2050

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Einsame Sterne

Nikita Vasilchenko

»Die Erde wird sterben.«

Norman Blum schaute durch ein kleines Fenster im Shuttle auf den Blauen Planeten. Seine Frau Stephanie saß neben ihm. Beide waren auf dem Weg zur Raumstation NX-47. Der großartige Anblick der Sterne, der Planeten und der Endlosigkeit der Galaxis raubte ihnen jedes Mal den Atem, obwohl sie es schon so oft gesehen hatten. Gleichzeitig waren sie traurig. Die Milchstraße, ihre eigene Galaxie, würde nie wieder dieselbe sein. Die Zukunft des Planeten lag in den Händen einiger weniger Piloten. Piloten wie Norman und Stephanie. Einem Paar, das seinen einzigen Sohn hatte zurücklassen müssen, um sich auf eine Mission zu begeben, die möglicherweise ihr Schicksal besiegelte.

Stephanie schaute zu Norman und nahm seine Hand. Er wandte seinen Blick von den Sternen ab, um seiner Frau in die Augen zu sehen. Eins war hellblau, das andere grün. Die schönste Mutation, die er jemals gesehen hatte.

»Darum suchen wir eine neue.« Ihre sanfte Stimme konnte Norman immer beruhigen.

Sie und ihr Sohn David waren alles, was er hatte. Er bereute schon, dass er ihn zurückgelassen hatte. David war zwei Jahre alt und wenn ihre Mission erfolgreich sein sollte, würden sie ihn erst wiedersehen, wenn er erwachsen war.

Die anderen würden ihm erzählen, dass seine Eltern Helden seien, auf der Suche nach einem neuen Zuhause, aber das würde ihm nicht reichen. Er würde sie immer dafür hassen, dass sie ihn verlassen hatten. Es wären nur Monate, bis Norman und Stephanie wieder auf ihren Sohn treffen. David würde seine ganze Kindheit lang auf das Wiedersehen warten müssen.

»Autorisation erhalten. Fertig machen zur Landung, Shuttle Nr. 60877.«

Stephanie wandte sich von Norman ab und navigierte zu den Docks.

»Verstanden NX-47. Fertig zur Landung.«

Norman lehnte sich zurück und sah zu, wie sich das Tor zum Hangar öffnete.

Sie waren nun auf der Raumstation. Der erste Schritt war getan.

Das Paar stand vor General Richards in dessen Büro. Ein ausladender Tisch mit Trophäen und Papierkram trennte sie voneinander. Hinter ihnen befand sich ein großes Fenster mit dickem Glas, das die Menschen drinnen vor der Kälte des Alls schützte.

»Sie können sich überhaupt nicht vorstellen, wie dankbar wir für Ihren Einsatz sind.«

Richards war mindestens doppelt so alt wie Norman und das sah man ihm definitiv an. Nicht nur sein Alter war sichtbar, sondern auch die Narben, die er sich im Krieg geholt hatte.

»Und seien Sie unbesorgt. Wir werden uns um Ihren Sohn kümmern. Ich verspreche es.«

Die Eltern nickten ihm zu. Aufgrund seines Alters und seiner Verletzungen konnte der General nicht allzu lange stehen. Er atmete tief durch und setzte sich in seinen Sessel.

»Sehen Sie. Das war Ihre Idee, Ihre Vision, Ihr Traum von Anfang an. Wie Sie sagten, alles ist blanke Theorie. Ich weiß nicht, ob Sie lebend da durch kommen werden. Ich weiß bloß, dass dieser ›Kepler‹-Planet unsere einzige Chance ist, bevor die Invasoren kommen und hier alles den Berg runter geht. Unsere einzige Chance auf eine neue Heimat. Die Berichte der anderen Piloten waren alle negativ. Es gibt keine bewohnbaren Planeten, auf denen die Menschheit langfristig überleben könnte. Somit sind Sie beide und Kepler unsere letzte Hoffnung. Ich zähle auf Sie. Ich und die ganze Menschheit.«

»Wir werden Sie nicht im Stich lassen, Sir.«

Stephanie antwortete dem General, während Norman schwieg. Richards sah zu dem Piloten hinüber, in der Hoffnung, dass dieser ihm dasselbe Versprechen geben würde. Doch Norman mied den Blickkontakt mit dem General.

»Start in 30 Minuten.«

Die KI-Stimme ertönte durch die Raumstation.

Richards sah Norman noch ein paar Sekunden länger an, bis dieser schließlich nickte.

