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d) Rechtsmittel

aa) Letztinstanzliche Entscheidung

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Gegen Urteile des Staatsrates gibt es keinen weiteren innerstaatlichen Rechtsbehelf.

bb) Wiederaufnahme des Verfahrens

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Eine Möglichkeit der Wiederaufnahme des Verfahrens besteht gem. Art. 31 Abs. 1 KGSR nur bei in kontradiktorischem Verfahren ergangenen Urteilen.[393] Sie setzt voraus, dass entweder seit Verkündung des Urteils entscheidungserhebliche Schriftstücke aufgefunden wurden, die durch Verschulden der Gegenpartei zurückgehalten worden waren, oder das Urteil auf der Grundlage von als falsch erkannten oder für falsch erklärten Schriftstücken erging. Zuständig für die Wiederaufnahme ist dieselbe Kammer, die auch das ursprüngliche Urteil gesprochen hat.[394] Sie ist nur auf Antrag möglich.

cc) Einspruch und Dritteinspruch

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Ein Einspruch räumt einer nicht erschienenen Partei die erneute Gelegenheit ein, zur Sache vorzutragen, sofern sie zuvor daran gehindert war.[395] Bei einem Dritteinspruch handelt es sich um einen Rechtsbehelf, der „jedermann [offensteht], der einen Einspruch gegen ein Urteil einlegen will, das seine Rechtsgüter beeinträchtigt und an dessen Verfahren weder er noch diejenigen, die er vertritt, als Partei teilgenommen haben“.[396] Die Voraussetzungen für die Erhebung von Einsprüchen und Dritteinsprüchen legt gem. Art. 30 KGSR ein königlicher Erlass fest.

167

Gemäß Art. 17 § 3 Abs. 1 KGSR kann gegen Beschlüsse über einen Aussetzungsantrag oder über den Erlass vorläufiger Maßnahmen weder Einspruch noch Dritteinspruch eingelegt werden. Stattdessen kann gem. Art. 17 § 3 Abs. 2 KGSR auf Antrag[397] begehrt werden, einen solchen Beschluss zu widerrufen oder abzuändern.[398]

§ 128 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Belgien › V. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit im europäischen Rechtsraum

V. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit im
europäischen Rechtsraum

§ 128 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Belgien › V. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit im europäischen Rechtsraum › 1. Allgemeine Anmerkungen

1. Allgemeine Anmerkungen

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Alle belgischen Gerichte, also sowohl die ordentlichen Gerichte als auch die Verwaltungsgerichte, haben die Möglichkeit, im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens dem EuGH oder dem Benelux-Gerichtshof eine Frage vorzulegen. Auf diese Weise wurde die Arbeitsweise der belgischen Verwaltungsgerichte in der Vergangenheit durch den europäischen Grundrechtsschutz maßgeblich beeinflusst. Weitere wesentliche Impulse haben sich aus der Rechtsprechung des EGMR ergeben, da auch Urteile des Staatsrates einer Überprüfung durch den EGMR im Verfahren der Individualbeschwerde unterworfen werden können.[399] Dies zeigt sich u.a. darin, dass die ursprüngliche Unterscheidung zwischen bürgerlichen und politischen Rechten unerheblich ist, sofern es um die Würdigung eines zivilrechtlichen Anspruchs i.S.v. Art. 6 EMRK geht.[400]

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Das Unionsrecht wirkte auch auf Aufbau und Arbeitsweise der belgischen Verwaltungsgerichtsbarkeit ein. Dies ist in einigen Bereichen besonders spürbar. So wurde etwa im Bereich des Vergaberechts durch europäisches Sekundärrecht die Schaffung besonderer Rechtsmittelverfahren vorgeschrieben. Ferner wurde mit der Einrichtung des Gerichts für Ausländerrechtsstreitsachen die Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft umgesetzt.

§ 128 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Belgien › V. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit im europäischen Rechtsraum › 2. Äquivalenz- und Effektivitätsprinzip; Verhältnis der Verfassung zum Unionsrecht

2. Äquivalenz- und Effektivitätsprinzip; Verhältnis der Verfassung
zum Unionsrecht

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Die unionsrechtlichen allgemeinen Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität sind eng mit dem Recht auf effektiven Rechtsschutz verknüpft. Nach dem Äquivalenzgrundsatz müssen Verstöße gegen das Unionsrecht inhaltlich und verfahrensrechtlich in gleicher oder gleichwertiger Weise geahndet werden können wie Verletzungen vergleichbarer nationaler Normen. Das Effektivitätsprinzip verlangt darüber hinaus, dass die Mitgliedstaaten einen effektiven gerichtlichen Schutz eines dem Einzelnen durch Unionsrecht zuerkannten Rechts ermöglichen. Die Wirksamkeit des Unionsrechts wird zusätzlich durch die Entwicklung der Grundsätze der unmittelbaren Wirkung,[401] des Vorrangs, der Einheit und der Effektivität[402] in der Rechtsprechung des EuGH gewährleistet.

