Kurze Formen in der Sprache / Formes brèves de la langue

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2 Verblose, in- und afinite Sätze als overte und coverte Ellipsen

Sehen wir uns eingangs den folgenden konstruierten und deutsch glossierten russischen Mikrotext an, welcher eine mustergültige Exposition eines narrativen Texts darstellt:

 (1) Раннее утро. Половина шестого.früher Morgen halb sechsТихо. Скоро рассвет.still bald SonnenaufgangЗа стеной – мерное тиканье старинных часов.hinter Wand langsames Ticken alter UhrОдин негромкий удар. Бим-бом!ein nicht lauter Schlag Bim-Bom!И снова тишина.und wieder Stille

Der Text enthält kein einziges Verb und sollte daher, wenn man die gängige Satzdefinition deutscher Grammatiker sprachübergreifend-typologisch anwendet, als satzloser Text mit acht kommunikativen Minimaläußerungen eingestuft werden. Das Finitheitskriterium würde bei derartigem Herangehen deutlich überstrapaziert: Narrative Texte ohne Sätze gibt es ja wohl kaum. Wir sind somit gezwungen, allen aufgeführten Syntagmen vollen Satzwert zuzuweisen, wie dies auch in der russischen Tradition der Grammatikschreibung, und zwar auch in Bezug auf verblose Sätze der deutschen Sprache, tatsächlich getan wird (vgl. Admoni 1972: 227–230, Moskal’skaja 1983: 241).

Doch Satzwert bzw. Satzstatus sagen an sich wenig über das Wesen des Phänomens der Verblosigkeit aus. Betrachtet man den oben angeführten Text näher, wird deutlich, dass es sich um eine implizite Verwendung des Praesens historicum – hier konkret um das sog. „diegetische Präsens“ (vgl. Jespersen 1924: 258, Fleischman 1990, Mehlig 1995: 176; 189–190, Abraham 2008, Koch / Oesterreicher 2011, Zeman 2013: 241) – handelt, welches üblicherweise zum Zweck einer „Annäherung“ des Lesers an die Erzählzeit bzw. deren Aktualisierung, erhöhter Spannung etc. durch „temporalen Schub“ eingesetzt wird. In den neulich verwendeten Termini der Theorie des „perspectival mind“ handelt es sich um die kognitiv begründete Prozedur einer „doppelten Perspektivierung“ der Akt- und Referenzzeit im Sinne Reichenbachs (1947, 21965) aus der hic-et-nunc-Perspektive der Origo, welche sich demgemäß aufspaltet und somit multiple Betrachterstandorte schafft (vgl. Zeman 2017). Der oben angeführte russische Text hat zwar keine einzige Verbform, sodass keine overte Kodierung der Tempuskategorie vorliegt, da diese bekanntlich an die Verbformen gebunden ist; doch gibt es deutliche Indizien dafür, dass es sich um implizites Praesens historicum und nicht etwa um implizite Vergangenheitsformen handelt. So schließt die Verwendung des Temporaladverbs cкоро ‘bald’ im Satz Скоро рассвет ‘bald geht die Sonne auf’, wörtlich ‘bald Sonnenaufgang’, jeglichen Vergangenheitsbezug als Referenzzeit aus: Es liegt eindeutig ein implizites Futur als Referenzzeit vor, wobei die Aktzeit in der Vergangenheit liegt, welche aus der Origoperspektive als „verschobene Gegenwart“ konzeptualisiert und entsprechend sprachlich kodiert wird. Mit anderen Worten müssen wir, falls die angeführten verblosen Sätze als Ellipsen verstanden und dementsprechend zu Vollsätzen ausgebaut werden, die entsprechenden Verben entweder in der Gegenwartsform für Aktzeit oder aber als Zukunftsform für Referenzzeit einsetzen. Die „echte“ (d.h. origoneutrale) temporale Lesart ist dabei Vergangenheit (Aktzeit) bzw. Zukunft in der Vergangenheit (Referenzzeit).