Das »BLUM-Shuttle« war vollgetankt und für das Paar bereit. Norman und Stephanie setzten sich ins Cockpit und bereiteten alles für einen erfolgreichen Start vor. Richards und einige Wissenschaftler standen hinter einer Schutzscheibe und betrachteten das Shuttle. Das Paar legte seine Sicherheitsgurte an und machte es sich auf den Pilotensitzen so bequem wie möglich. Kleine Röhren waren mit ihren Armen verbunden, die sie für die nächsten Jahre am Leben halten würden. Ihr Schlaf würde gleich beginnen. Noch einmal ergriff Stephanie Normans Hand. Aber diesmal war ihr Griff anders. Nicht sanft, sondern hart.

»Fünf.«

Norman hatte das Gefühl, sein Herz würde ihm in den Magen rutschen. Er hasste dieses Gefühl.

»Vier.«

Der Start war der Teil, den er am wenigsten mochte. Er liebte die sanfte Bewegung des Raumschiffes im All, aber alles andere machte ihm Angst.

»Drei.«

»Norman?«

»Zwei.«

»Ja?«

»Eins.«

»Ich will nach Hause.«

Norman sah seine Frau an.

»Start.«

Das Paar wurde in die Sitze gepresst. Die Sterne und Planeten ringsherum wurden zu weißen Pfeilen und Blitzen, als das Shuttle mit Lichtgeschwindigkeit an ihnen vorbeiflog. Die blaue Kryo-Flüssigkeit aus den Röhrchen verteilte sich in den Venen der Piloten. Es dauerte nicht lange, da schliefen beide Hand in Hand ein.

Es war nur ein Blinzeln für Norman und Stephanie, aber auf dem Planeten, den sie verlassen hatten, waren Jahre vergangen. Beide öffneten ihre Augen zur selben Zeit. Das Shuttle hatte sie weit genug gebracht und in der Ferne konnten sie das Tor zu einer anderen Welt sehen. Sie waren noch Millionen Meilen entfernt, aber sie konnten ihr Ziel klar und deutlich erkennen: das Schwarze Loch. Die dunkle Energie war umgeben von den Überbleibseln von Planeten und ganzen Galaxien. Alle Farben waren vertreten. Pink, Gelb, Blau; aber eine Farbe war am präsentesten: Orange. Eine große Lichtsäule ging mitten durch die riesige schwarze Masse. Stephanie und Norman konnten weder den Anfang noch das Ende der Säule sehen. Er streckte sich und fing an, die Displays zu checken. Seine Frau jedoch konnte nicht aufhören, das Phänomen zu betrachten. Norman schaltete den Autopiloten aus und packte den Steuerknüppel. Er hielt ihn so ruhig, wie er konnte. Bei diesem Anblick fiel ihm der Spitzname ein, den ein Wissenschaftler namens Evan Moore dem Wurmloch gab.

»Wir befinden uns schon in dem Gravitationsfeld. Ich hätte nie gedacht, dass wir dem Herzen der Finsternis je so nahe kommen würden.«

Je mehr sie sich dem Schwarzen Loch näherten, umso schwieriger wurde es, das Shuttle zu kontrollieren.

»Steph. Zieh deinen Anzug an. Ich habe das Gefühl, es wird eine Notlandung werden.«

Stephanie schaute immer noch nach vorn, Normans Worte ignorierend.

»Stephanie?«

Sie erwachte aus ihrer Trance, nickte und machte sich auf den Weg zu dem Raum im hinteren Teil des Shuttles, wo vier Anzüge hingen. Sie schlüpfte in einen hinein. Erst war er ihr zu groß, aber dann passte er sich ihrem Körper an. Er war wie eine zweite Haut. Sie nahm den Helm unter den Arm, zog ihre Erkennungsmarken hervor und kehrte zu Norman zurück.

»Los.«

Während Norman seinen Anzug anlegte, betrachtete Stephanie weiter die Finsternis vor ihr. Er kam mit einem Foto ihres Sohnes zurück.

»Norman?«

»Ja?«

Sie schauten weiter nach vorne.

»Stört es dich, dass ich diesen Anblick so sehr liebe?«

Nun drehte sich Norman zu seiner Frau, die genau in das schwarze Auge starrte. Er legte das Foto beiseite und antwortete nicht. Im Moment hatte er andere Dinge im Kopf.

