Kurze Formen in der Sprache / Formes brèves de la langue

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Heike Romoth beschäftigt sich mit dem Wahlslogan als Kurztext. Da der Wahlslogan räumlich begrenzt ist, bevorzugt er kondensierte Strukturen. D.h. ein großer Teil der Informationen bleibt implizit, und die Wahlbotschaft muss vom Adressaten (re)konstruiert werden. Am Beispiel von Wahlslogans zur Bundestagswahl 2017 zeigt Heike Romoth, dass der Adressat dafür über das semantische Wissen hinaus auch über enzyklopädisches Wissen (politisches Sachwissen) und Textsortenwissen verfügen muss. Die Konstruktion der Bedeutung der Wahlslogans erfolgt im Rahmen einer Interpretationsstruktur. Mit dem Wahlslogan wird für ein Programm geworben, in dem das zukünftige politische Handeln der Parteien und Politiker angekündigt wird. Aufgrund der Leerstellen des Rahmens ‚Handlung‘ (Mitspieler, Motiv, Ziel usw.) weiß der Adressat, welche Informationen zu ergänzen sind. Allerdings bleibt häufig offen, ob Sachverhalte aufgrund der räumlichen Begrenzung oder aufgrund der politischen Korrektheit implizit bleiben.

Im vierten Teil des Bandes werden Phänomene der semantischen Verdichtung behandelt. Es geht einerseits um Wortbildung bzw. Kofferwörter und Nominalkomposita, andererseits aber auch um stereotypisierte kurze Äußerungen, in denen ein kulturelles Element zum Ausdruck kommt. Dabei wird nicht nur die Frage nach der lexikalischen und syntaktischen Festigung von kurzen Formen aufgeworfen, sondern auch die Frage nach deren Eingang ins Lexikon. Warum bleiben einige kurze Formen Okkasionalismen? Wie kann man dagegen erklären, dass andere kurze Formen sehr produktiv sind, d.h. wieder aufgenommen werden, zu weiteren serienhaften Schöpfungen führen oder sogar zu Gegenproduktionen?

Anlass zum Beitrag von Ricarda Schneider sind dem Englischen entlehnte Wortkreuzungen, wie manterrupting, mansplaining, manspreading, die in angelsächsischen, deutschsprachigen oder auch französischsprachigen Medien und sozialen Netzwerken kursieren. Diese Kurzformen sind Kofferwörter an der Schnittstelle zwischen Lehnwort, Anglizismus und Neologismus. Im Beitrag geben sie Anstoß zu Überlegungen über den Begriff ‚Kofferwort‘, seine Herkunft und über die Funktionen von Wortkreuzungen. So können beabsichtigte Kontaminationen über ihre spielerisch-kreative Funktion hinaus die Funktion der Sprachökonomie erfüllen. Die Analyse der englischen Neologismen mit dem Schema man + eng. Verb + -ing lässt erkennen, dass solche Wortkreuzungen besonders knappe Formen zur Nominalisierung komplexer Vorgänge und Phänomene sind, mit denen neue, oft komplexe Erscheinungen, Verhaltensweisen und Lebensstile kurz und bündig benannt werden. Sowohl die Bildung als auch die Entschlüsselung dieser Kofferwörter, die zum Teil genderspezifische Verhaltensweisen bezeichnen, sind in der Regel kontextabhängig. Dies verhindert aber nicht eine gewisse Einbürgerung dieser Lehn-Kofferwörter, wie auch Piktogramme aus dem öffentlichen Raum bezeugen.

Michel Lefèvre untersucht ‚sprachliche Miniaturen‘ am Beispiel von österreichischen Kriminalromanen. Dabei erweitert er die Definition von Bock / Brachat, indem ‚sprachliche Miniaturen‘ nicht auf Sprichwort und Witz beschränkt werden, sondern sprachliche Kurzformen bezeichnen, die typisierte Redensarten und kulturelle Stereotype verknüpfen. Dies schließt Phraseme, Slogans, Routinewendungen und anscheinend „freie“ Äußerungen mit der Partikel „ja“ ein. Bei seiner Suche nach sprachlichen Einheiten, die Kultur und Sprache in sich vereinen bzw. die auf ein kulturelles Hintergrundwissen verweisen, wirft Lefèvre die Frage nach der Ermittlung von formalen Merkmalen auf, ohne sich auf die Kriterien zu beschränken, die üblicherweise in der Phraseologie berücksichtigt werden.

