischen Universitäten, sowie dem Rechtsstaatsprinzip und einem „principe de la prééminence du droit“.[50]

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Konvergenz durch Europäisierung ist aber wohl doch die plausiblere, weil aktuellere Erklärung.[51] Neben den Einflüssen der EMRK, die mit ihrem Fokus auf Individualrechten subjektivierend wirkt, insbesondere wenn keine dem Art. 19 Abs. 4 GG vergleichbaren nationalen Vorgaben bestehen, sind dies vor allem die Effekte des Rechts der Europäischen Union (EU).[52] Konkret ist dies etwa der in den EU-Mitgliedstaaten parallel und im konkreten Fall mehr oder weniger zeitgleich wirkende Einfluss des Unionsrechts bei der und durch die Richtlinienumsetzung.[53]

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Zutreffend ist hier von „systemirritierenden Einflüssen des Völker- und Gemeinschaftsrechts“ gesprochen worden.[54] Jedenfalls dürften solche konstruktiven Irritationen dazu führen, dass Rechtsschutzkonzepte nicht mehr unhinterfragt bleiben und in ihrer Reinform als nur subjektiv oder nur objektiv ausgerichtet auftreten. Die Konzepte bewegen sich überall unter den externen Einflüssen weg von den „ursprünglichen“ Konzeptionen.[55]

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Insgesamt ergibt sich damit eine allgemeine Tendenz zu immer umfassenderem Rechtsschutz gegen die Verwaltung.[56]

§ 129 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland › II. Rollen und Funktionen der Verwaltungsgerichtsbarkeit

II. Rollen und Funktionen der Verwaltungsgerichtsbarkeit

§ 129 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland › II. Rollen und Funktionen der Verwaltungsgerichtsbarkeit › 1. Die Orientierung am subjektiven Rechtsschutz

1. Die Orientierung am subjektiven Rechtsschutz

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Rechtsschutz gegen die Verwaltung wird in Deutschland wie soeben dargestellt[57] vor allem als subjektiver Rechtsschutz – und zwar durch Verwaltungsgerichte – verstanden. Elemente eines objektiven Rechtsschutzes sind nur am Rande vorhanden.[58]

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Hier setzt sich Deutschland auch sehr deutlich von anderen Modellen ab. In Frankreich etwa ist das Leitbild die objektive Kontrolle der Verwaltung, bei der die administrative Leistungsfähigkeit im Vordergrund steht; der Einzelne wird nach dieser Konzeption mit seiner Klage gegen die Verwaltung im öffentlichen Interesse tätig.[59] Eine Klage ist nur der „Auslöser“ für die Kontrolle, die die Standards einer guten Verwaltung sichern soll. Dass der Bürger dabei auch sein Recht gewährleistet bekommt, ist wichtig, aber eher eine „zwangsläufige Nebenerscheinung“ der objektiven Rechtskontrolle.[60] Diese französische Konzeption kann als Prototyp für die Systeme objektiven Rechtsschutzes angesehen werden.[61]

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Eine verfassungstextliche Grundlage für das in Deutschland vorherrschende subjektiv-rechtliche Verständnis des Rechtsschutzes gegen die Verwaltung findet sich im Grundgesetz. Wörtlich heißt es in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG: „Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen.“ Dieser Wortlaut legt die Orientierung am subjektiven Recht nahe, eine objektive Rechtmäßigkeitskontrolle wäre anders formuliert.[62] Die Rechte des Einzelnen sind das zentrale Anliegen. Art. 19 Abs. 4 GG beinhaltet ein Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz.[63]

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Die Orientierung am subjektiven Recht setzt sich im Gesetzesrecht zum Verwaltungsprozess fort. Zentrale Norm des Rechts unterhalb der Verfassungsebene ist dabei § 42 Abs. 2 VwGO, der für bestimmte Klagearten die Geltendmachung einer Verletzung in eigenen Rechten fordert. Hierfür hat sich der Begriff der „Klagebefugnis“ etabliert. Der Gedanke wird auch jenseits des Anwendungsbereichs von § 42 VwGO als „Antragsbefugnis“ verwendet. Mit „-befugnis“[64] wird also das Erfordernis einer subjektiven Betroffenheit bereits sprachlich für die Eingeweihten eindeutig kodiert, eine Festlegung, die bei Übersetzungen oder beim fremdsprachigen Austausch über den Verwaltungsrechtsschutz in Deutschland leicht übersehen werden kann.