»Was, wenn es zu spät ist?« Stephanie blickte immer noch nach vorne. »Fünfzehn Jahre sind keine lange Zeit. Was ist, wenn wir kein neues Zuhause finden können?«

Plötzlich begann das Shuttle zu vibrieren. Die Gravitation des Wurmlochs wurde stärker. Sie flogen weiter darauf zu, bis die Elektronik versagte und sie von der Kraft des Schwarzen Lochs eingesogen wurden. Das Licht eines weit entfernten Sterns erlosch und die beiden fanden sich in totaler Finsternis wieder. Ein kalter Schauer lief Norman den Rücken hinunter, gefolgt von Gänsehaut und Tränen. Dieses Gefühl. Beunruhigend. Verstörend. Sie konnten nichts hören. Sie befanden sich in totaler Stille und Finsternis. Es war nicht ganz das, was sie erwartet hatten. Es war nicht viel anders, als wenn ihr Shuttle in der Schwerelosigkeit des Alls schweben würde.

»Dada!«

Eine kindliche Stimme ertönte hinter Stephanie und Norman. Beide reagierten nicht. Absichtlich.

»Mama! Dada!« Langsam drehte Norman den Kopf nach rechts und hielt den Atem an.

Ihr Sohn David saß auf der anderen Seite des Cockpits und lächelte sie an. Ein süßes, unschuldiges Lächeln. Norman drehte seinen Kopf nach vorn und blickte in die Finsternis.

»Du siehst ihn auch, oder?« Norman nickte vorsichtig. Stephanies Augen wurden nass.

»Norman. Ich habe Angst. Ich habe Angst, meinen Sohn anzusehen.«

»Mama!« Norman antwortete ihr leise.

»Ich auch.«

Beide schauten weiter geradeaus, als sie hörten, wie David auf sie zu krabbelte.

»Ich habe mein Leben lang auf die Wissenschaft vertraut. Ich glaube nicht an Übernatürliches oder an eine höhere Macht, die von oben auf uns herabsieht. Aber eines weiß ich mit Sicherheit.«

Stephanie schaute zu ihrem Mann hinüber. Er bewegte sich in ihrem Augenwinkel. Wie ein Schatten, der immer näher kam. Ein sehr kleiner Schatten. Der Schatten ihres Sohnes. Eine Träne rannte über Stephanies Wange, als Norman weitersprach.

 

»Es gibt Orte, an denen wir nicht sein sollten. An denen kein Mensch sein sollte.«

»Mama! Dada!« David krabbelte schneller. Stephanie weinte. Norman nahm ihre Hand.

»Egal, was passiert, dreh dich nicht um.« David würde sie jede Sekunde erreichen.

Beide schlossen ihre Augen und drückten sich tiefer in ihre Sitze, als das Krabbeln plötzlich aufhörte. Eine weitere Minute lang wagten sie nicht, sich zu bewegen, dann öffneten sie die Augen. Schweiß lief ihnen die Stirn hinab. Vorsichtig drehte Norman sich um und sah den leeren Bereich hinter ihnen. David war fort. Die Gänsehaut verschwand und er beruhigte sich.

»Norman.« Stephanie flüsterte. Norman sah sie an und sein Herz begann von Neuem heftig zu schlagen. David kletterte auf Stephanies Schoß und spielte mit den Erkennungsmarken an ihrem Hals.

»Norman.« Eine weitere Träne lief über ihre Wange. »I… Ich kann seine Hände spüren. Sein Gewicht auf meinem Schoß. Warum passiert das?«

Norman konnte sich nicht rühren. Seine Hände waren kalt und nass.

»Ich weiß es nicht. Es tut mir leid.«

Plötzlich stürzte das Shuttle ab. Als würde ein Stein von einer Klippe hinuntergeworfen werden. Norman und seine Frau wurden nach oben gedrückt, aber die Gurte hielten sie in ihren Sitzen. Adrenalin schoss durch ihre Körper. Es drehte ihnen die Eingeweide um und beide verspürten einen heftigen Brechreiz. Sie schrien und hofften auf ein schnelles Ende, aber egal wie laut sie waren, sie konnten das Weinen ihres Sohnes nicht übertönen.

