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dd) Recht auf Unterrichtung, Zugang zu den Dokumenten der Verwaltung

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Art. 32 Belg. Verf. sieht seit 1993 die Transparenz von Verwaltungsentscheidungen vor, insbesondere um es „Personen, die eine Klage vor Gericht erwägen, zu ermöglichen, von einem Vorgang vor Anrufung des Gerichts Kenntnis zu erlangen und eine Klage nur in Kenntnis der tatsächlichen Sachlage zu erheben“[328]. Diese Transparenzpflicht versetzt den Bürger in die Lage, die Verwaltung zu kontrollieren.[329] Sie ist durch föderale Gesetze und Gesetze der föderierten Teilgebiete näher ausgestaltet. Gleichzeitig wurden Beschwerdemöglichkeiten geschaffen, falls die Herausgabe eines Dokuments der Verwaltung verweigert wird.[330] Ein Gesetz vom 11. April 1994 über die Öffentlichkeit der Verwaltung[331] bekräftigte das Recht eines jeden Bürgers, Einsicht in ihn betreffende Verwaltungsunterlagen zu nehmen, eine Abschrift davon zu erhalten und gegebenenfalls darin enthaltene fehlerhafte Angaben berichtigen zu lassen. Zu diesem Zweck wurden auf den unterschiedlichen staatlichen Ebenen Kommissionen für den Zugang zu Verwaltungsdokumenten eingerichtet.

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Durch diesen Zugang kann der Bürger im Streitfall mit der Verwaltung sich „Waffen“ verschaffen, mit denen er sich zur Wehr setzen kann.[332] Dabei verhindert der oben erläuterte Grundsatz der Entscheidung innerhalb einer angemessenen Frist,[333] dass es zu Schnellverfahren kommt und dadurch das Recht des Bürgers auf Einsicht der Dokumente der Verwaltung ausgehebelt würde.[334] Der Staatsrat achtet darauf, dass die einem Bürger im Rahmen einer Ladung eingeräumte Frist lang genug ist, damit dieser ausreichend Gelegenheit hat, Einsicht in seine Verwaltungsunterlagen zu nehmen und seine Erwiderungen entsprechend vorzubereiten.[335] Im Übrigen ist die beklagte Behörde im Verlauf des Verfahrens der Nichtigkeitsklage verpflichtet, die vollständigen Unterlagen zum einschlägigen Sachverhalt offenzulegen. Der zuständige Auditor kann die Nachreichung fehlender Unterlagen verlangen. Kommt die Behörde dieser Verpflichtung nicht nach, d.h. legt sie „innerhalb einer festgelegten Frist die Verwaltungsunterlagen nicht [vor], gilt unbeschadet der Vorschrift des Art. 21bis KGSR der vom Kläger vorgetragene Sachverhalt als erwiesen, es sei denn, es handelt sich um offensichtlich unzutreffende Tatsachen“[336]. Die Gewährung von Einsicht in die Prozessakten obliegt der Kanzlei des Gerichts. Diese ist befugt, sich alle Unterlagen und Informationen zu Rechtssachen geben zu lassen, mit denen der Staatsrat befasst ist.

ee) Die Rolle Dritter im Verfahren

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Gemäß Art. 21bis KGSR können Dritte, deren Interessen[337] von der Entscheidung eines beim Staatsrat anhängigen Verfahrens berührt sind, diesem beitreten. Ein Interesse an einer Verfahrensbeteiligung kann u.U. bestehen, wenn ein Dritter von einer gerichtlich angegriffenen Verwaltungsmaßnahme begünstigt wird. Dieser erhält durch den Verfahrensbeitritt die Möglichkeit, seine durch die Klage berührten Belange zu verteidigen. Der Antrag auf Beteiligung am Rechtsstreit muss innerhalb von 30 Tagen eingereicht werden, nachdem der mögliche Verfahrensbeteiligte ein entsprechendes Schreiben der Kanzlei des Staatsrates erhalten hat[338] bzw. nachdem im Belgischen Staatsblatt eine Bekanntmachung über die Möglichkeit, gegen eine Rechtsverordnung Nichtigkeitsklage zu erheben, veröffentlicht wurde. Ein Beitritt zu einem späteren Zeitpunkt ist nur zulässig, wenn dadurch das Verfahren in keinerlei Hinsicht verzögert wird. Gemäß Art. 21bis KGSR können beitretende Parteien zur Unterstützung des Antrags des Klägers keine anderen als die in der verfahrenseinleitenden Antragsschrift erwähnten Klagegründe vorbringen,[339] es sei denn ein zusätzlicher Klagegrund ergibt sich für die antragstellende Partei erst aus der Einsicht der Verwaltungsakten.[340] Ein Verfahrensbeitritt erfolgt oftmals auf eigene Initiative des Beitretenden. Die Verwaltungsstreitsachenabteilung kann aber auch von sich aus Dritte einbeziehen.