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Nach § 42 Abs. 2 VwGO setzt die Klagebefugnis die Möglichkeit der Verletzung eines subjektiv-öffentlichen Rechts voraus. Mithin muss sich der Kläger nach der Schutznormtheorie[65] auf ein Recht berufen können, das nicht nur öffentlichen Interessen, sondern – zumindest auch – Individualinteressen dienen soll. In diesen dem deutschen Verwaltungsprozessrecht zu Grunde liegenden subjektiven Rechtsschutz ist durch Entwicklungen auf der internationalen und europäischen Ebene Bewegung gekommen.[66]

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Bei der Feststellungsklage nach § 43 VwGO wird ebenfalls auf den Einzelnen abgestellt, dort ist „ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung“ Voraussetzung.[67]

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Als Begründung für diese Einschränkungen gilt, dass der Rechtsschutz eben nur die eigenen subjektiven Rechte schützen soll. Der Einzelne soll nicht praktisch als Treuhänder für andere oder abstrakte Gemeinschaftsanliegen auftreten. Zugleich liegt auf der Hand, dass diese Anforderungen an die Zulässigkeit von Klagen oder Anträgen auch Filtereffekte haben.[68] Sie schützen vor der actio popularis, gegen die aus Sicht der gerichtlichen Praxis schlicht die Sorge vor Überlastung spricht. Dies dürfte nicht selten die eigentliche Gegenüberstellung sein: Popularklage oder Individualrechtsschutz. Dazu dürfte die Standardantwort sein, dass die Popularklage nicht der deutschen Rechtsschutztradition entspricht.

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Dabei gibt es auch in Deutschland im Rechtsschutz gegen die Verwaltung durchaus Beispiele für Spuren objektiver Rechtsschutzelemente. So erstreckt sich bei der Normenkontrolle nach § 47 VwGO die Prüfung in der Sache im Zuge der Begründetheitsprüfung auf einen objektiv-rechtlichen Prüfungsmaßstab. Bereits das Konzept einer Normenkontrolle lässt sich als eine Öffnung zu einem objektiven Rechtsschutz interpretieren.[69] Die Länder können allerdings entscheiden, wieweit sie die im Bundesrecht (VwGO) angebotene Rechtsschutzmöglichkeit jenseits des Baurechts – insoweit besteht eine bundesrechtliche Vorgabe – zulassen. Nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO kann der Landesgesetzgeber die Normenkontrolle auf alle Normen unterhalb des Landesgesetzes (Verordnungen und Satzungen) ausdehnen.

 

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Auch wenn der Schwerpunkt des Rechtsschutzes den Einzelnen und seine Rechtsbeziehungen zur Hoheitsgewalt in den Blick nimmt, so gibt es auf einer prozeduralen Ebene in einigen Ländern mit dem „Vertreter des öffentlichen Interesses“ einen Akteur, der durch seine Beteiligung am Verwaltungsprozess das Verfahren gleichsam objektiviert. Insoweit unterscheidet sich der Vertreter des öffentlichen Interesses vom Generalanwalt beim EuGH, der dem französischen Rapporteur public (früher: Commissaire du gouvernement) beim Conseil d’État nachgebildet ist.[70]

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Das deutsche Verwaltungsprozessrecht sieht einen „Vertreter des öffentlichen Interesses“[71] als Verfahrensbeteiligten vor, § 63 Nr. 4 VwGO. Die Landesregierungen sind gem. § 36 Abs. 1 VwGO ermächtigt, einen solchen Vertreter des öffentlichen Interesses bei den OVGs und Verwaltungsgerichten (VG) zu bestellen. Von dieser Ermächtigung haben zur Zeit Bayern,[72] Thüringen[73] (mit den Landesanwaltschaften) und Rheinland-Pfalz[74] Gebrauch gemacht. In Nordrhein-Westfalen (NRW) gibt es den Vertreter des öffentlichen Interesses seit 2008 auch an dem Oberverwaltungsgericht nicht mehr.