Delphine Pasques nimmt eine ausführliche Analyse des zweisilbigen althochdeutschen Nominalkompositums liût chuô vor, das als kurze, implizite Form „Menschen“ (liût) und „Kälber“ (chuô) in Verbindung bringt. Der einzige Beleg für dieses Kompositum befindet sich im Psalter, Notkers Psalmenübersetzung ins Althochdeutsche aus dem Anfang des 9. Jahrhunderts. Über eine Kontextualisierung der Okkurrenz hinaus führt Pasques eine semantisch-referentielle Analyse der Zusammensetzung durch und zeigt, dass sie aufgrund ihrer impliziten Dimension unterschiedliche Interpretationen (wortwörtlich oder allegorisch) zulässt. Um zwei Interpretationsniveaus zu bewahren, greift Luther im 16. Jahrhundert zu einem Kommentar, der die Analogie zwischen Kälbern und Völkern explizit herstellt. In anderen Übersetzungen werden appositive Strukturen eingeführt. Es lässt sich ein einziges weiteres Kompositum finden, und zwar Völkerkälber in einem Text aus dem 19. Jahrhundert. In einer pragmatischen Analyse von liût chuô macht Pasques außerdem deutlich, dass Notker die Kürze der Zusammensetzung zur religiösen Erbauung nutzt: Die ungewöhnliche kurze Form wirkt rätselhaft, überrascht den Leser und lässt ihn nach einer Interpretation suchen.

Der fünfte Teil des Bandes schließlich ist besonders kleinen, nicht zerlegbaren, nicht sententialen sprachlichen Einheiten gewidmet, die als ‚Partikeln‘ klassischerweise eine Sonderstellung in der Sprachbeschreibung einnehmen. An verschiedenen Beispielen aus dem Deutschen und dem Französischen werden solche kurzen sprachlichen Formen thematisiert und ihre Funktionsweise und Rolle im Diskurs genau analysiert. Die Einzelanalysen zeigen, dass bei diesem bereits intensiv bearbeiteten und diskutierten Kapitel der Grammatik neue begriffliche Klärungen bzw. Diskussionen immer wieder fruchtbar sind: Wie können die einzelnen Kriterien bzw. Definitionen angesichts von Korpusdaten bewertet werden? Wie lässt sich der Zusammenhang zwischen den für solche sprachlichen Einheiten typischen Merkmalen der Kürze und der Formelhaftigkeit bzw. Pragmatikalisierung beschreiben? Sind konstruktionelle oder kompositionelle Analysen vorteilhafter? Inwiefern hat man es mit ‚regelhaften Konstrukten‘ zu tun? Darüber hinaus zeigen die Analysen, dass mit der Kürze dieser sprachlichen Formen eine besondere Beziehung zum Vorgänger- und Nachfolgediskurs einhergeht, dessen Rezeption durch solche Einheiten gesteuert wird.

Jan Georg Schneider diskutiert die Begriffe ‚Diskursmarker‘ und ‚Operator‘, welche in der Forschungsliteratur bisher als konkurrierende Termini benutzt werden. Er schlägt vor, mittels beider Begriffe eine Differenzierung vorzunehmen. Der Begriff ‚Operator-Skopus-Strukturʻ zielt auf eine allgemeinere Ebene ab und weist eine größere Extension auf als der Begriff ‚Diskursmarker-Konstruktionʻ, der sich relativ eng definieren lässt: Die Operator-Skopus-Struktur ist ein allgemeines Verfahren der Gesprächsorganisation, die Diskursmarker-Konstruktion eine auch formseitig beschreibbare Konstruktion. Die Diskussion wird anhand von Daten aus mündlichen Korpora geführt und der Vorschlag der begrifflichen Differenzierung insbesondere am Beispiel der Gesprächspartikel gell erprobt.