Norman schnappte noch einige Augenblicke nach Luft, bevor er wieder normal zu atmen begann. Er lag auf dem Rücken und sah in den weißen Himmel über ihm. Das Letzte, woran er sich erinnern konnte, war das abstürzende Shuttle. Er konnte Meeresrauschen hören und nahm einen komischen Geruch wahr. Er war nicht eklig, nur undefinierbar. Norman erhob sich und schaute geradeaus. Dieser Ort sah aus wie ein Strand. Der Sand hatte eine dunkelblaue Farbe und die Dünen, die sich vor ihm erstreckten, schienen unendlich. Norman berührte den blauen Sand. Er konnte ihn durch die Handschuhe hindurch nicht fühlen, aber er sah genauso aus wie der Sand auf der Erde. Dieselbe körnige Struktur. Dann betrachtete er das Meer zu seiner Linken. Es war weiß. Weiß wie Milch und weiß wie der Himmel über ihm. Dann sah er es. Er sah ihr Shuttle im Wasser treiben und es sank.

»Steph!« Er rannte zum Wasser, sprang hinein und schwamm, so schnell er konnte.

Das Shuttle war jetzt komplett unter Wasser. Norman atmete tief ein und tauchte ab. Zu seiner Überraschung konnte er in dem weißen Meer gut sehen. Die Tür fehlte und die Flüssigkeit füllte bereits das ganze Raumschiff aus.

Er schwamm hinein und weiter zu seiner Frau, die immer noch an den Sitz gegurtet war. Sie sanken immer schneller. Er durchschnitt den Gurt, packte sie und bewegte sich zum Ausgang. Für einen Moment dachte er, er hätte Davids kleinen Körper im Cockpit gesehen. Er war sich nicht sicher und wollte es auch nicht herausfinden. Er drückte sich vom Shuttle weg und versuchte mit Stephanie in seinen Armen, an die Oberfläche zu gelangen.

Während er sie hielt, sah er hinab auf den Meeresgrund. Seine Augen weiteten sich, als er erkannte, was da unten lag. Etwas, das er nicht erklären konnte. Das Shuttle war auf anderen Raumschiffen gelandet. Da waren Tausende und sie bedeckten bereits den ganzen Meeresboden. Manche sahen alt und zerstört aus, während andere genau ihrem eigenen Shuttle glichen. Dann sah Norman es, er sah die Ähnlichkeit all dieser Raumschiffe. Alle hatten den Name BLUM auf der Seite aufgedruckt. Jedes einzelne davon war ihr Shuttle.

Als wären er und seine Frau hier schon früher gelandet. Mehr als ein Mal. Es spielte keine Rolle, was hier passierte oder was sich im Inneren der Shuttles auf dem Meeresgrund befand. Er musste seine Frau retten.

Norman brauchte Luft, er war schon viel zu lange unter Wasser. Er drückte Stephanie an seine Brust und schwamm auf das Licht zu. Als sie endlich an der Oberfläche waren, rang er nach Luft. Er legte sie auf den blauen Sand und fing an, auf ihre Brust zu drücken.

»Eins. Zwei. Drei.« Er legte seinen Kopf auf ihre Brust und hoffte auf einen Herzschlag. Nichts passierte und er versuchte noch einmal, sie zurück ins Leben zu holen. Er öffnete ihren Mund, presste seine Lippen an ihre und blies hinein.

»Bitte. Bitte, wach auf!« Nichts passierte, so sehr er es auch versuchte. Er fing an zu weinen. »Bitte!«

Nichts. So sehr er sie auch retten wollte. So sehr er es versuchte. Es gab keine Hoffnung mehr. Die Gravitation, der Sturz oder die Flüssigkeit hatte sie getötet. Norman nahm den Leichnam in seine Arme und küsste sie auf die Stirn. Sein Körper zitterte, seine Brust schmerzte. Er schloss seine Augen.

»Steph. Es tut mir leid.«

Die Tränen auf Normans Wangen waren getrocknet. Seine Frau hielt er nach wie vor in den Armen. Sein Blick war in die Ferne gerichtet. Hinter ihm war das Meer und vor ihm ein meilenlanger Strand mit einem Wald. Wenigstens waren die Bäume grün, das Einzige auf diesem Planeten, das Norman an seinen Heimatplaneten erinnerte. Er glaubte nicht, dass dieser Planet zur neuen Heimat der Menschheit werden würde. Doch er hoffte trotzdem, dass Stephanie nicht umsonst gestorben war. David wartete auf die Rückkehr seiner Eltern. Die komplette Menschheit wartete auf ihr Zeichen. Er musste sie wissen lassen, ob dieser Ort bewohnbar war oder nicht. Er hörte auf, darüber nachzudenken, als er den Leichnam eines kleinen Kindes nicht weit von ihm entdeckte. Er betrachtete die Leiche von Nahem. Es war David.