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Daneben gibt es einen Vertreter des Bundesinteresses beim BVerwG, § 35 Abs. 1 VwGO. Dieser ist, anders als die Vertreter des öffentlichen Interesses in den Ländern, zwingend zu bestellen. Er ist als Behörde beim Bundesinnenministerium eingerichtet und hat daher eher die Funktion eines echten Interessenvertreters als die eines qualifizierten Organs der Rechtspflege, wie dies noch bei der Vorgängerinstitution, dem Oberbundesanwalt, der Fall war.[75] Ziel ist es aber nach wie vor, das BVerwG bei der Rechtsfindung zu unterstützen, dies allerdings unter Wahrung der Interessen des Bundes als Teil des öffentlichen Interesses.[76]

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Der Vertreter des öffentlichen Interesses kann sich grundsätzlich an allen anhängigen Verfahren beteiligen.[77] Als Verfahrensbeteiligter i.S.v. § 63 Nr. 4 VwGO hat der Vertreter des öffentlichen Interesses alle Rechte eines Beteiligten, kann also auch Anträge stellen oder nach den allgemeinen Voraussetzungen Rechtsmittel einlegen.[78] Üblicherweise wird sich ein Vertreter des öffentlichen Interesses dann an einem Verfahren beteiligen, wenn darin die Gültigkeit eines Gesetzes oder einer Rechtsverordnung bestritten wird und der Ausgang des Verfahrens von dieser Frage abhängt.[79]

§ 129 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland › II. Rollen und Funktionen der Verwaltungsgerichtsbarkeit › 2. Einordnung im Schema der Gewaltenteilungslehre und Verhältnis zu den politischen Staatsorganen

2. Einordnung im Schema der Gewaltenteilungslehre und Verhältnis
zu den politischen Staatsorganen

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Die Verwaltungsgerichtsbarkeit ist Teil der Gerichtsbarkeit und als solche eindeutig in das Gewaltenteilungsschema des Grundgesetzes eingeordnet. Art. 20 Abs. 2 GG nennt die Rechtsprechung als dritte Gewalt. Das Verhältnis zur Verwaltung ist in § 1 VwGO im Sinne einer Trennung und Unabhängigkeit definiert. Wörtlich heißt es dort: „Die Verwaltungsgerichtsbarkeit wird durch unabhängige, von den Verwaltungsbehörden getrennte Gerichte ausgeübt.“ Die Verwaltungsrichterschaft rekrutiert sich auch anders als zu den Anfängen im 19. Jahrhundert überwiegend nicht mehr aus der Verwaltung.[80] Einstellungsvoraussetzung ist die mit dem Zweiten Staatsexamen nachgewiesene Befähigung zum Richteramt, bei der nicht zwischen ordentlicher und sonstiger Gerichtsbarkeit unterschieden wird.[81] Nicht selten – je nach Land – führt der Weg zur Verwaltungsgerichtsbarkeit über eine Tätigkeit als Staatsanwalt oder Richter in der ordentlichen Gerichtsbarkeit.

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Aus der Nähe betrachtet erscheint indessen die Trennung zwischen Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit weniger hermetisch, als es die rechtlichen Grundlagen ausweisen.