ff) Öffentlichkeit des Verfahrens und der Urteilsverkündung

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Gemäß Art. 22 Abs. 1 KGSR erfolgt die Vorermittlung zu einer Klage grundsätzlich schriftlich. Der Staatsrat kann die Parteien aber auch laden und anhören. Die mündliche Verhandlung ist dann jedoch öffentlich,[341] wobei die Öffentlichkeit im Falle einer Sittlichkeitsangelegenheit ausgeschlossen werden kann. Auch die Urteilsverkündung erfolgt öffentlich. Das Urteil wird den Parteien gem. Art. 36 Abs. 1 VVerwSSRE zugestellt. Alle Urteile und Nichtannahmebeschlüsse von Revisionsanträgen werden veröffentlicht – seit 1994 vollständig in elektronischer Form[342] und in der Sprache der Urteilsverkündung auf der Internetseite des Staatsrates (http://www.raadvst-consetat.be). Hierdurch erhält die Öffentlichkeit – wie von Art. 28 Abs. 3 KGSR vorgesehen – Zugang zu den Urteilen des Staatsrates.

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Urteile und Nichtannahmebeschlüsse in Ausländerrechtsstreitigkeiten werden hingegen nur veröffentlicht, wenn dies für die Rechtsprechung oder das Rechtsgebiet von Bedeutung ist. Dabei erfolgt stets eine Anonymisierung des Klägers. Bei allen anderen Verfahrensarten wird der Name einer Partei nur unkenntlich gemacht, sofern dies ausdrücklich während des Verfahrens begehrt wird.

gg) Gerichtsgebühren

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Seit 2007 sieht Art. 1022 Code judiciaire für Verfahren vor den ordentlichen Gerichten eine Verfahrensentschädigung in Form „eine[r] pauschale[n] Beteiligung an den Anwaltsgebühren und -honoraren der Partei, die Recht erhalten hat“, vor. Somit erhält die obsiegende Partei von der anderen für ihre Prozesskosten eine Entschädigung, deren Höhe sich u.a. nach der Bedeutung der Streitsache richtet. Art. 1022 Code judiciaire gilt jedoch nicht für Verfahren vor dem Staatsrat.

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Zwar hat Art. 30 KGSR die Zahlung für Kosten in Form einer „Stempelgebühr“ in Höhe von 200 Euro für Nichtigkeitsklagen und Aussetzungsanträge bzw. 150 Euro bei Anträgen zum Verfahrensbeitritt eingeführt. Diese entspricht jedoch nicht im Entferntesten einer Prozesskostenerstattung. Infolgedessen lehnte der Staatsrat eine Entschädigung des Klägers – gleich welcher Art – bis 2014 auch konsequent ab.[343] Der Kläger hatte sich vielmehr an ein Zivilgericht zu wenden, wo er die Wiedergutmachung seines erlittenen Schadens geltend machen konnte (die im Zuge des Verfahrens vor der Verwaltungsgerichtsbarkeit an seinen Anwalt gezahlten Gebühren und Honorare wurden dabei als Schaden gewertet). Diese Praxis ging auf die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes zurück,[344] wurde jedoch 2014 weitreichend modifiziert: Seitdem erlaubt es Art. 30/1 KGSR dem Staatsrat, der obsiegenden Partei eine Verfahrensentschädigung zuzusprechen. Ein königlicher Erlass legt Grundbetrag sowie Ober- und Untergrenze der Entschädigung fest, wobei die Art des Sachverhalts, die Bedeutung der Streitsache und die Finanzkraft der unterliegenden Partei Berücksichtigung finden.[345] Für mögliche Verfahrensbeteiligte existiert dagegen keinerlei Regelung zur Prozesskostenerstattung.