Jean-François Marillier analysiert „fragmentarische Verwendungen“ der Koordinationen mit und, oder und sondern, solche Verwendungen also, bei denen das erste oder zweite Konjunkt oder beide fehlen („fragmentarische Koordinationen“ bzw. „nackte Konjunktoren“). Er zeigt die Systematik solcher Verwendungen, diskutiert die These, dass die Koordinatoren in solchen Verwendungen bedeutungsleere ‚Diskursmarker‘ seien und plädiert entgegen dieser These für eine Interpretation als ‚echte Koordinatoren‘, die Propositionen verknüpfen. Die pragmatischen Effekte solcher Verwendungen ergeben sich aus dem Zusammenspiel der Stellung des Sprechers als erster oder zweiter Sprecher, der Struktur der koordinativen Verknüpfung, den Eigenschaften der Konjunkte, der Bewertung der in der fragmentarischen Struktur involvierten Sachverhalte und aus der Semantik der Konjunktionen.

Liubov Patrukhina untersucht in Gesprächen das Syntagma ja doch am Anfang eines Turns und analysiert entgegen der bisherigen kompositionellen Analyse von Métrich et al. diese Partikelkombination als „Konstruktion“ im Sinne eines „Form-Bedeutungs-Paars“. Anhand von Korpusdaten zeigt sie, dass die Konstruktion zwei phonetische Varianten hat: ja DOCH und JA (.) DOCH und dass ihre Funktion darin besteht, zu signalisieren, dass auf eine dispräferierte Frage oder Aussage eingegangen wird.

Heike Baldauf-Quilliatre behandelt das Konstrukt [ah + Nominalphrase] in französischen Alltagsinteraktionen. Sie weist nach, dass die syntaktisch und prosodisch komplette Einheit eine eigenständige Handlung ausführt und als dichtes, knappes, verbloses oder non-sententiales Format bezeichnet werden kann. Als erster Schritt eines ersten Sprechers (First Pair Part) funktioniert [ah + Nominalphrase] als Notifikation (noticing nach Goodwin / Goodwin): Der Turn zeigt auf ein Element aus dem außersprachlichen Umfeld der Teilnehmer. Als Second Pair Part ist das Format eine affektiv gefärbte Antworthandlung auf eine Information oder eine Ankündigung, die daraufhin von den Teilnehmern gemeinsam weiterbearbeitet wird.

Das Projekt – die Tagung und die Publikation – wurde von der Université Sorbonne Nouvelle, insbesondere dem CEREG (Centre d’Etudes et de Recherches sur l’Espace Germanophone EA 4223), und vom DAAD unterstützt, bei denen wir uns sehr bedanken. Unser Dank gilt ebenfalls allen TeilnehmerInnen an der Tagung, den AutorInnen dieses Bandes, sowie natürlich dem wissenschaftlichen Beirat der Tagung. Und ganz herzlich danken wir Irmtraud Behr, der wir dieses Buch widmen, für die langjährige konstruktive und gleichzeitig freundschaftlich-kollegiale Zusammenarbeit.

Anne-Laure Daux-Combaudon

Anne Larrory-Wunder

Literatur

Baldauf-Quilliatre, Heike, 2016. „Knappe Bewertungen im empraktischen Sprechen. Vom Nutzen und Nachteil der „Ellipse“ für die Analyse“. In: Marillier / Vargas (Hrsg.), 201–216.

 

Balnat, Vincent 2013. „Kurzvokal, Kurzwort, Kurzsatz, Kurztexte: Kürze in der Sprachbeschreibung des Deutschen“. In: Zeitschrift für Literatur und Linguistik (LiLi) 43 / 170, 82–94.

Bär, Jochen A. / Roelcke, Thorsten / Steinhauer, Anja (Hrsg.), 2007. Sprachliche Kürze. Konzeptuelle, strukturelle und pragmatische Aspekte. (= Linguistik – Impulse & Tendenzen, 27). Berlin / New York: de Gruyter.

Behr, Irmtraud / Lefeuvre, Florence (Hrsg.), 2019. Le genre bref. Des contraintes grammaticales, lexicales et énonciatives à une exploitation ludique et esthétique. (= Sprachwissenschaft). Berlin: Frank & Timme.