Der syntaktische Status der Einzelsätze ist allerdings nicht homogen. Einige davon (Раннее утро. Половина шестого. Тихо.) wären ungrammatisch, falls man das entsprechende finite Verb (in diesem Fall wäre es die Kopula быть ‘sein’) in der Präsensform (есть ‘ist‘) einsetzen würde. Bei anderen Sätzen wäre eine Ergänzung um ein Finitum bzw. Prädikativ (будет ‘wird’, слышно ‘zu hören, hörbar’, раздаётся ‘erschallt’, наступает ‘tritt ein’) durchaus korrekt. Den ersten Typ verbloser Sätze bezeichnen wir hier als coverte Ellipsen, d.h. Ellipsen, deren „Unvollständigkeit“ auf der Ebene der Tiefenstruktur des Satzes postuliert werden muss, wobei aber das tiefenstrukturell vorhandene Verb nicht an der Satzoberfläche erscheinen kann. Am häufigsten handelt es sich dabei um prototypische Kopulasätze mit Verbum substantivum in der – rekonstruierbaren, doch nie tatsächlich vorhandenen – Gegenwartsform. Der zweite Typ verbloser Propositionen sind dagegen Ellipsen anderer Art, die wir hier als overt bezeichnen in dem Sinn, dass tiefenstrukturell vorhandene „Verbalität“ auch an der Satzoberfläche durch Nachtragen entsprechender Finita oder Prädikative erscheinen kann. Diese sind in aller Regel keine Kopulae, sondern verbale Entitäten mit Volllexem-Wert. Die Wahl eines konkreten Verbs, welches die Ellipse zum Vollsatz ergänzen würde, ist allerdings nicht immer einfach. So kann der Satz Скоро рассвет (wörtl. bald Sonnenaufgang) als Скоро наступит ‘kommt’ / будет ‘wird’ рассвет aufgelöst werden. Ähnlich kann das Ticken der Uhr hörbar sein, gehört werden, aber auch – mit Perspektivwechsel – z.B. ertönen usw. Dies rührt davon her, dass bei einer overten Ellipse im Russischen das Verb in aller Regel unspezifiziert ist: Eine „Vase auf dem Tisch“ kann stehen, liegen, sich befinden etc. Die Uhr kann schlagen, der Uhrenschlag kann hörbar sein etc. Diese Rekonstruktionen haben offensichtlich keinen Belegstatus, sie dienen lediglich dazu, das Phänomen einer „coverten Ellipse“ durch die abstrakte Möglichkeit einer Rekonstruktion zu demonstrieren. Eine coverte Ellipse lässt dagegen in aller Regel keine Varianz zu. In den meisten Fällen enthält sie inhärent das Verbum substantivum in Kopulafunktion.

Ob die Ellipse overt oder covert ist, ist allerdings sprachspezifisch und hat daher keine universalgrammatische Geltung. So wären die im oberen Text aufgeführten russischen coverten Ellipsen mit inhärentem, doch nicht ergänzungsfähigem ‘sein’ im Deutschen oder im Polnischen als overte Ellipsen einzustufen, vgl. dt. (Es ist) früher Morgen. (Es ist) halb sechs etc. oder poln. (Jest) wczesny poranek. (Jest) wpół do szóstej etc. Das Verbum substantivum wäre aber auch hier – ähnlich zur coverten Ellipse im Russischen – nicht gegen ein anderes Verb austauschbar, da die Kopulafunktion generell keine Varianz zulässt. Universalgrammatisch sind dagegen der Ellipsestatus derartiger Fügungen als solcher sowie ihre Lesart mit doppelter zeitlicher Perspektivierung seitens der Origo (Praesens historicum) im Falle des Fehlens der Kopula in narrativem Diskurs.