hh) Begründungspflicht

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Art. 149 Belg. Verf. sieht eine Begründungspflicht für jedes Rechtsprechungsorgan vor;[346] das gilt auch für solche, die von den föderierten Teilgebieten Belgiens eingerichtet worden sind.[347] Die KGSR greifen dies in Art. 28 auf. Damit besteht eine Begründungspflicht bezüglich aller von den Parteien vorgetragenen Rechtsgründe.

d) Einstweiliger Rechtsschutz

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Das Aussetzungsantragsverfahren ermöglicht es dem Kläger, den Vollzug einer Verwaltungsmaßnahme aus schwerwiegenden Gründen und bei Dringlichkeit aussetzen zu lassen.[348]

§ 128 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Belgien › IV. Die rechtlichen Grundlagen der Verwaltungsgerichtsbarkeit im Kontext › 4. Kontrolldichte und Urteil

4. Kontrolldichte und Urteil
a) Kontrolldichte

aa) Überprüfung der Tatsachen

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Die für die Verwaltungsstreitsachenabteilung geltende allgemeine Verfahrensordnung bestimmt nichts Näheres über die Art der Sachverhaltsdarstellung.[349] Den Tatsachen kommt jedoch im Rahmen des Verwaltungsprozesses als rein objektives Verfahren eine besondere Bedeutung zu. Fehlt eine Darstellung des Sachverhalts im Antrag auf Nichtigkeitsklage, ist diese dennoch nicht automatisch unzulässig. Das ist nur dann der Fall, wenn der Antrag „derart verschwommen formuliert ist, dass dessen Gegenstand nicht [mehr] erkennbar ist“.[350] Hieraus folgt, dass der Klageantrag zwar grundsätzlich eine Darstellung des Sachverhalts umfassen muss, diese jedoch im konkreten Fall auch sehr kurz ausfallen oder ganz weggelassen werden kann, wenn der Antrag bereits aus sich heraus verständlich ist. Der vom Kläger vorgetragene Sachverhalt gilt, außer wenn diese Tatsachen offensichtlich unzutreffend sind, als nachgewiesen,[351] wenn die beklagte Behörde nicht innerhalb der dafür vorgesehenen Frist ihre Verwaltungsdokumente übermittelt.[352]

 

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Ist eine nähere Untersuchung des Sachverhalts erforderlich, kann diese gem. Art. 25 KGSR vom Staatsrat angeordnet und entweder während der Anhörung vor dem Staatsrat, vor einem Richter des Staatsrates oder einem Mitglied des Auditorats durchgeführt werden. Zeugen können unter Eid vernommen, Sachverständige zu bestimmten Fragen gehört und „Beweisaufnahmen vor Ort“[353] durchgeführt werden.

