Der Graf

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Dann begann der Kampf Mann gegen Mann. In schnellem Wechsel ritten die Recken an der Tribüne vorbei und trafen direkt vor Anna aufeinander. Ein Ritter, der vom Pferd fiel, oder dessen Pferd manövrierunfähig wurde, schied aus. Lanzen splitterten, Pferde bäumten sich vor Schmerzen auf, so mancher Ritter stürzte, ohne vom Gegner getroffen zu sein, weil er den Schwung der eigenen schweren Lanze unterschätzt hatte. Der Ritter mit der roten Rose auf dem schwarzen Umhang preschte schneller heran als alle anderen, setzte den Schwung seines Pferdes zielsicher in den Lanzenhieb um und war so geschickt in seinen Ausweichbewegungen und dabei wie verschmolzen mit seinem Pferd, dass ihn kein einziger feindlicher Lanzenhieb erreichte. Als letztes verbliebenes Kämpferpaar trafen Annas Bruder Adolf und der Bräutigam aufeinander. Die beiden hoben in rasendem Galopp gleichzeitig ihre Lanzen, Holz krachte auf Holz, beide Lanzen zerbarsten mit einem lauten Knirschen, so dass die Holzsplitter bis auf die Tribüne flogen und Tante Hildegardis einen Schreckensschrei ausstieß. Die Pferde scheuten, doch beiden Rittern gelang es mit Mühe, im Sattel zu bleiben und ihre edlen Rösser wieder zu beruhigen.

Da stand Graf Otto von seinem Platz auf der Tribüne auf und verkündete lachend das Ende des Kampfes:

„Wir haben zwei Gewinner, wir wollen doch nicht den Verlust so edler Ritter und Pferde und schon gar nicht den Verlust von noch mehr Lanzen riskieren!“

Das Publikum lachte und spendete Beifall. Der Graf zur Lippe aber öffnete sein Visier, sein schweißüberströmtes Gesicht war ernst: „Mit Verlaub, edler Graf von Schaumburg, es steht mir nicht an, Euch zu widersprechen, aber in einem Ritterkampf kann es keine zwei Sieger geben, bitte erlaubt uns, den Kampf zu Ende zu bringen.“

„Er hat Recht, Vater“, sprang ihm sein Kontrahent und zukünftiger Schwager zur Seite, „lass uns den endgültigen Sieger in einem Wettrennen ermitteln!“

„Ja, ja, ein Pferderennen!“, die anderen jungen Ritter stimmten Adolf begeistert zu, „lasst den Besten gewinnen!“

Graf Otto ließ sich erweichen und bestimmte die Strecke für die beiden Reiter bis zum Rintelner Vorwerk und zurück. Den Wachposten sollten sie ein „Ihr seid mein Zeuge!“ zurufen und vor der Tribüne sollte ein buntes Band gespannt werden, um das Ziel zu markieren. Den Pferden wurden die Rüstungen abgenommen und auch die Reiter verzichteten auf Helm, Harnisch und Beinschienen. Schon gab Graf Otto das Startzeichen und die beiden Pferde stoben über die feuchten Wiesen davon, herausgerissene Grassoden im hohen Bogen hinter sich lassend. Sie erreichten das Brückenhaus fast gleichauf. Auf dem Rückweg konnte der Blitz seinen winzigen Vorsprung weiter vergrößern. In weitem Sprung setzte der Graf über eine niedrige Hecke, da hörte er hinter sich ein Schnauben und einen dumpfen Schlag. Er sah sich um: Adolfs Pferd hatte vor dem kleinen Hindernis gescheut und seinen Reiter abgeworfen. Der Graf zügelte den ‚Blitz‘ und kehrte um. Adolf erhob sich gerade aus eigener Kraft und schien nicht ernsthaft verletzt. Der Graf setzte dem verängstigten Pferd nach und brachte es seinem Besitzer zurück. Statt eines Dankes jedoch schwang sich dieser behände wieder in den Sattel, galoppierte davon und rief zurück:

„Bis dann, Schwager, wir sehen uns vor der Schaumburg!“

Der Graf wendete den Blitz und nahm verbissen die Verfolgung auf. Wie er Turniere hasste! Was bildete sich dieser Adolf von Schaumburg ein? Gab es keine Ehre auf einem Turnier? Aber wie auch immer, wenn es für Adolf nur ein Spiel war, gewinnen würde er, Bernhard, dieses Spiel. Er beugte sich zu den Ohren seines Hengstes hinunter und flüsterte ihm leise zu, dass es nun um alles gehe, dass sie beide gewinnen müssten, gewinnen, gewinnen, gewinnen …

Der ‚Blitz‘ machte seinem Namen Ehre, kurz vor der Tribüne lag er mit Adolfs Pferd gleichauf und durchschlug einen Atemzug später als Erster das bunte Band.

Unter tosendem Beifall trat der Graf zur Lippe mit ernstem Gesicht vor die Tribüne und Anna erhob sich, um ihm den Siegerkranz aus Eichenlaub aufs Haupt zu setzen. Aus den Augenwinkeln sah er den lachenden Adolf. Schon wurden Rufe laut:

„Der Sieger soll die Braut küssen!“

„Ja, Braut und Bräutigam, besiegelt den Sieg mit einem Kuss!“

Anna stand etwas erhöht auf der Balustrade, der Graf sah zu ihr auf, einen unsicheren Moment lang blickten sie sich in die Augen. Aber da Anna keinerlei Anstalten machte, sich hinunter zu beugen, ergriff der Graf ihre Hand und deutete einen ritterlichen Handkuss an.