Behr, Irmtraud / Quintin, Hervé, 1996. Verblose Sätze im Deutschen. Zur syntaktischen und semantischen Einbindung verbloser Konstruktionen in Textstrukturen. (= Eurogermanistik, 4). Tübingen: Stauffenburg.

Gardt, Andreas, 2007. „Kürze in Rhetorik und Stilistik“. In: Bär / Roelcke / Steinhauer (Hrsg.), 70–88.

Hennig, Mathilde, 2013. Die Ellipse. Neue Perspektiven auf ein altes Phänomen. Berlin / New York: de Gruyter.

Marillier, Jean-François / Vargas, Elodie (Hrsg.), 2016. Fragmentarische Äußerungen. (= Eurogermanistik, 32). Tübingen: Stauffenburg.

Plewnia, Albrecht, 2003. Sätze, denen nichts fehlt. Eine dependenzgrammatische Untersuchung elliptischer Konstruktionen. (= Germanistische Linguistik Monographien, 11). Hildesheim: Olms.

Spitzl-Dupic, Friederike (Hrsg.), 2018. Parenthetische Einschübe. (= Eurogermanistik, 34). Tübingen: Stauffenburg.

„Kurze Formen“ in der Sprachtheorie / Les « formes brèves » dans la théorie linguistique

‚Kürze‘ und kurze Formen in der Geschichte der deutschen Grammatikographie

Friederike Spitzl-Dupic

Brevitas (Kürze) ist ein Begriff, der bekanntlich aus der antiken Rhetorik stammt und seitdem in Rhetoriken, Stilistiken, aber auch Grammatiken und Poetiken regelmäßig einerseits als Analyseinstrument und andrerseits als Ideal und Maßstab für den sprachlichen Ausdruck vorkommt. Kürze gilt als Mittel der eleganten und überzeugenden Rede, wobei die meist diskutierte „kurze“ Form in der Geschichte der Sprachtheorie die Ellipse ist, deren explikative Kraft besonders in der Grammatikographie zur Erklärung von regelabweichenden Strukturen eingesetzt wird oder auch zu deren Kritik.

In der uns hier interessierenden deutschen Grammatikographie, in der die Ellipse als Analysebegriff seit den Anfängen präsent ist (dazu Lecointre 1990), dient sie ebenfalls einerseits zur Erklärung von Ausdrücken, die als nicht regelkonform angesehen werden, andrerseits wird vor ihrem Gebrauch gewarnt, da sie zum Verlust von Deutlichkeit und Bestimmtheit in der Rede führen könne. Es handelt es sich dabei um zentrale Topoi in der Beurteilung von Sprache, Sprachen und Sprechen. Diese Topoi schreiben sich in die ab dem 17. Jh. virulente sprachkritische und sprachpolitische Diskussion ein, wo in deutschsprachigen Gebieten das Deutsche besonders mit den „Konkurrenz“- und Referenzsprachen Latein und Französisch, aber auch anderen Sprachen (s.u. unter 1.) verglichen wird. Diese Vergleiche führen sehr regelmäßig zu der Nennung von „Vorzügen“ und „Nachteilen“ der deutschen Sprache, aber auch zu Vorschlägen ihrer Verbesserung.

Kürze ist immer ein relativer Begriff, sodass da, wo kurze Formen angenommen werden, gleichzeitig angenommen wird, dass eine längere Form möglich ist, und es dient eine längere Form auf irgendeine Weise als Modell, Gegenmodell oder Schablone. Davon ausgehend stellen sich folgende Fragen: Inwiefern sind lange oder längere und kurze oder kürzere Formen in einem identischen Kontext äquivalent oder auch nicht? Warum wird die eine oder andere Form von einem Sprecher gewählt, wie kann diese Wahl erklärt werden und wie wird sie eventuell von den Sprachtheoretikern erklärt bzw. beurteilt?