bb) Überprüfung der Zweckmäßigkeit der angegriffenen Maßnahme

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Der Staatsrat überprüft nicht die Zweckmäßigkeit der angegriffenen Verwaltungsmaßnahme. Er prüft ausschließlich deren formelle (Formvorschriften, Verfahren, Zuständigkeit) und materielle Rechtmäßigkeit.[354] Im Rahmen der Würdigung der materiellen Rechtmäßigkeit einer Verwaltungsmaßnahme überprüft er allerdings auch das Vorliegen eines offensichtlichen Beurteilungsirrtums. Liegt ein solcher Irrtum vor, ist die Maßnahme wegen Verstoßes gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz rechtswidrig. Nach diesem muss die Behörde nämlich die beschwerende Maßnahme und den ihr zugrunde liegenden Sachverhalt bzw. das mit der Maßnahme verfolgte Ziel auf angemessene Weise miteinander in Einklang bringen. Mit Urteil vom 19. Februar 1980 hob der Staatsrat erstmals eine Verwaltungsstrafe auf, die er in Anbetracht des dem Kläger zur Last gelegten Sachverhalts als unverhältnismäßig erachtete.[355] Die fehlerhafte sachliche Beurteilung des der angegriffenen Verwaltungsmaßnahme zugrunde liegenden Sachverhalts führte zu deren Nichtigkeitserklärung, da sie auf der Grundlage „einer offensichtlich unangemessenen, irrtümlichen und in Bezug auf den Sachverhalt unverhältnismäßigen Einschätzung“[356] erlassen worden war. Die Figur des offensichtlichen Beurteilungsirrtums ist somit ein Fall der Unverhältnismäßigkeit bzw. der Nichtvertretbarkeit und liegt erst, aber auch nur vor, wenn die Verwaltung eine Maßnahme jenseits jeder Angemessenheit erlässt.[357] Nach Ansicht von Marc Uyttendaele hat das Gesetz vom 29. Juli 1991 über die förmliche Begründung der Verwaltungsmaßnahmen dem Staatsrat die Möglichkeit eröffnet, die Handlungen der Verwaltung intensiver zu prüfen, da dieser fortan in gründlicher – und übertriebener – Weise die Begründung überprüft.[358] Der allgemeine Verhältnismäßigkeitsgrundsatz – ein Grundsatz an der Schnittstelle zwischen Rechtmäßigkeits- und Zweckmäßigkeitskontrolle – wird vom Staatsrat insgesamt jedoch mit Zurückhaltung gehandhabt.

cc) Prüfungskriterien

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Der Staatsrat überprüft die angegriffene Verwaltungsmaßnahme auf seine Rechtmäßigkeit. Dabei kann die formelle von der materiellen Rechtsmäßigkeitsprüfung unterschieden werden

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Die angegriffene Maßnahme ist formell rechtmäßig, wenn die Behörde für diese zuständig war und dabei die durch Gesetz oder Rechtsverordnung vorgeschriebenen Formvorschriften, deren Verletzung zur Nichtigkeit der Maßnahme führt, eingehalten wurden.[359] Die Prüfung der formellen Rechtmäßigkeit erstreckt sich zum einen auf Verstöße gegen die von Art. 14bis Abs. 1 KGSR als wesentlich angesehenen formalen Voraussetzungen, wie die Pflichten „zur Abstimmung, zur Einbeziehung und zur Übermittlung von Informationen, zur Einholung von Stellungnahmen und Vereinbarungen und zur Würdigung von gleichlautenden Stellungnahmen und gemeinsamen Vereinbarungen“ (concertations; associations, transmissions d’informations, avis, avis conformes, accords, accords communs)[360], und zum anderen auf sonstige Verstöße, die als so schwerwiegend betrachtet werden, dass sie eine Nichtigkeitserklärung der Maßnahme rechtfertigen. Eine wesentliche Formvorschrift ist etwa die Pflicht der Regierung, vor der Ausarbeitung einer Rechtsverordnung ein Gutachten der Gesetzgebungsabteilung des Staatsrates einzuholen, da „die Einholung eines Gutachtens des Staatsrates auf die Erwägung des Verfassungsgebers zurückzuführen ist, den Rechtsstaat zu schützen und die inhaltliche und formale Qualität der Gesetze und damit die Rechtssicherheit zu wahren; […] ein Verstoß gegen diese Formvorschrift ist [somit] von Amts wegen zu prüfen.“[361] Allerdings bestimmt Art. 14bis Abs. 2 KGSR, dass „natürliche und juristische Personen, mit Ausnahme des Staates, der Gemeinschaften, der Regionen und der Gemeinsamen Gemeinschaftskommission die Verletzung der [in Abs. 1] erwähnten Formvorschriften nicht geltend machen“ können.