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Auswirkungen des Unionsrechts zeigen sich in immer mehr belgischen Gesetzen und Verordnungen unterschiedlicher Bereiche. Auch die belgische Verwaltungsgerichtsbarkeit wendet daher zunehmend Europarecht sowie auch Völkerrecht an. Dabei gewährleistet die belgische Rechtsprechung das Zusammenspiel von Unionsrecht und nationalem Recht sowie die besondere Stellung des Unionsrechts im Normengefüge. Bezüglich der Reichweite dieser besonderen Stellung bestehen zwischen Kassationshof und Verfassungsgerichtshof jedoch unterschiedliche Ansichten: 1971 hat der Kassationshof mit seinem Le Ski-Urteil seine bisherige Rechtsprechung, die eher von einer dualistischen Auffassung des Verhältnisses von Völkerrecht und nationalem Recht geprägt war, zugunsten eines monistischen Ansatzes aufgegeben. In diesem Urteil entschied der Kassationshof, dass im Falle einer Kollision zwischen einer unmittelbar anwendbaren völkerrechtlichen Vorschrift und einer innerstaatlichen Vorschrift der völkerrechtlichen Regelung Vorrang zukommt.[403] Dieser Vorrang des Völkerrechts ergibt sich nach Auffassung des Kassationshofes bereits aus dem „Wesen des Völkervertragsrechts selbst“.[404] Mit dieser Rechtsprechung wurde klargestellt, dass die Gerichte dem Vorrang des Völkerrechts Geltung zu verschaffen haben, indem sie im Konfliktfall ein später verabschiedetes, aber mit einer völkerrechtlichen Norm unvereinbares (nationales) Gesetz nicht anwenden dürfen.[405] Der Kassationshof verfolgt so den Grundsatz des Vorrangs des Völker- und des Europarechts vor dem nationalen Recht, zumindest dann, wenn das internationale Recht innerstaatlich unmittelbar anwendbar ist. Durch Urteil vom 16. November 2004 hat er seine Auffassung von der umfassenden Vorrangstellung des Völkerrechts noch einmal bekräftigt und betont, dass ein „völkerrechtlicher Vertrag, der unmittelbare Wirkung entfaltet, Vorrang [auch] vor der Verfassung“ habe.[406] Der Verfassungsgerichtshof vertritt hingegen die Auffassung, dass keine Bestimmung der Verfassung Belgien erlaube, verfassungswidrige Verträge und Abkommen abzuschließen. Deshalb sieht er sich für zuständig, in einer Nichtigkeitsklage oder nach Vorlage in einem Vorabentscheidungsverfahren ein Zustimmungsgesetz zu einem völkerrechtlichen Vertrag für nichtig oder für verfassungswidrig zu erklären, wenn der besagte Vertrag Bestimmungen enthält, die mit der Verfassung unvereinbar sind.[407]

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Auch der Staatsrat hat zur Frage des Verhältnisses von nationalem und internationalem Recht eine eigene Rechtsprechung entwickelt. Er bejaht die innerstaatliche Verpflichtung, nationales Recht möglichst völkerrechtskonform auszulegen und betont, dass diese Verpflichtung insbesondere dann greife, wenn die innerstaatliche Norm eine Durchführungsbestimmung zur betreffenden völkerrechtlichen Norm ist.[408] Dem Staatsrat zufolge gilt der Grundsatz der völkerrechtskonformen Auslegung selbst dann, wenn die völkerrechtliche Norm keine unmittelbare Wirkung entfaltet. Im Orfinger-Urteil vom 19. November 1996 hat er entschieden, dass „im Kollisionsfall zwischen einer nationalen Norm und einer in der innerstaatlichen Rechtsordnung unmittelbare Wirkung entfaltenden völkerrechtlichen Norm die von dem völkerrechtlichen Vertrag vorgesehene Vorschrift Vorrang genießt“ und dass „[…] sich aus Sicht des belgischen Verfassungsrechts die Geltung der Auslegung der Römischen Verträge durch den Europäischen Gerichtshof aus Art. 34 der Verfassung ergibt, selbst wenn durch diese Auslegung Art. 8 und 10 der Verfassung in Teilen die Wirksamkeit entzogen wird“. Die Abteilung für Verwaltungsstreitsachen des Staatsrates folgt damit der Rechtsprechungslinie des EuGH,[409] wonach sowohl die EMRK als auch die Römischen Verträge Vorrang vor sämtlichen innerstaatlichen Vorschriften einschließlich der Verfassung haben;[410] im Gegensatz hierzu scheint die Gesetzgebungsabteilung einer anderen Sichtweise zu folgen und weiterhin die Verfassung als höchste Vorschrift im Normengefüge anzusehen.[411]