Besonders dieser letzten Frage soll in dem Korpus nachgegangen werden, der deutschsprachige Grammatiken des 18.–19. Jhs. umfasst. Da seine umfassende Untersuchung zu dem Thema den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde, werde ich mich auf zwei Werke konzentrieren, d.i. Hempel 1754 und Götzinger 1836–1839. Diese beiden Grammatiker zeichnen sich dadurch aus, dass sie die jeweils zeitgenössische Forschung intensiv rezipieren, dass sie synthetisch vorgehen und als repräsentativ für ihre Zeit bzw. für ein bestimmtes Sprachdenken ihrer Zeit gelten können. Damit ist es trotz dieser beschränkten Textauswahl schließlich möglich, grundsätzliche Ansätze und Entwicklungstendenzen in diesem Zeitraum zu identifizieren.

Zuvor aber möchte ich einige Bemerkungen zur Bedeutung kurzer Formen in der Geschichte des Sprachdenkens und der deutschsprachigen Grammatikographie vornehmen, um die am Anschluss untersuchten Texten besser zu situieren.

1 Die Bedeutung kurzer bzw. kürzerer Formen im 17. und 18. Jahrhundert

Die Bedeutung des Begriffs der sprachlichen Kürze allgemein wird besonders deutlich in zwei sprachlichen Bereichen, die im Rahmen des Korpus intensiv diskutiert werden, nämlich Wortbildung und die Verwendung von – modern gesprochen – Partizipialgruppen.

So werden mit Blick auf das Ideal der Kürze für das Deutsche – mit einem gewissen Sprachchauvinismus – ab dem 17. Jh. immer wieder die deutschen Wortbildungsmöglichkeiten, besonders die der Komposition, zeitgenössisch „Doppelung“, betont. Beispielsweise heißt es bei Schottelius (1663, I: 26), dass dank der „Doppelungen“ „die Teutsche Sprache […] die allerkürzeste und doch die allerwortreichste“ sei, und bei Kramer (1680), der zusätzlich Ableitungsmöglichkeiten nennt:

Gleichwie nun die Italiänisch= oder Toscanische Sprach / wann sie mit unserer Teutschen solte verglichen werden / was die Ableitung belangt / sehr dürfftig ist / also ist sie / samt ihren beyden Schwestern / der Französischen und Spanischen / die Doppelung betreffend / bettel=arm; […] (Kramer 1680: 158–159)

Dagegen ‚besitze‘ die „Teutsche […] Helden=Sprache unerschöpfliche […] Stamm=Wörter=Schätze“ und „auch unausgründliche Herleit= und Doppelungs=Reichthümer / in dero Hervorbringung sie dann gar gelenckig und fix ist“; und die hier zum Vergleich herangezogenen romanischen Sprachen müssen laut Kramer „weit herumschweiffende Umwege suchen / wann sie unsere nachdencklichste Macht=Wörter nur einiger massen andeuten wollen / dieweil ihnen selbige auszudeuten ohne das unmöglich ist.“ Die semantische Dichte, die komplexe Wörter aufgrund ihrer Kürze ermöglichen, wird hier also direkt mit einem starken kommunikativen Wirkungseffekt verbunden und umständlichen, weitschweifigen und damit stilistisch und kommunikativ weniger wertvollen Paraphrasierungen entgegengesetzt.

Mit der vermehrten Verwendung in der Literatursprache von Partizipialgruppen, die allgemein, mit Verweis auf das lateinische und griechische Modell, als Mittel zum kurzen, prägnanten Ausdruck angesehen werden, intensiviert sich ab den 1730er Jahren die zweite in unserem Kontext aufschlussreiche Diskussion. Es herrscht zwar Einigkeit darüber, dass das Deutsche über weniger Partizipialformen als die zeitgenössischen Referenzsprachen – also besonders Latein, Französisch – verfügt, aber es ist umstritten, welche es eigentlich gibt, welche erlaubt sind – zeitgenössisch spricht man von „zierlich“ – und welche zu vermeiden oder eventuell zu fördern sind. Während die so genannten Anti-Participianer u.a. im Gebrauch von satzeröffnenden Partizipialgruppen und Gerundien einen ‚barbarischen‘ Verstoß gegen den deutschen Sprachgeist sehen, unterstützen die Participianer die genannten Verwendungen und den weiteren Ausbau partizipialer Strukturen im deutschen Sprachsystem. Die Diskussion ist höchst kontrovers, obwohl „Kürze“ im Ausdruck nicht nur als Ideal der Rhetorik, sondern besonders auch als Gegenentwurf zur Kanzlei- und literarischen Barocksprache durchgängig positiv bewertet wird (vgl. Polenz 1994: 271–274 und Spitzl-Dupic 2018).