In nichtnarrativen Texten der „besprochenen Welt“ (vgl. Weinrich 1977) liegt in vergleichbaren Fällen in aller Regel das covert kodierte Präsens zur Bezeichnung der aktuellen Gegenwart vor, über die vom Texterzeuger reflektiert wird – häufig zwecks einer Verallgemeinerung in generalisierenden, habituellen und sonstigen atemporalen Kontexten nach dem Prinzip „wie jetzt, so immer“, wie z.B. im folgenden bekannten Gedicht des russischen Dichters Alexander Block (1912):

 (2) Ночь, улица, фонарь, аптека,Nacht Straße Laterne ApothekeБессмысленный и тусклый свет.Sinnloses und fahles LichtЖиви ещё хоть четверть века —Leb noch sogar [ein] Viertel [des] JahrhundertsВсё будет так. Исхода нет.Alles wird so [bleiben]. Auswegs nicht [Es gibt keinen Ausweg]Умрёшь — начнёшь опять сначала,Stirbst beginnst wieder von AnfangИ повторится всё, как встарь:Und wiederholt sich alles wie einstНочь, ледяная рябь канала,Nacht eisige gekräuselte Fläche [des] KanalsАптека, улица, фонарь.Apotheke Straße Laterne

In den Sätzen mit Nominalformen des Verbs (Partizipien und Infinitiven) ohne Finitum (also den infiniten Sätzen) lässt sich das Finitum ebenfalls in der Regel problemlos nachtragen, was sie zu spezifischen Ellipsen macht, da das Nachtragen des Finitums nicht mechanistisch erfolgt und die Satzstruktur – wenn auch nicht immer obligatorisch – modifizieren kann, vgl. In München angekommen, ging Gustav zunächst in die Uni [Als Gustav in München angekommen war, ging er zunächst in die Uni]; russ. Курить – здоровью вредить (wörtl. Rauchen – seiner Gesundheit schädigen) mit nachzutragendem значит, означает ‘heißt, bedeutet’.1

Bei sog. afiniten Sätzen handelt es sich, wie oben bereits erwähnt, um Syntagmen mit ausgespartem Auxiliarverb haben, sein oder werden bei periphrastischen Tempus- und Genusformen, meist im Nebensatz, vgl.: Erloschen sind die heit´ren Sonnen, die meiner Jugend Pfad erhellt [hatten] (Schiller, Ideale); Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten, die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt [habt] (Goethe, Faust); Was vergangen [ist], kehrt in der gleichen Gestalt nie wieder (Kellner, Kriegstagebücher, zitiert nach: Riecke 2012).

Sowohl in- als auch afinite Sätze vom oben erwähnten Typ sind zweifelsohne overte Ellipsen, bei denen das Finitum ergänzt werden kann, ohne dass die Oberflächenstruktur des Satzes grundsätzlich tangiert wird. Infinite Sätze weichen dabei allerdings vom Prototyp mit Finitum stärker ab als afinite Satzsyntagmen, bei denen das jeweilige Auxiliarverb einfach am Satzende nachgetragen werden soll, damit der Nebensatz seine „übliche“ Form erhält.

Im nächsten Abschnitt werden nun Satzgebilde behandelt, die keine klassischen Ellipsen darstellen, da ihre weit verstandene „Verbalität“ von dem klassischen Schema einer Ellipse abweicht.

3 Sätze ohne finites Verb als nichtelliptische Syntagmen

Neben Auslassung des Finitums bzw. seiner Nichtverwendung an der Satzoberfläche bei inhärentem „Vorhandensein“ in der zu Grunde liegenden Tiefenstruktur gibt es Fälle, bei denen die übliche „Ergänzungsprozedur“ des rekonstruierten prototypischen finiten Verbs auf z.T. unüberwindbare Schwierigkeiten stößt. Dazu gehören u.a. Konstruktionen, welche in der Linguistik als Genitivus absolutus (im Griechichen), Ablativus absolutus (im Latein) bzw. Dativus absolutus (z.T im Griechischen, vor allem aber im Altkirchenslawischen und in altgermanischen Sprachen) bekannt sind, vgl.:

 

 (3) Mt. 8, 1:griechisch:καταβάντος [Part. I Gen. Sg. Aorist] δὲ αὐτοῦ [Pron. Gen. Sg.] ἀπὸ τοῦ ὄρους ἠκολούϑησαν αὐτῷ ὄχλοι πολλοί.gotisch:dala⇒ þan atgaggandin [Part. I D. Sg.] imma [Pron. 3. Pers. D. Sg.] affairgunja, laistidedun afar imma iumjons managos. altkirchenslawisch:сшедшу [Perfekt-Part. I D. Sg.] же ему [Pron. 3. Pers. D. Sg.] с горы, вслед его идяху народи мнози.neuhochdeutsch:Als Er bergab ging [wörtl. gehenden seines (gr.) bzw. gehendem ihm (got., aksl.) bergab], folgten ihm viele Menschen.