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Die materielle Rechtmäßigkeitsprüfung bezieht sich dagegen auf die inhaltliche Begründung der Verwaltungsmaßnahme. Eine Maßnahme ist materiell rechtswidrig, wenn sie inhaltlich gegen eine höherrangige Norm verstößt. Darunter fällt auch ein offensichtlicher Beurteilungsfehler.[362]

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Eine Nichtigkeitserklärung ist grundsätzlich einfacher aufgrund formeller Rechtswidrigkeit zu erwirken als wegen materieller Rechtswidrigkeit, da letztgenannte eine inhaltliche Prüfung der von der Behörde im Rahmen ihres Beurteilungsspielraums vorgenommenen Würdigung des Sachverhalts erfordert. Aufgrund dieses behördlichen Spielraums ist die Kontrolldichte in einem solchen Fall erheblich geringer.[363]

b) Das Urteil

aa) Entscheidungsarten

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Im Rahmen eines Aussetzungsantrags kann die Aussetzung des Vollzugs der angegriffenen Maßnahme für die Zukunft beantragt werden.[364]

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Im Rahmen einer Nichtigkeitsklage[365] kann der Staatsrat die angegriffene Verwaltungsmaßnahme aufheben. Er kann ferner, sofern dies möglich ist, einen rechtswidrigen Teil der Maßnahme abtrennen und nur diesen für nichtig erklären. In einem solchen Fall ist das Urteil eher als eine „Abänderung“ der Maßnahme anzusehen. Bestand die Rechtswidrigkeit lediglich in der Nichteinhaltung einer Formvorschrift, sah Art. 38 KGSR in Folge der Reform von 2014 ursprünglich die Möglichkeit vor, diesbezüglich ein Zwischenurteil zu treffen. In diesem konnte die Verwaltung aufgefordert werden, die angegriffene Maßnahme so abzuändern, dass sie den formalen Anforderungen genügte. Das Zwischenurteil gab hierbei sowohl die erforderlichen Änderungen als auch eine Frist vor, in der diese vorzunehmen waren. Damit wurde ein aus den Niederlanden bekanntes Heilungsverfahren aufgegriffen, das im Französischen als „boucle administrative“ (wörtlich: „Verwaltungsschleife“) bezeichnet wird (auf Niederländisch: „bestuurlijke lus“). Die parlamentarischen Unterlagen führten näher aus, dass „[d]as Zwischenurteil […] so genau wie möglich auf[zeigt], auf welche Art und Weise der Verstoß zu heilen ist. In diesem Fall teilt die betroffene Behörde dem Verwaltungsrichter umgehend mit, ob sie die Möglichkeit, den besagten Verstoß zu heilen oder heilen zu lassen, wahrzunehmen gedenkt. […] Das abschließende Urteil zu der ursprünglichen Klage ergeht anschließend gegen die fehlerhafte und im weiteren Verlauf berichtigte (oder nicht berichtigte) Verwaltungsmaßnahme.“[366] Die „boucle administrative“ fand keine Anwendung, wenn der Formfehler nicht binnen einer Frist von drei Monaten behoben werden konnte (es sei denn, die Behörde wies nach, dass eine solche Behebung binnen einer angemessenen Frist erfolgen konnte), wenn die (eigene) Entscheidungsbefugnis der beklagten Behörde für die Heilung nicht ausreichte, wenn die beklagte Behörde ausdrücklich die Anwendung des Heilungsverfahrens ablehnte oder wenn die Heilung der betroffenen Verwaltungsmaßnahme für einen Abschluss des laufenden Gerichtsverfahrens ohnehin nicht genügte. Bei erfolgreicher Heilung der Verwaltungsmaßnahme durch die Behörde wurde die Nichtigkeitsklage abgewiesen, da die Verwaltungsmaßnahme nunmehr mit rückwirkender Wirkung als gesetzeskonform galt. Mit Urteil vom 8. Mai 2014 hat der Verfassungsgerichtshof das Heilungsverfahren, das im Rahmen der Klagen vor dem „Rat für Genehmigungsstreitsachen“ (einem vom flämischen Raumordnungsgesetzbuch geschaffenen flämischen Verwaltungsgericht) vorgesehen war, für verfassungswidrig erklärt.[367] Zur selben Schlussfolgerung kam der Verfassungsgerichtshof auch in seinem Urteil vom 16. Juli 2015 zum Heilungsverfahren auf Bundesebene im Rahmen der Nichtigkeitsklage vor dem Staatsrat:[368] Ein solches Heilungsverfahren verstoße gegen den Grundsatz der Unabhängigkeit sowie den Grundsatz der Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit des Richters und damit gegen Grundsätze, die nach der Auffassung des Verfassungsgerichtshofes gemeinsam mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung „das Grundwesen des Rechtsstaates“ ausmachen.