§ 128 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Belgien › V. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit im europäischen Rechtsraum › 3. Einstweiliger Rechtsschutz

3. Einstweiliger Rechtsschutz

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Wie bereits erläutert kann im Zuge der Nichtigkeitsklage ein Antrag auf Aussetzung der angegriffenen Verwaltungsmaßnahme gestellt werden.[412] Das gilt auch für das öffentliche Vertragswesen und insbesondere auch im Vergaberecht.

 

§ 128 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Belgien › V. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit im europäischen Rechtsraum › 4. Klagebefugnis und Recht auf Zugang zum Richter (Schutznormtheorie)

4. Klagebefugnis und Recht auf Zugang zum Richter (Schutznormtheorie)

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Das Recht auf gerichtlichen Rechtsschutz ist ein allgemeiner Rechtsgrundsatz.[413] Es folgt auch aus Art. 6 EMRK. Allerdings muss der Kläger im Rahmen einer Nichtigkeitsklage ein eigenes, gegenwärtiges, konkretes, unmittelbares und berechtigtes Rechtsschutzinteresse geltend machen. Hierfür bedarf es der Geltendmachung einer Rechtsverletzung. Das Rechtsschutzinteresse des Klägers ist zu bejahen, wenn die angegriffene Verwaltungsmaßnahme dessen persönliche Rechtsstellung oder, mit Auswirkungen auf die persönliche Lage des Klägers, die rechtliche Situation eines Dritten (wie beispielsweise im Falle einer Ernennung in ein bestimmtes Amt) berührt. Allein der Nachweis, dass man Recht habe, begründet noch kein hinreichendes Rechtsschutzbedürfnis.[414]

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Auch das Recht auf Zugang zu Dokumenten der Verwaltung wurde durch das europäische Recht, einschließlich der EMRK, erheblich beeinflusst. Art. 8 und 2 EMRK sind Grundlage eines Rechts auf aktive Offenlegung der Verwaltungsdokumente der Behörden im Umwelt-[415] und Gesundheitsrecht.[416] Aus Art. 10 EMRK folgt zwar kein allgemeines Zugangsrecht;[417] die Norm kann sich diesbezüglich jedoch in bestimmten Fällen als hilfreich erweisen.[418] Eine Verletzung des von Art. 6 EMRK gewährleisteten Rechts auf wirksamen Zugang zu den Gerichten kann aus einer abweisenden Entscheidung über einen Antrag auf Zugang zu Verwaltungsdokumenten folgen.[419]

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Auch im Unionsrecht findet sich das Ziel, insbesondere in Umweltangelegenheiten, den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung in Entscheidungsverfahren und den Zugang zu den Gerichten zu stärken. Hierzu wurde die Aarhus-Konvention vom 25. Juni 1998 durch die Europäische Gemeinschaft und 39 Staaten, unter ihnen Belgien, abgeschlossen und mit der Richtlinie 2003/4/EG[420] in das Unionsrecht übernommen. Sie wurde in Belgien[421] im flämischen Dekret vom 26. März 2004 über die Öffentlichkeit der Verwaltung, im wallonischen Umweltgesetzbuch, im Gesetz vom 5. August 2006 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Informationen in Umweltangelegenheiten sowie im Gesetzerlass vom 18. März 2004 über den Zugang zu Informationen in Umweltangelegenheiten in der Region Brüssel-Hauptstadt umgesetzt.

§ 128 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Belgien › V. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit im europäischen Rechtsraum › 5. Ausgleichsfunktion bei Feststellung von Schutzlücken

5. Ausgleichsfunktion bei Feststellung von Schutzlücken

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Seit 2014 muss eine vor dem Staatsrat oder einem anderen Verwaltungsgericht auf föderaler Ebene obsiegende Partei – wie bereits gesehen – für eine Entschädigung ihres erlittenen Schadens nicht mehr zwangsläufig einen entsprechenden Antrag vor einem ordentlichen Gericht stellen. Die Organe der Verwaltungsgerichtsbarkeit können nunmehr selbst über die zivilrechtlichen Rechtsfolgen der von ihnen entschiedenen Rechtsstreitigkeiten befinden.[422]

§ 128 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Belgien › V. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit im europäischen Rechtsraum › 6. Stellung im transnationalen Rechtsschutzgefüge

6. Stellung im transnationalen Rechtsschutzgefüge

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Als Reaktion auf die Kritik insbesondere des EGMR an der zu langen Verfahrensdauer in Ausländerangelegenheiten wurde 2006 das Gericht für Ausländerrechtsstreitsachen geschaffen. Auch hier ist eine Berücksichtigung des internationalen Rechts bei der Ausgestaltung des belgischen Gerichtswesens erkennbar.