 (4) Mt. 8, 16:griechisch:’οψιασ [Adj. Gen. F. Sg.] δε γενομενησ [Part. Medium Aorist Gen. F. Sg.] προσηνεγκαν αυτω δαιμονιζομενουσ πολλους […]gotisch:at andanahtja [Subst. D. Sg.] þan waurþanamma [Part. II Dat. F. Sg.], atberun du imma daimonarjans managans […]altkirchenslawisch:позде [Adj. D. M. Sg.] же бывшу [Part. I D. M. Sg.] приведоша к нему бесны многи […]lateinisch:vespere [Subst. Abl. Sg.] autem facto [Part. II Abl. Sg.] obtulerunt ei multos daemonia habentes neuhochdeutsch:Als dann Abend kam [wörtl. Abendes dann des gewordenen (gr.) bzw. Abend dann dem gewordenen (got., aksl.) bzw. (vom) Abend gewordenen (lat.)], brachte man zu ihm viele Besessene.

 (5) Joh. 2, 3:lateinisch:deficiente [Part. I Abl. Sg.] vino [Subst. Abl. Sg.] dicit mater Iesu ad eum vinum non habent.althochdeutsch (Tat. 45, 2):thô ziganganemo [Part. II D. Sg.] themo uúine [best. Art. + Subst. D. Sg.] quad thes heilantes muoter zi imo: sie ni habent uúin. Als es an Wein mangelte [wörtl. (vom) Wein fehlendem (lat.) bzw. Wein dann zu Ende gegangenem (ahd.)], sprach die Mutter des Heilands zu Ihm: sie haben keinen Wein (mehr)].

Zu derartigen Konstruktionen gesellen sich infinite (hauptsächlich partizipiale) Satzgebilde mit Nebensatzstatus, die z.B. in der griechischen oder gotischen Sprache sehr häufig auftreten und statusmäßig den Verbalfügungen mit dem Verbum finitum volläquivalent sind, vgl.:

 (6) Mt. 8, 2–3:griechisch:καὶ ἰδοὺ λεπρὸς προσελϑὼν προσεκύνει αὐτῷ λέγων, Κύριε, ἐὰν ϑέλῃς δύνασαί με καϑαρίσαι. καὶ ἐκτείνας τὴν χεῖρα ἥψατο αὐτοῦ λέγων, Θέλω, καϑαρίσϑητι! καὶ εὐϑέως ἐκαϑαρίσϑη αὐτοῦ ἡ λέπρα.gotisch:jah sai, manna þrutsfill habands durinnands inwait ina qiþands: frauja, jabai wileis, magt mik gahrainjan. jah ufrakjands handu attaitok imma qiþands: wiljau, wairþ hrains! jah suns hrain warþ þata þrutsfill is. [wörtlich]: ,und siehe, Mann Aussatz habender zurennender grüßte Ihn sprechender: Herr, wenn [Du] willst, kannst [Du] mich rein machen. Und Hand ausstreckender berührte ihn sagender: [Ich] will [es], werde rein! Und alsbald rein wurde dieser Aussatz sein.‘