»Ach, komm …« Ironie lag in Normans Stimme, als er sich umdrehte und wieder zum Wald schaute.

Er hatte jetzt nur eine einzige Aufgabe: Er musste überleben. Vielleicht würden die anderen ihnen folgen und auch wenn er Jahre auf ihre Ankunft warten müsste, hatte er im Moment keine andere Option. Noch einmal betrachtete er David und sah einen weiteren kleinen Körper, nicht weit entfernt. Er war irritiert. Irritiert und schockiert von dem Anblick. Sanft bettete er Stephanie auf den Sand, erhob sich und ging zu dem Leichnam. Es war zu schmerzvoll für ihn, den Kleinen direkt anzusehen. Der Tod des eigenen Kindes, war einer seiner schlimmsten Albträume. Er ging zur nächsten Leiche und sah, dass es dasselbe kleine Kind war. Zwei Davids? Norman wusste nicht mehr, was er glauben sollte. War er wirklich auf diesem Kepler-Planeten? War das die Hölle? Er dachte weiter darüber nach, als er an der zweiten Leiche vorbeilief und dann weitere tote Kinder sah. Es war eine Leichenspur, die sich den Strand entlangzog. Er betrachtete jede einzelne Leiche. Es war David. Zehn. Zwanzig. Dreißig. Er folgte der Spur, bis er stehen blieb, in den Sand fiel und zu erbrechen versuchte. Es kam nichts aus seinem Körper heraus, sein Magen war leer. Vor ihm lag ein Leichenhaufen. Hunderte Körper.

»Was? Warum?« Norman stand auf und schrie. »Warum? Was zur …?«

Norman trat einige Schritte zurück und schaute aufs Meer. Der Gestank war schrecklich. Es stank nach verdorbenem Fleisch und Tod. Nichts ergab Sinn, nichts davon. Die Wellen berührten seine Schuhe und als sie sich zurückzogen, legten sie einen menschlichen Schädel frei, der im Sand begraben gewesen war. Norman schaute auf den Schädel. Was geschah hier? Er wusste nicht, wo er war, aber es war nicht der Kepler-Planet, den sie suchten. Er konnte es nicht sein.

Norman wurde bewusst, dass er in seinem ganzen Leben noch nie so einsam war. Er war ganz allein auf diesem Planeten. Einem Planeten mit blauem Sand, einem weißen Meer und Luft zum Atmen. Er wandte sich um und wollte zu seiner Frau zurückkehren, als er plötzlich jemanden in der Ferne entdeckte. Er konnte nicht erkennen, wer es war. Es war eine Silhouette. Die Silhouette eines Mannes. Komplett dunkel und in schwarz gekleidet. Wie ein Schatten.

»Hey!« Norman schrie und rannte auf die Person zu. »Hey, helfen Sie mir! Bitte!« Norman rannte, so schnell er konnte, aber die Person kam nicht näher.

Er blieb stehen und die Silhouette bewegte sich auf den Wald zu. Aber ihr Gang passte nicht zur Geschwindigkeit. Es war, als würde sie auf den Wald zu rennen, aber sie bewegte ihre Füße kaum. Der Anblick war verstörend. Normans Gehirn konnte nicht verstehen, was er sah. Die Person lief nicht, sie schwebte oder flog eher auf das Meer aus Bäumen zu. Spielte sein Gehirn ihm einen Streich nach all dem, was er gesehen hatte?

Wer auch immer dieser Mann war, er war der Einzige, abgesehen von Norman, auf diesem Planeten. Die Person verschwand im Wald und Norman folgte ihr. Als er den Strand verließ, konnte er etwas hinter sich hören. Er drehte sich um, um die Quelle des seltsamen Geräuschs auszumachen. Eine riesige Kreatur kam aus dem weißen Wasser. Sie sah aus wie ein Buckelwal, aber ihre Augen waren totenbleich und Narben bedeckten ihren gesamten Körper. Das Monster hatte winzige Arme und Beine, so winzig, dass es eigentlich keine Chance hatte, aus dem Wasser herauszukommen.