Dieser Hintergrund erleichtert das Verständnis der Behandlung kurzer Formen in dem Text von Christian Friedrich Hempel (?–1757), einer 1754 veröffentlichten Grammatik von ca. 1.400 Seiten.

2 ‚Kürze‘ und kurze Formen in Christian Friedrich Hempels Erleichterte Hoch-Teutsche Sprach-Lehre […] (1754)

Der Autor bezieht sich explizit auf alle zeitgenössisch wichtigen Grammatiken und Lexikologen, wobei er Positionen von z.B. Schottelius (1663), Bödiker (1690), Bödiker / Wippel (1746), Gottsched (1748), Aichinger (1754) zitiert und diskutiert. Er ist jedoch oft ausführlicher und gibt mehr Beispiele an. Die in Hinblick auf kurze Formen verwendeten Termini sind Ellipsis oder Verbeis(z)ung, Weglassung, Auslassung und Contraction, wobei jedoch angemerkt werden muss, dass die Unterschiede verschwommen bleiben und Ellipsis bzw. Verbeiszung und Auslassung als Hyperonyme zu fungieren scheinen.

Im Folgenden sollen nun in diesem Werk genannte kurze Formen – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – mit ihren Funktionen, Daseinsgründen und Wirkungen untersucht werden. Diese Formen entsprechen Ausdrücken, in denen in bestimmten – modern gesprochen – phonologischen, semantischen oder morphosyntaktischen Kontexten Elemente übergangen / ausgelassen / „verbissen“ werden, und dies – auf dem Hintergrund der oben erwähnten sprachpolitischen und sprachkritischen Perspektive und der Topoi Klarheit und Bestimmtheit – manchmal zu Recht, aber meistens, laut Autor, zu Unrecht.

Allgemein sind erlaubt Ausdrücke, in denen laut Hempel, ein Subjekt, und, de facto, meist auch das konjugierte Verb ausgelassen werden und die, laut Autor, sprachübergreifend als Standardformeln existieren, z.B.:

 (1) Guten Morgen

 (2) Ihr Diener (Hempel 1754: 1248–1249)

Kommunikativ angemessen, laut Hempel „gebräuchlich“, sind auch Auslassungen von einem Modalverb (plus Subjekt), wenn sie Zeichen eines „starken Affects“ sind, z.B.:

 (3) Was? Ich (soll) auf den trojanischen Feldern sterben?

Auch bestimmte grammatische Konfigurationen können aus morphosyntaktischen und ontologischen Gründen zur Annahme von Auslassungen führen. So nimmt Hempel eine elliptische Konstruktion bei substantivierten Adjektiven an, z.B.

 (4) meine Schöne (ebd.: 778)

da ein substantiviertes Adjektiv eine nicht bezeichnete Substanz impliziert.

Meistens jedoch kritisiert Hempel kurze Formen, und dies u.a. mit dem Hinweis auf einen Verlust von Deutlichkeit, einem, wie gesehen, zeitgenössisch zentralen Topos. Problematisch sei in diesem Sinn z.B., wenn Adjektive in „Redensarten“ ausgelassen werden:

 (5) er hat keine Erziehung, d.i. keine gute (ebd.: 736)

Problematisch sei auch die – in der zeitgenössischen Dichtung tatsächlich häufig vorkommenden – Auslassung des konjugierten Hilfsverbs, da dadurch die Information zu Tempus und Genus des Verbs verloren gehe, z.B.:

 (6) Da ich vernommen (ebd.: 991)

Deutlichkeit geht Hempels Erachtens auch verloren bei der „Contraction“ von Silben, z.B.:

 (7) rein – raus; rauf, runter (ebd.: 1239)