bb) Möglichkeiten der Beurteilung der vom Kläger vorgebrachten Klagegründe

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Der Staatsrat kann die vom Kläger vorgebrachten Klagegründe für zulässig oder unzulässig erklären.[369] Im letztgenannten Fall ist der Klagegrund entweder in tatsächlicher Hinsicht unbegründet, weil er auf einer irrtümlichen Annahme in Bezug auf den Sachverhalt[370] oder einer nicht nachgewiesenen Behauptung[371] beruht, oder „für die Lösung des Rechtsstreites unerheblich [ist]“.[372] Es kann auch vorkommen, dass der vorgetragene Klagegrund nicht in den Zuständigkeitsbereich der Verwaltungsgerichtsbarkeit fällt.

cc) Weitere Möglichkeiten der Behandlung einer Klage

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Der Staatsrat kann ferner eine Wiederaufnahme der Verhandlung beschließen,[373] die Rechtssache an das Plenum überweisen,[374] eine Frage im Vorabentscheidungsverfahren dem Verfassungsgerichtshof, dem EuGH oder dem Benelux-Gerichtshof vorlegen,[375] eine Sache aus der Gerichtsterminliste streichen lassen,[376] das Verfahren aussetzen[377] oder feststellen, dass eine Klage gegenstandslos geworden ist.[378]

c) Rechtsfolgen der Entscheidung

157

Urteile des Staatsrates sind gem. Art. 37 Abs. 1 VVerwSSRE vollstreckbar.

158

Die Aussetzung der Vollziehung einer Verwaltungsmaßnahme im Zug eines Aussetzungsantrags soll den Eintritt eines Schadens verhindern, der bei ihrer weiteren Durchsetzung entstanden wäre. Damit verfolgt sie den Zweck, „die tatsächliche Wirksamkeit einer möglicherweise im weiteren Verfahren erfolgenden Nichtigkeitserklärung zu wahren“[379].

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Die Nichtigkeitserklärung einer Verwaltungsmaßnahme hebt sie mit Wirkung erga omnes und ex tunc für alle Bürger auf.[380] Es handelt sich um die „Feststellung“ einer ab initio bestehenden Nichtigkeit,[381] die sich auch auf andere Maßnahmen erstrecken kann, die auf der Grundlage der nichtigen Verwaltungsmaßnahme erlassen wurden.

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Art. 14ter KGSR bestimmt allerdings, dass die Verwaltungsstreitsachenabteilung „[a]uf Antrag einer beklagten oder beitretenden Partei, und wenn [sie] es für nötig erachtet, […] diejenigen Wirkungen der für nichtig erklärten individuellen Maßnahme oder im Wege einer allgemeinen Verfügung diejenigen Wirkungen der für nichtig erklärten Verordnungen an[gibt], die als endgültig zu betrachten sind oder die für eine von der Verwaltungsstreitsachenabteilung festgelegte Frist vorläufig aufrechterhalten werden. [Dies] kann nur aus außergewöhnlichen Gründen, die einen Eingriff in das Legalitätsprinzip rechtfertigen, durch eine besonders begründete Entscheidung und nach einer kontradiktorischen Verhandlung angeordnet werden. Dabei können die Interessen Dritter berücksichtigt werden.“ Diese aus Gründen der Rechtssicherheit[382] aufgenommene Vorschrift erweitert die bereits seit 1996[383] in Bezug auf die Rechtswirkung von Verordnungen bestehende Möglichkeit, auf Antrag der beklagten oder einer beigetretenen Partei die Rechtsfolgen der Nichtigkeitserklärung zu modifizieren.[384] Die Vereinbarkeit der Regelung mit Art. 10, 11 und 13 i.V.m. Art. 159 Belg. Verf. war Gegenstand einer Vorlagefrage an den Verfassungsgerichtshof (in der deutschsprachigen Rechtsterminologie in Belgien wird hierfür meist der Begriff „präjudizielle Frage“ verwendet). Es wurde teilweise kritisiert, dass Art. 14ter KGSR eine Abweichung von dem von Art. 159 Belg. Verf. geschützten Grundsatz bedeute bzw. ermögliche, dass die Maßnahmen der Verwaltung rechtmäßig sein müssen. Der Verfassungsgerichtshof hat dem Gesetzgeber jedoch „eine angemessene Abwägung zwischen der Notwendigkeit, jede rechtswidrige Situation zu bereinigen, und der Sorge, nach Ablauf einer gewissen Zeit bereits bestehende Rechtspositionen und begründete Erwartungen nicht mehr zu gefährden“, zugestanden. Die Ungleichbehandlung in Bezug auf die Inzidentkontrolle der Gesetzesmäßigkeit nach Art. 159 Belg. Verf. hat er für angemessen erachtet.[385]