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In einzelnen Ländern (Bayern) ist der regelmäßige Wechsel zwischen Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit in den Anfangsjahren einer Richterkarriere vorgesehen. Die Dienstaufsicht über die Verwaltungsrichter ist der Exekutive zugewiesen. Hier zeigen sich übrigens noch Restspuren der unterschiedlichen Traditionen von Verwaltungsgerichtsbarkeit. In Nordrhein-Westfalen obliegt die Dienstaufsicht über alle Gerichtszweige dem Justizministerium. Anders in Bayern, wo vormals die Verwaltungsrechtspflege nach französischem Muster bestand: Dort ist die Dienstaufsicht für die Verwaltungsrichter dem Innenministerium zugewiesen.[82]

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In vielen administrativen Angelegenheiten sind die Richter an die allgemeine Verwaltung angeschlossen, beispielsweise in Fragen der Besoldung oder der Krankenversorgung (Beihilfe). Die Ausgaben für Personal und Infrastruktur der Verwaltungsgerichte werden aus dem jeweiligen Staatshaushalt auf Bundes- oder Landesebene bestritten.[83]

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Die Trennung der Gewalten wird gleichwohl durch eine Reihe von rechtlichen Weichenstellungen gesichert. So ist der rechtliche Status der Richter formal von dem der anderen Staatsbediensteten abgesetzt, um der Trennung der Gewalten Ausdruck zu verleihen und die Unabhängigkeit der Richter zu sichern. Hierzu trifft bereits Art. 98 GG Festlegungen, indem angeordnet wird, dass die Rechtsstellung der Richter durch „besonderes Bundesgesetz“ zu regeln ist. Das Deutsche Richtergesetz (DRiG) ist auf dieser Grundlage ergangen. Richter sind keine Beamte und schon gar nicht Angestellte, sondern in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis besonderer Natur den Beamten im Wesentlichen gleichgestellt und werden in der Regel auf Lebenszeit ernannt. Eine Entlassung aus dem Richteramt ist nur in Ausnahmefällen vorgesehen. Die Tätigkeit ist rechtlich und von der faktischen Arbeitsbelastung her als Vollberuf konzipiert, die Nebentätigkeiten etwa als Lehrbeauftragter in der Ausbildung von Juristen zwar zulässt, aber keineswegs wie in der Schweiz neben einer hauptberuflichen Anwaltstätigkeit[84] ausgeübt werden könnte.

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Was das Verhältnis zu den politischen Staatsorganen angeht, so gilt auch hier der Grundsatz der Unabhängigkeit der Gerichte. Gleichwohl bestehen Berührungspunkte. So werden die Richter am BVerwG – wie alle Richter der obersten Bundesgerichte mit Ausnahme des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG)[85] – von einem durch politische Akteure besetzten Richterwahlausschuss gewählt. Für die Bundesländer gehört diesem Ausschuss kraft Amtes jeweils der für die Fachgerichtsbarkeit zuständige Minister an. Hinzu tritt die gleiche Anzahl von nach den Grundsätzen der Verhältniswahl vom Deutschen Bundestag gewählten Mitgliedern, in aller Regel Abgeordnete des Deutschen Bundestages. Den Vorsitz übernimmt der Bundesminister der Justiz, ohne Stimmrecht, allerdings mit Vetomöglichkeit.[86]

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Die Ernennung der Bundesrichter erfolgt durch den Bundespräsidenten, wobei dies als Formalakt einzuordnen sein dürfte, bei dem der Bundespräsident über keinerlei Spielraum verfügt, etwa aus politischen Gründen die Ernennung eines vom Richterwahlausschuss gewählten Kandidaten zu verweigern. In Polen hat in jüngerer Zeit allerdings unter ähnlichen textlichen Ausgangsbedingungen eine solche politische Verweigerung seitens des Präsidenten die Gerichte beschäftigt.[87]

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Auch auf Landesebene werden in etwa der Hälfte der Länder Richter durch Richterwahlausschüsse gewählt und die Ernennung in einem gesonderten Akt durch einen politischen Einzelakteur, hier die Exekutivspitze (Ministerpräsidenten) oder von diesen Beauftragte, vollzogen.[88]

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Insgesamt wirkt das Verfahren der Richterauswahl trotz der Mitwirkung politischer Akteure (Parlamentarier, Bundespräsident, Ministerpräsident) allgemein betrachtet als in hohem Maße formalisiert und politikfern und wird auch in der praktischen Ausführung im Allgemeinen nicht als politisiert wahrgenommen. Die Unabhängigkeit der Justiz ist insoweit das prägende Merkmal dieser Staatsgewalt.[89]