In der deutschen Gegenwartssprache gibt es Reste dieser früher sehr verbreiteten Kompression der Aussage durch Verwendung von Partizipialformen, welche im angeführten Beispiel zwar das griechische Original kopieren, dabei aber keinesfalls als griechische (oder jeweils lateinische) Entlehnungen zu behandeln sind, da die Möglichkeit ihrer Verwendung als solche schon von deren Verankerung im eigenen grammatischen System zeugt. Doch ist das Ausmaß dieser Kompression (als prädikative Attribute) in modernen germanischen Sprachen im Vergleich zu den älteren Stufen der Indogermania sehr bescheiden, vgl. dt. Ein spannendes Buch lesend ging Wolfgang die Straße entlang. Die Sätze des Typs ??Die Straße entlang gehend, dabei ein spannendes Buch lesend, auf Passanten und Autos wenig achtend und kaum bemerkend, was sich um ihn tat, auf eine Laterne stoßend, schrie Wolfgang vor Schmerz auf sind zwar theoretisch verständlich, doch trotzdem kaum mehr grammatisch. Dagegen leben derartige Kompressionen in Form von Gerundivum-Kompressionen in der Slavia weiter, vgl. russ. Идя по улице, читая интересную книгу, не смотря по сторонам и не замечая ни пешеходов, ни людей, Вольфганг, натолкнувшись на столб, вскрикнул от боли. Freilich ist auch der russische Satz stilistisch alles andere als mustergültig, doch ist er im Unterschied zum deutschen Satz grammatisch völlig korrekt und in jeder Hinsicht akzeptabel. Grund dafür liegt auf der Hand: Die overte Finitheit hat sich in der Germania in einem viel stärkeren Maß als in der Slavia entwickelt und dominiert heutzutage die Satzsyntax in dem Maß, dass dieser Fakt in der Grammatikschreibung widergespiegelt wird, indem Finitheit zum Satzkriterium sine qua non erhoben wird. Doch ist dieses formale Kriterium u.E. keinesfalls ausreichend, um verblosen sowie in- und afiniten Sätzen den Satzstatus (hier: Nebensatzstatus) abzusprechen, gleichgültig, ob es sich um (overte oder coverte) Ellipsen oder aber um nichtelliptische Satzkompressionen handelt. Noch weniger kann Finitheit als oberes Gebot für Satzstatus aus sprachtypologischer Sicht bewertet werden.

Im Weiteren werden nun pragmatisch bzw. textsortenspezifisch bedingte Verwendungsweisen afiniter Formen im Deutschen in einem kurzen historischen Aufriss behandelt, wobei die Entwicklungsetappen der deutschen Sprache im Mittelpunkt stehen, in denen Afinitheit besonders stark eingesetzt wurde und spezifische Funktionen erfüllte, welche später aufgegeben oder stark eingeschränkt, mitunter auch völlig umgedeutet und gerade an explizite Finitheit gebunden wurden.

4 Afinitheit im kurzen historischen Aufriss

Das Auslassen der finiten Verbformen als syntaktisch-stilistisches Verfahren ist im hochdeutschen Diskurs seit der spätmittelhochdeutschen Zeit (14. Jh.) vereinzelt belegt (vgl. Ebert 1993: 442). Die Frühbelege afiniter Verbalperiphrasen, die eher als Zufallsfunde denn als Ergebnisse einer systematischen Materialerhebung zu werten sind, finden sich beispielsweise im Egerer „Buch der Gebrechen“ aus dem Jahre 1379. Nichtsdestotrotz verleiten derartige Einzelfunde zu dem Schluss, dass die syntaktischen Kurzformen – entgegen der kursierenden Hypothese – bereits den mittelalterlichen Schreibern geläufig waren (vgl. Macha 2003: 25).

Eine systematische Verwendung der finitlosen Satzstrukturierung fällt aber erst in das 16. und 17. Jahrhundert, also in die Spätphase des Frühneuhochdeutschen, in der ein Wechsel von älteren, dialektal differenzierten Schreibvarianten zu modernen und einheitlichen Schreibformen stattfindet und wo die einst unumstößliche Autorität der mündlichen Überlieferung zunehmend durch die Ausbildung schriftlicher institutioneller Kommunikation verdrängt wird. Diese neue Qualität der Schriftlichkeit betrifft vor allem den kanzleisprachlichen Schreibusus, sodass man auch davon ausgehen kann, dass der Hang zur afiniten Konstruktionsweise eine der typischen Erscheinungen der frühneuhochdeutschen Kanzleisyntax ist (vgl. Ebert 1993: 442). Im Schriftverkehr des 17. Jahrhunderts ist die Auslassung der finiten Verbformen fast zur Regel geworden, was wiederum dazu geführt hat, dass in vielen Texten die ausgiebig eingesetzten Kurzformen das dominierende Satzmuster bilden (vgl. a.a.O.).