Dieses Ding wollte fressen und all die kleinen Davids waren die perfekte Beute. Es fing an, den Leichenberg zu verschlingen, und färbte den blauen Sand rot. Normans Herz schlug so wild, dass er Angst hatte, es würde jeden Moment herausspringen. Er presste seine Hand auf die Brust, schloss die Augen und drehte sich um. Er versuchte, die Geräusche auszublenden, die dieses Monster verursachte. Er bewegte sich immer schneller auf den Wald zu. Er öffnete seine Augen und rannte los, den Strand mit der Kreatur zurücklassend.

Zwischen all den Bäumen fühlte Norman sich, als wäre er zurück auf der Erde. Der Dreck unter seinen Füßen, die Blumen und Pflanzen. Sogar die Temperatur und der Geruch erinnerten ihn an den Regenwald im Amazonas. Er konnte die Person in Schwarz nicht sehen und lief ziellos zwischen den Bäumen und Büschen umher.

Er konnte nicht sagen, wie lange er durch den Wald marschiert war, aber es mussten Stunden gewesen sein. Sein vormals weißer Raumanzug war schmutzig und gräulich, als er schließlich in ein Tal voll mit Raumschiffen kam. Sie sahen uralt aus. Manche waren verrostet oder fielen auseinander. Andere hingegen sahen aus, als könnte man sie noch benutzen. Norman fiel sofort das Material dieser Raumschiffe auf. Gemacht aus einem Metall, welches nur auf dem Mars zu finden war.

Norman stand da und schaute über das Tal. Es sah aus wie ein Friedhof für Raumschiffe, vor langer Zeit verlassen. Woher kamen sie? Doch die Antwort auf seine Frage, fand er einige Momente später. Obwohl es mit Moos bedeckt war, erkannte er das Symbol an einem der Raumschiffe. Es war das Symbol der Allianz. Sie stammten nicht von Außerirdischen. Menschen hatten sie hergebracht.

Er lief zwischen den Schiffen umher und sah sich um. Hunderte von Shuttles waren hier gestrandet. Sie waren viel weiterentwickelter als sein Shuttle und so groß, dass mehrere tausend Menschen in ein einziges Schiff passten.

Plötzlich erinnerte er sich, wo er jene Raumfahrzeuge zuvor gesehen hatte. Er erinnerte sich an die Zeichnungen und Bilder von Prototypen. Norman hatte nur eine Vermutung. Sie waren wahrscheinlich gebaut worden, nachdem er und seine Frau die Erde verlassen hatten. Aus irgendeinem Grund waren sie jedoch früher als Norman und Stephanie auf dem Planeten angekommen. Viel früher.

Er sah sich weiter im Inneren der Shuttles um, auf der Suche nach Antworten, aber er fand nur Pflanzen und Skelette darin. Die Schiffe aus dem Mars-Metall waren in einem viel besseren Zustand. Vielleicht waren ihre Brennstoffzellen stark genug, so dass er eins davon nehmen und von diesem Planeten fliehen konnte.

Er lief weiter zwischen den eisernen Riesen umher und fand ein viel kleineres Shuttle mit einer Inschrift. Es war das Shuttle von einem Private Blum. Es sah nicht so stark beschädigt aus wie die anderen. Norman spähte hinein, konnte aber nur ein weiteres Skelett sehen, das einen Raumanzug trug. Er ging hinein. Er kniete nieder und sah sich die Erkennungsmarken des toten Mannes an: David Blum.

Norman setzte sich und betrachtete die Überreste. Auch auf dem Raumanzug war der Name seines Sohnes. Er war David. Er wusste nicht, was er im Shuttle oder am Strand gesehen hatte, aber dies war sein Sohn. Sein toter Sohn. Er sah auf den Schädel. In die schwarzen Augenlöcher, auf die fehlenden Zähne und dann auf seine Finger. Er hielt etwas in seiner linken Hand.

Norman berührte das merkwürdige Objekt und es schaltete sich von selbst ein. Ein holografischer Bildschirm ploppte zwischen ihm und dem Skelett seines Sohnes auf. Davids Gesicht erschien auf dem Schirm. Die Aufnahme zeigte ihn in seinen frühen Zwanzigern. Er hatte dasselbe lange braune Haar und denselben Gesichtsausdruck wie sein Vater, aber er hatte die Augen seiner Mutter. Ein blaues, ein grünes.

 

»Dad.«

Zum ersten Mal in seinem Leben hörte Norman die echte Stimme seines Sohnes. Sie klangen fast identisch.