Neben dem Verlust von Deutlichkeit, der z.B. in (5) um so weniger einsichtig ist, als Mitte des 18. Jhs. polylexikale „Redensarten“ schon in sprachtheoretischen Schriften behandelt werden, ist ein weiteres Argument gegen ‚Kürze‘ ein Verstoß gegen die „Analogie der Sprache“. Die Normvorstellung ist hier, dass die Regeln einer Sprache möglichst durchgängig gelten, sodass Ausnahmen von Regeln Ansatzpunkte für Kritik sind. Auf diesem Hintergrund fordert Hempel, die Konjunktion daß nach Verben der Wahrnehmung und des Sagens nie auszulassen, da sie nicht bei allen Verben möglich ist, z.B. nicht bei riechen, verschweigen (vgl. ebd.: 1021).

 

Ebenfalls nicht dem Sprachsystem entsprechend und darüber hinaus dissonant sind laut Hempel Auslassungen von Flexionsmarkierungen

 (8) ich halt(e) […] geh(e)n, steh(e)n etc. (ebd.: 475)

und „Contractionen“, besonders von dem Pronomen es mit Verben, Konjunktionen oder Pronomina:

 (9) ich habs, weils warm ist, wos, sos (ebd.)

Auch die Verwendung von Partizipien wird natürlich diskutiert und grundsätzlich als Mittel der sprachlichen Kürze und „Zierlichkeit“ vorgestellt, aber Hempel warnt vor allem mit den schon oben skizzierten Argumenten vor einem nicht sprachgerechten, aber auch nicht sachgerechten Gebrauch, der auch aus der beim Volk fehlenden Unterscheidung zwischen aktivischem und passivischem Sinn entstehe (ebd.: 1052). So führt er u.a. als Missbrauch Ausdrücke an wie kraft des tragenden Amtes anstelle Kraft des Amtes, das von jemandem getragen wird, und wohlruhende Nacht, da die Nacht ja nicht ruhe (ebd.: 1053).

Wortbildung behandelt Hempel ebenfalls ausführlich, wobei auch er das „unendliche Potential“ des Deutschen lobt, sich aber daneben kritisch gegenüber Bildungen äußert, die er als „Wort=Gespenster[…]“ bezeichnet, z.B. Stürzebecher, das als Synonym zu Trunkenbold verwendet werde, „da doch der Becher ja nicht stürzet, sondern gestürzet wird“ (ebd.: 155).

Sowohl der Missbrauch von Partizipien als auch von Wortbildung führt seines Erachtens zu sprachlicher „Härte“, womit zusätzlich zu der gerade illustrierten mangelhaften, inkohärenten Aneinanderreihung von Begriffen auch fehlende Euphonie gemeint ist.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Hempel eine große Varietät kurzer Formen im Deutschen identifiziert, für die er im Allgemeinen explizit, auf jeden Fall aber implizit, die Möglichkeit einer längeren Variante angibt. Die Akzeptanz der kürzeren Formen gründet sich vor allem auf eine gewisse Häufigkeit ihres Vorkommens. Die meisten kurzen Formen werden jedoch kritisiert. Die Argumente sind ihre fehlende Deutlichkeit und Bestimmtheit, ihre dem Sprachsystem nicht gerechte Form, Dissonanz, semantische Inkohärenz („Härte“) und ihr Ursprung in der gesprochen Sprache des „Pöbels“. Modern könnte man von einer hyperkorrektiven Haltung gegenüber der Muttersprache sprechen, erklären lässt sich diese natürlich aus der Motivation, das Sprachverhalten deutscher Sprecher / Schreiber zu „verbessern“, um die Sprache politisch und literarisch aufzuwerten.

Ich wende mich nun der zweibändigen Grammatik (1836–1839) des Schweizer Germanisten Max Wilhelm Götzinger (1799–1856) zu. Dieses Werk entsteht in einem Kontext, in dem die Fundamente der deutschen Schulgrammatik schon gefestigt, die historische und historisch-vergleichende Grammatik institutionalisiert sind und das Deutsche anderen europäischen Sprachen als ebenbürtig angesehen wird. Der Kontext der Sprachuntersuchung erlaubt also prinzipiell ein weniger sprachnormatives Vorgehen als wir es bei Hempel beobachtet haben.