§ 128 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Belgien › V. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit im europäischen Rechtsraum › 7. Kooperation mit dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg

7. Kooperation mit dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg

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Der EuGH verlangt von den Verwaltungsbehörden, das innerstaatliche Recht in einer mit dem Unionsrecht vereinbaren Weise auszulegen[423] und mit diesem gegebenenfalls unvereinbare Vorschriften nicht anzuwenden.[424]

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Auch Verwaltungsgerichte sind erstinstanzliche Unionsrichter. Es liegt somit auf der Hand, dass auch zwischen ihnen und dem EuGH eine enge Zusammenarbeit unerlässlich ist. Im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV sind jedoch „nur die nationalen Gerichte befugt […], eine Vorlagefrage an den Europäischen Gerichtshof zu richten“[425]. Dabei ist der Begriff „Gericht“ eigenständig unionsrechtlich auszulegen.[426] Folglich stellt sich angesichts der vielfältigen Zuständigkeiten des belgischen Staatsrates die Frage, wann sich dieser im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens als „nationales Gericht“ an den EuGH wenden kann. Entscheidet er über Nichtigkeitsklagen wegen Überschreitung von Amtsbefugnissen, über Revisionsanträge, über Entschädigungsanträge aufgrund eines außergewöhnlichen Schadens sowie im Rahmen von Verfahren mit unbeschränkter Ermessensnachprüfung, agiert er unbestritten als Gericht. Somit handelt es sich bei einer Vorlagefrage in diesen Fällen um einen Akt der Kooperation zwischen Richtern i.S.v. Art. 267 AEUV. Die Gesetzgebungsabteilung hingegen hat lediglich eine Beratungsfunktion inne und ist daher kein Gericht i.S.v. Art. 267 AEUV.

§ 128 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Belgien › V. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit im europäischen Rechtsraum › 8. Horizontale Kooperation (mit anderen Gerichten)

8. Horizontale Kooperation (mit anderen Gerichten)

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Gemäß Art. 26 des Sondergesetzes vom 6. Januar 1989 über den Verfassungsgerichtshof hat der Staatsrat Letzterem auf Antrag einer der am Verfahren beteiligten Parteien jede Frage im Zusammenhang mit der Auslegung der Vorschriften des Titels II (Grundfreiheiten) oder der Art. 170 und 172 (steuerrechtliche Grundprinzipien) sowie des Art. 191 (Rechtsstellung der Ausländer) Belg. Verf. vorzulegen. Gleiches gilt in Bezug auf Fragen zur Auslegung der Kompetenzverteilungsvorschriften zwischen den Behörden der Föderation, der Gemeinschaften und der Regionen.

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Die obersten Gerichtshöfe der europäischen Staaten haben sich in der Vereinigung der Staatsräte und obersten Verwaltungsgerichte der Europäischen Union (ACA) zusammengeschlossen. Ein Beleg für die Bedeutung dieser Vereinigung für den Rechtsschutz des Bürgers war die Arbeitstagung „Verstärkte Wirksamkeit der obersten Verwaltungsgerichte“, welche auf Initiative der ACA am 1. und 2. März 2012 in Brüssel stattfand und eine rechtsvergleichende Analyse folgender Themen zum Gegenstand hatte: die Zuständigkeit für die Wiederherstellung der Gesetzeskonformität einer Verwaltungsmaßnahme, insbesondere mittels eines dafür vorgesehenen Heilungsverfahrens, die Zuständigkeit für Entschädigungsanträge und Nichtigkeitsklagen sowie die tatsächliche Vollstreckung verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen.