»So viel Zeit ist vergangen. Sie kamen viel früher an als erwartet. Wir verloren den Krieg gegen die Tar´Tian und nach Jahren der Sklaverei konnten wir mit der Hilfe des Widerstandes tausende Menschen evakuierten. Die anderen Planeten waren nicht bewohnbar oder schon überrannt worden, also hatten wir keine andere Wahl, als euch zu folgen. Lieber der Tod im All, als die Sklaverei auf der Erde. Wir strandeten hier vor Monaten. Wir können hier nichts anbauen. Der ganze Ort ist verfault. Das Meer ist gefährlich und voller fleischfressender Kreaturen. Aber das Schlimmste von allem …« Es war schwer für David, darüber zu sprechen. Norman konnte es in seinen Augen sehen. »Alle Frauen starben. Sie starben bei der Notlandung. Alle Frauen und Kinder. Dein Enkel.« David hielt die Tränen zurück und fuhr dann fort. »Und dieser Mann. Der Mann im schwarzen Mantel. Es könnte Gott sein. Vielleicht haben wir ihn gefunden. Oder er ist nur ein weiterer Außerirdischer aus einer anderen Galaxis. Wir wissen es nicht. Er spricht nicht mit uns. Er hilft uns nicht. Er ist bloß da. Er sieht nur zu.«

Ein Schauer rannte Norman den Rücken hinab. Der Mann war keine Einbildung von ihm. Er war da, er war real. Er sah wahrscheinlich jetzt gerade zu und Norman konnte nichts dagegen tun.

»Es gibt nur zwei Dinge, die ich mit Sicherheit weiß. Ich weiß, dass du noch lebst. Wir haben dein Schiff nie gefunden, weil du noch nicht gelandet bist. Ich hoffe, dass dieses Video dir helfen und gleichzeitig eine Warnung sein wird. Wir haben noch ein Wurmloch gefunden. Du findest die Koordinaten im Cockpit. Einige von uns versuchten, durch das Schwarze Loch zurückzukehren, aber ich glaube, dass es niemandem gelungen ist. Ich hoffe, du hast mehr Glück. Ansonsten gibt es nichts weiter in dieser Galaxis. Keine anderen Planeten, wo wir hingehen könnten. Keine Chance zu überleben.« David nahm die Kamera runter, um die Aufnahme zu beenden, aber dann fiel ihm noch eine Sache ein. »Ich weiß nicht, warum wir hier sind. Warum wir überhaupt am Leben sind. Dieses Leben hat keine Bedeutung. Ich weiß nicht, warum wir überhaupt existieren. Seit unserer Landung habe ich alles gesehen, wozu ein menschliches Wesen in der Lage ist. Mord. Vergewaltigung. Tausende von Leichen. Tote Kinder am Strand. Die Menschheit verdient es nicht zu überleben.«

David hielt kurz inne. Sein Blick ging zuerst runter, doch dann wendete er sich wieder der Kamera zu. Ein Blick, den Norman zu deuten wusste. Der Blick eines Mannes, der mit allem fertig war.

»Also …«

David zog eine Pistole und schoss sich in den Mund.

Norman schloss die Augen und hielt seine Hand an die Stirn. Jetzt verstand er, warum hier so viele Skelette herumlagen. Der Wald musste voller Leichen sein, begraben unter Matsch und Pflanzen. Er blieb einige Minuten neben dem Skelett seines Sohnes sitzen. Was blieb ihm auch anderes übrig? Immer wieder spielte er Davids Worte in seinem Kopf ab. Norman konnte auf diesem Planeten nicht überleben, niemand könnte es. Doch was liegt da oben? Was liegt da oben jenseits des weißen Himmels? Sie alle waren gestorben, aber Norman würde hier nicht den Tod finden. Er würde eher beim Versuch, durch das Schwarze Loch zu entkommen, sterben, als sich selbst das Leben zu nehmen. Er stand auf, setzte sich nach vorne und startete das Shuttle. Obwohl das Raumschiff neu für ihn war, so verfügte es doch über denselben Steuerungsmechanismus, der beim Bau seines Shuttles verwendet wurde. Überraschenderweise hob das Raumschiff seines Sohnes ab.

Norman sah noch ein letztes Mal hinab und erblickte den Mann im schwarzen Mantel, der ihn direkt anstarrte. Er bewegte sich nicht, schien noch nicht einmal zu atmen. Er schaute nur. Norman hatte keine Ahnung, wer er war, aber falls dieses Ding wirklich Gott war, wollte er ihn für immer hinter sich lassen.