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Gleichwohl besteht seit Langem eine grundsätzliche Kritik, die sich auf die Einwirkungsmöglichkeiten der Politik unter dem Aspekt der „Parteipatronage“ (Ämterpatronage) richtet, die so „schleichend und unauffällig vor sich“ geht, „dass der Bürger davon kaum etwas merkt“.[90] Das Erfordernis der Mitgliedschaft in einer politischen Partei, womöglich in der oder den Regierungsparteien, um für eine Position als Richter in Betracht zu kommen, scheint sich umgekehrt proportional zur Gerichtshierarchie zu verhalten: Wo die Besetzung des BVerfG durchgehend offen und im parteiübergreifenden Konsens – gleichwohl ohne entsprechende normative Grundlage in Verfassung oder Gesetz – zwecks Sicherung eines parteipolitischen Gleichgewichts nach einer Parteilogik erfolgt, ist auf der Ebene der sonstigen höchsten Gerichte auf Bundes- und Landesebene die Orientierung an einem parteiübergreifenden Konsens im Sinne eines Gleichgewichts offenbar weniger ausgeprägt, die Vorgaben des Art. 33 Abs. 2 GG im Hinblick auf Eignung, Befähigung und fachliche Leistung werden hier ernst genommen. Nichtsdestotrotz ist eine Bedeutung der parteipolitischen Orientierung nicht völlig auszuschließen, insofern ist dann die Mehrheit im Richterwahlausschuss maßgeblich.

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Bei den nachgeordneten Gerichten spielt die Parteimitgliedschaft für die Auswahl der Richter offenbar die geringste Rolle, wobei selbst dort erhebliche regionale Unterschiede bestehen dürften.[91] Ein Aspekt ist hier sicherlich auch, dass – mit Ausnahme des BVerfG – die Richter nicht nur auf Zeit bestellt werden, sondern unbefristet (bis zur Altersgrenze). Anders liegen die Dinge etwa in der Schweiz, wo die Wahl der Richter durch das Parlament oder das Volk auf Zeit für eine beschränkte Amtsdauer erfolgt und Richter sich entsprechend einer Wiederwahl stellen müssen: Die Richterauswahl liegt hier weitgehend in der Hand der politischen Parteien.[92]

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Ohnehin ist im Hinblick auf den (partei-)politischen Einfluss zwischen der ersten Berufung von Richtern auf Landesebene, Beförderungsentscheidungen ab bestimmten Positionen in der Gerichtshierarchie, insbesondere bei Stellen, die zugleich Aufgaben der Gerichtsverwaltung erfüllen wie etwa Präsidentenämter, und der Wahl von Bundesrichtern zu differenzieren.

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Wie immer man die Bedeutung parteipolitischer Orientierung im Einzelnen bemessen mag – es besteht jedenfalls keine offenkundige Politisierung der Gerichtsbarkeit. Für alle Gerichte vom BVerfG bis zur erstinstanzlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit besteht die allgemeine grundsätzliche Wahrnehmung einer primären Orientierung an Recht und Gesetz und einer sachlichen Unabhängigkeit. Eine offen parteipolitische Entscheidungspraxis besteht nicht.

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Auch unter einem anderen personalen Aspekt erscheint die deutsche Verwaltungsgerichtsbarkeit als politikfern: In der ersten Reihe der politischen Funktionsträger in Deutschland finden sich nahezu keine Verwaltungsrichter.[93] Dies fällt vor allem im Abgleich mit Frankreich auf, wo die führende politische Klasse ganz überwiegend aus Absolventen der Grandes écoles[94] besteht und entsprechend etliche Angehörige des Conseil d’État zu finden sind.[95]

§ 129 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland › II. Rollen und Funktionen der Verwaltungsgerichtsbarkeit › 3. Stellung in der Gerichtsbarkeit