§ 128 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Belgien › VI. Erkenntnisse

VI. Erkenntnisse

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Über den Schutz des Bürgers gegen Verwaltungsmaßnahmen in Belgien kann abschließend zusammenfassend Folgendes festgehalten werden:

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In erster Linie basiert der Rechtschutz des Bürgers gegen Maßnahmen der Verwaltung auf zwei unterschiedlichen Mechanismen. Dabei legt der eine den Schwerpunkt auf die Einrede der Rechtswidrigkeit einer Verwaltungsmaßnahme und ist zur Bewahrung der Normenhierarchie von jedem Gericht zu prüfen. Der andere und jüngere baut hingegen auf die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Eine solche existiert zwar, jedoch ist die rechtliche Ausgestaltung ihrer einzelnen Zweige und Rechtsprechungsorgane diffus und der Rechtsrahmen uneinheitlich. Dabei kommt dem Staatsrat, der als Bundesorgan eine allgemeine Zuständigkeit besitzt und gleichzeitig einziges Organ seiner Art ist, eine herausragende Stellung zu. Er begleitet das Handeln der öffentlichen Verwaltung und wacht über die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit und ihrer Prinzipien.

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In diesem Zusammenhang ist der Staatsrat für unterschiedliche Verfahren zuständig: Erstens erstellt die Gesetzgebungsabteilung begründete Gutachten zu den Vorentwürfen für Gesetze, Dekrete und Gesetzerlasse sowie zu den Entwürfen für Erlasse der föderierten Teilgebiete Belgiens. Zweitens entscheidet die Abteilung für Verwaltungsstreitsachen über Nichtigkeitsklagen und ahndet damit Überschreitungen der Amtsbefugnisse durch die Behörden. Darüber hinaus kann sie in dringlichen Fällen den Vollzug einer angegriffenen Verwaltungsmaßnahme aussetzen und gegebenenfalls einstweilige Maßnahmen anordnen. Drittens kommt der Verwaltungsstreitsachenabteilung die Rolle einer Revisionsinstanz zu, sofern ein Revisionsantrag gegen ein Urteil der Verwaltungsgerichte gestellt wird. Viertens ist diese Abteilung in den von den KGSR vorgesehenen Fällen auch zur unbeschränkten Nachprüfung einer Entscheidung befugt, insbesondere zur unbeschränkten Ermessensnachprüfung, beispielsweise bei Beschwerden im Rahmen von Gemeinde- und Provinzialwahlen. Fünftens entscheidet die Abteilung für Verwaltungsstreitsachen subsidiär und auf der Grundlage von Billigkeitserwägungen über Anträge, die eine Entschädigung zur Wiedergutmachung eines von einer Verwaltungsbehörde verursachten außerordentlichen Schadens begehren.

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Damit ist die Verwaltungsstreitsachenabteilung das dominierende Organ der Verwaltungsgerichtsbarkeit, auch wenn diese in Belgien nicht stringent mehrstufig aufgebaut ist. Im Laufe des letzten Jahrhunderts hat dabei der gerichtliche Rechtsschutz des Bürgers eine bedeutende Entwicklung durchlaufen, insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg. Als Organ der Verwaltungsgerichtsbarkeit par excellence prüft der Staatsrat die formelle und materielle Rechtmäßigkeit behördlicher Entscheidungen. Daneben nehmen allerdings auch die Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit nach wie vor Zuständigkeiten für die Überprüfung einer Verwaltungsmaßnahme in Anspruch. Wenngleich all diese Bemühungen die Kontrolle der Exekutive bezwecken, um die Gefahr willkürlicher oder amtsmissbräuchlicher Maßnahmen zu verhindern, so leidet hierunter doch die Einheitlichkeit des Systems.

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Der Staatsrat hat seinen Arbeitsrhythmus zunehmend gefunden. Für die unterschiedlichen Verfahrensarten bestehen recht klare Verfahrensvorschriften, die gleichzeitig dennoch auch Anpassungen erfahren haben, beispielsweise im Bereich der Rechtsfolgen einer Nichtigkeitsentscheidung.

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In einem Staat, der seine Bürger vor der Gefahr willkürlicher Maßnahmen bewahren möchte, sind derartige Rechtsschutzmöglichkeiten in vielerlei Hinsicht unverzichtbar. Als der Staatsrat geschaffen und damit eine kopernikanische Wende eingeleitet wurde, fand der Senator Orban die folgenden Worte: „Ich betone, dass die strukturelle Reform, über die wir hier gerade streiten, im Wesentlichen demokratischer Art ist. In der Tat geht es darum, die Handlungen des Staates der Gesetzmäßigkeit unterzuordnen. […] Der Rechtsstaatsgedanke bedeutet, dass die Tätigkeit des Staates einer Überprüfung durch übergeordnete Instanzen unterworfen sein muss. Der Staat kann sich genauso wenig wie der einzelne Bürger festgelegten Rechtsformen entziehen.“[427]

§ 128 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Belgien › VII. Herausforderungen und Ausblick