Diese Auslassungstendenzen, die in frühneuzeitlichen Texten massenhaft vorkamen, gingen im Laufe des 18. Jahrhunderts spürbar zurück. In sprachreflexiven Texten zeitgenössischer Autoren (z.B. bei Gottsched) wurden sie als normwidrig stigmatisiert, da sie gegen die Kriterien von Wohllaut und Deutlichkeit verstießen (vgl. Konopka 1996: 140f.). Dies verursachte wiederum eine Reihe von strukturellen Änderungen im Bereich der Text- und Satzgestaltung, welche sich zuletzt darin äußerten, dass der afinite Satzbaustil zugunsten der vollständigen Verbalstrukturen verworfen wurde.

Die Möglichkeit afiniter Satzgestaltung ist jedoch nie zugrunde gegangen. Wie die durchgeführten Korpusrecherchen belegen, expandiert die afinite Konstruktionsweise in der deutschen Gegenwartssprache in neue Domänen der Schriftlichkeit. Das Belegmaterial ist deswegen so heterogen und umfangreich wie noch nie zuvor. Augenfällig ist auch das differenzierte Funktionsprofil der historischen und gegenwartssprachlichen Satzstrukturen: War die Afinitheit im historischen Diskurs auf besondere Nebensatztypen beschränkt, liegt sie heute vornehmlich im Hauptsatzparadigma vor und übernimmt verschiedene textsortenspezifische und kommunikative Aufgaben, von Komprimierung über emphatische Markierungen bis hin zu stilistischer Variierung (vgl. Schönherr 2018: 566).

5 Afinitheit als textsortenspezifisches Phänomen

Betrachtet man afinite Konstruktionstypen in einem geschichtlichen Querschnitt, so fällt auf, dass Afinitheit vornehmlich an Texte gebunden war, die einen hohen sozialen Status besitzen. Hierher gehören vor allem die oben bereits erwähnten Kanzleitexte als im hohen Grad (durch vorgegebene Strukturmuster) standardisierte, zum Teil stark formelhafte Texte, die zur Regelung von sämtlichen Rechts- und Geschäftsvorgängen dienten. Die Einbettung der einzelnen Texte in den kanzleisprachlichen Diskurs bewirkt, dass sie nicht nur in formaler, sondern auch in inhaltlicher Sicht gewisse Affinitäten aufweisen. So sind sie u.a. durch Komplexität der darin beschriebenen Sachverhalte gekennzeichnet, woraus sich dann als Begleiterscheinung die natürliche Notwendigkeit einer sprachökonomischen Auslassung entbehrlicher Satzteile, darunter gerade der finiten (Hilfs-)Verben ergeben hat.

Umgekehrt kommen in Texten, die der gesprochenen Sprache besonders nahestehen oder einen sehr einfachen thematischen Gehalt aufweisen, nur selten afinite Konstruktionen vor (vgl. Admoni 1967: 190). Somit kann festgehalten werden, dass der afinite Satzbaustil ein spezifisches Merkmal der Kanzleitexte, ja ein „Kanzleiusus“ (Rösler 1995) ist.

Was nun die gegenwartssprachlichen Domänen der Verwendung afiniter Konstruktionen anbelangt, so liegt ein weitgehender Gebrauchswechsel vor: Afinite Konstruktionen werden heute tendenziell in Texten mit abgeschwächter kommunikativer Ausrichtung (z.B. in Tagebüchern, vgl. dazu u.a. Fernandez-Bravo 2016) verwendet, in denen nicht so stark auf die Finitheit geachtet wird wie z.B. in narrativen Texten. Textsortenspezifisch ist dies leicht erklärlich, sind ja Tagebücher generell eine nichtkommunikativ (da ausschließlich autoreferentiell) konzipierte Textsorte, sodass ihr Verfasser sich auf Sprachformen begrenzen darf, welche für ihn ausreichend verständlich sind und keine empfängerseitig begründete Akribie grammatischer Norm verlangen. Andererseits werden sie als Mittel verwendet, das zur stärkeren kommunikativen Geltung eines Textes beitragen kann. Schließlich kommen sie im mündlichen Register vor, meist in elliptischen und / oder emphatischen Kontexten, wo sie unterschiedliche pragmatische Funktionen übernehmen (vgl. Schönherr 2018: 568).