 

161

Neben der Nichtigkeitserklärung kann der Staatsrat verschiedene Nebenmaßnahmen treffen, insbesondere Vollzugshilfe und Anordnungen. Dabei ist auch die Verhängung eines Zwangsgeldes möglich,[386] was vom Verfassungsgerichtshof als zulässig erachtet wurde: „Das Zwangsgeld stellt ein Zwangsmittel dar, um die Vollstreckung einer gerichtlichen Entscheidung, aus der eine Verpflichtung zu einem Tun, Unterlassen oder Aushändigen folgt, zu erlangen. Das Recht auf tatsächliche Vollstreckung der Urteile der Gerichte stellt eines der wesentlichen Merkmale eines Rechtsstaates dar.“[387] Vor Inkrafttreten des Gesetzes vom 20. Januar 2014 war das Zwangsgeld nicht an den Kläger zu leisten, sondern floss an einen Fonds für die Verwaltung von Zwangsgeldern, welcher der Modernisierung der Verwaltungsrechtsprechung gewidmet war. Seit der Gesetzesnovelle von 2014 kommt es zur Hälfte dem Kläger, zur anderen Hälfte der Staatskasse zugute.

162

Seit der Änderung von Art. 144 Belg. Verf. im Jahr 2014 kann dem obsiegenden Kläger – wie bereits ausgeführt – eine Entschädigung für einen erlittenen Schaden unmittelbar durch den Staatsrat[388] zugesprochen werden, ohne dass er dafür vor den ordentlichen Gerichten eine Schadensersatzklage nach Art. 1382 Zivilgesetzbuch (Code civil – Burgerlijk wetboek) erheben muss.[389] Dabei hängt die Möglichkeit der Gewährung einer Entschädigung nicht zwangsläufig von der Nichtigkeitserklärung der angegriffenen Maßnahme ab, sondern von deren Rechtswidrigkeit.[390] Der Antrag auf Entschädigung muss binnen einer Frist von 60 Tagen nach Zustellung des Urteils gestellt werden, das die Rechtswidrigkeit der Verwaltungsmaßnahme feststellt. Der darauf folgende Beschluss des Staatsrates muss dann innerhalb von zwölf Monaten nach Zustellung des (ursprünglichen) Urteils ergehen. Bei ihrer Entscheidung über das Entschädigungsgesuch hat die Verwaltungsstreitsachenabteilung alle Umstände des Sachverhalts in Betracht zu ziehen, um „ein Gleichgewicht zwischen der klagenden und der beklagten Partei zu bewahren, insbesondere da die beklagte Partei nicht die Wahl der Verfahrensart hat“[391]. Das Verfahren über Entschädigungsanträge folgt dem Grundsatz Electa una via, non datur recursus ad alteram: Hat der Kläger einen Antrag gestellt, kann er keine Klage mehr mit derselben Begründung vor den ordentlichen Gerichten erheben.

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Weist der Staatsrat eine Klage ab, hat dieses Urteil Rechtskraft und Bindungswirkung inter partes. Die ordentlichen Gerichte vertreten allerdings nach wie vor die Auffassung, dass eine zurückweisende Entscheidung des Staatsrates sie nicht daran hindert, eine vom Verwaltungsrichter als gesetzmäßig angesehene Verwaltungsmaßnahme ihrerseits für rechtswidrig zu erklären.[392]