Als er weit genug oben war, konnte er das grüne Meer aus Bäumen sehen, das den Großteil des Planeten zu bedecken schien. Norman machte sich bereit für die Heimreise. Das Shuttle stieg weiter. Er flog durch den Regen und die Atmosphäre zurück ins All. Er war erleichtert, die Sterne und die Finsternis der Galaxis wiederzusehen. Hinter ihm lag der Planet, der ihm so viel Schmerz bereitet hatte. Es sah aus wie ein Planet, aber es hätte genauso gut die Hölle sein können. Er checkte die Koordinaten und brauchte nur ein paar Stunden, um das Tor zu seiner Vergangenheit zu erreichen. Er hatte noch nie einen Planeten gesehen, der so nah an einem Schwarzen Loch lag. Er konnte nicht erklären, was er da unten gesehen hatte. Was am Strand passiert war. Nichts davon sollte existieren, nichts davon war wissenschaftlich zu erklären. Doch er konnte sich nicht ablenken lassen, er musste zurückkehren.

Norman sah die vor sich liegende Finsternis und war bereit, erneut in sie einzutauchen. Egal, wer diesmal im Cockpit erschien, er würde sich nicht ablenken lassen. Er würde zur Erde zurückkehren und seinen Sohn retten. Er kam näher an das Phänomen heran, und wieder hörte das Raumschiff auf zu funktionieren, während die Gravitation ihn in die unendliche Finsternis hineinzog. Norman machte es sich auf dem Sitz bequem und schloss die Augen. Es war vollkommen ruhig und das Einzige, was er hörte, war sein eigener Herzschlag.

Nach ein paar weiteren Sekunden, Minuten oder Stunden, Norman konnte es nicht sagen, begann das Shuttle zu vibrieren. Das Schiff flog hoch. Norman wurde in seinen Sitz gedrückt. So viele unbeantwortete Fragen kreisten in seinem Kopf herum. Warum war sein Sohn im Shuttle? Warum hatte er sich nicht selbst getroffen, wenn da so viele Shuttles auf dem Meeresgrund lagen?

So sehr er es auch versuchte, er würde nie eine Erklärung für all das, was passiert war, finden. Er schloss seine Augen und verstand, dass er keinen Einfluss hatte auf das, was in den nächsten Minuten geschehen würde. Entweder würde er überleben oder hier sterben. Manchmal war es so einfach.

Norman erwachte und bemerkte neben einem schrillen Geräusch ein rotes Licht über seinem Kopf. Er schaute nach vorn und sah den Mond. Den Erdenmond. Er war überglücklich, etwas Bekanntes zu sehen, aber ihm war klar, dass er schnell handeln musste. Er betätigte die Notbremse und versuchte, das Shuttle zu verlangsamen. Aber es war zu spät, er war schon zu nah an der Mondoberfläche. Das Schiff krachte auf den Boden und prallte leicht ab, knallte erneut auf den Boden und prallte wieder ab. Schnell betätigte Norman die Gravitationsanlage des Schiffes. Er klappte das Fahrwerk aus und das Shuttle setzte schließlich auf der Oberfläche auf. Er atmete tief durch und lächelte verhalten. Er war zu Hause.

Er kontrollierte den Treibstoff im Shuttle. Es war nichts mehr übrig. Er konnte weder die Raumstation noch die Erde erreichen. Nun saß er zunächst einmal auf dem Mond fest. Norman schaute nach vorn, konnte allerdings nur einen hohen Berg ausmachen, der ihm die Sicht nahm. Er setzte einen Notruf ab, zog den Raumanzug und den Helm an. Sobald er drinsteckte, konnte er auf dem kleinen Bildschirm, der sich in dem Helm befand, seinen Pulsschlag sehen und wie viel Luft ihm noch blieb. Er war froh darüber, wie weit die Technologie nach ihrer Abreise vorangeschritten war und dank ihm würde sie sogar noch weiter fortschreiten. Er hatte es getan, er war durch das Schwarze Loch zurückgekehrt und konnte die Vergangenheit ändern, um die Zukunft Tausender Menschen zu retten. Er musste alle vor den Schrecken warnen, die ihnen auf dem Kepler-Planeten begegnen würden.

Er öffnete die Tür und sprang hinaus. Der Anzug passte sich der Umgebung an und schützte ihn vor der kalten Atmosphäre des Alls. Er sah sich um, auf der Suche nach der Erde, aber er konnte den Planeten nicht finden. Die Erde musste hinter dem Berg liegen.