In das Lachen der Zuschauer hinein erhob sich Graf Otto und gebot ihnen mit einer Handbewegung zu schweigen.

„Meinen Glückwunsch, lieber Bernhard! Du hast deiner Braut und auch mir alle Ehre gemacht! So möchte ich dir als Zeichen meiner Hochachtung den ‚Blitz‘ zum Geschenk machen, denn selten habe ich Pferd und Reiter derartig miteinander verschmolzen gesehen. Dieses Pferd sei dein Pferd, Schwiegersohn!“

Der Graf spürte Schamesröte in seinem Gesicht aufsteigen. Er schloss kurz die Augen. Ein Habenichts, ein Bettler war er, stand vor einer Braut, die ihn verachtete, und bekam das beste Pferd der Welt zum Geschenk, dieses Tier, von dem er schon am ersten Tage ihrer Bekanntschaft gewusst hatte, dass es nur für ihn auf die Welt gekommen war!

Er zwang sich zu einem Lächeln und zu einer Verbeugung.

„Ihr seht mich beschämt, Graf Otto! Aber es ist wahr, Schwiegervater, eine größere Freude hättet Ihr mir nicht machen können!“

Bei seinen letzten Worten sah er, wie Anna sich wegdrehte.

***

In dem Schlafgemach, das für das Brautpaar hergerichtet worden war, befand sich ein prächtiger Alkoven mit einem geschnitzten Betthimmel aus Eiche. Das Holz war glänzend poliert, ein seidener Vorhang elegant an der Seite drapiert. Die Bettdecke war mit Daunenfedern gefüllt und mit feinstem Damast bezogen. Auf dem Boden waren Binsen, duftendes Basilikum und Rosenblätter verstreut.

Die Hochzeitsgesellschaft drängte lärmend hinter dem jungen Paar hinein. Graf Otto erhob seinen Becher und brachte die anderen zum Schweigen.

„Lasst uns ein letztes Mal auf das junge Paar anstoßen, möge die Verbindung mit Gottes Segen fruchtbar sein!“

Alle stießen lauthals an und ließen den Bräutigam und seine Manneskraft hochleben. Anna stand verloren mitten im Zimmer, so zerbrechlich in ihrem blassrosa Seidenkleid, das am Dekolleté mit hunderten von kleinen Perlen besetzt war, mit einer Brautkrone auf dem Kopf, die mit dem gleichen rosa Seidenstoff bezogen war und auf deren sich kreuzenden Bügeln über dem streng zurückgekämmten Haar ebenfalls kleine Perlen erstrahlten. Da wurde sie unversehens von drei Mägden umringt, die sie zum Alkoven hin drängten und notdürftig durch ein großes Leinentuch vor den neugierigen Blicken der Hochzeitsgesellschaft geschützt, begannen die Frauen, sie zur Nacht umzukleiden. Als Anna sich mit hochrotem Kopf unter ihrer weißen Haube in der hintersten Ecke des Alkovens unter der Daunendecke verschanzt hatte, wurde auch Bernhard lachend von den anderen in Richtung Alkoven gedrängt und genötigt, seiner Frau im Bette beizuwohnen. Er entledigte sich seines Federbaretts, des blaugoldenen Samtrockes und der edlen Schnabelschuhe und schlüpfte, weil die Brüder und Cousins von Anna keine Ruhe gaben, ebenfalls unter die Decke, peinlich darauf bedacht, Annas Körper nicht zu berühren.

Dann scheuchte Graf Otto alle hinaus:

„Mögen sie nun die Ehe vollziehen!“

Kichernd und grölend zogen die Gäste wieder in den großen Saal.

An der Rückwand des Alkovens entdeckte Bernhard einen kleinen vergitterten Durchlass in der Holzvertäfelung, der wohl auf den Flur hinausging. Es fand sich keine Tür oder Klappe, um diesen Durchlass zu verschließen. Zwar konnte er auf dem dunklen Flur niemanden erkennen, musste nun aber wohl wirklich damit rechnen, dass der korrekte Vollzug der Ehe kontrolliert und dokumentiert wurde, wie Möllenbeck vorausgesagt hatte. Er war froh, dass der Kanzler ihn mehrfach zu den Hübscherinnen von Paderborn mitgenommen hatte. So hoffte er, die Situation meistern zu können. Nun denn.

Als er aber in Annas panisches Gesicht sah, setze er sich auf und streckte die Füße wieder auf den Boden.

„Beruhigt Euch, Anna, ich werde Euch keine Gewalt antun. Ich gehe jetzt einfach zum Fenster und werde noch ein wenig die frische Nachtluft genießen.“

Er erhob sich wieder, ging durch den Raum, ohne sich noch einmal nach ihr umzusehen, öffnete ein Fenster und sog die würzige Luft ein.

„Ach, was für eine herrliche Nacht! Spürt Ihr den Rosenduft aus Eurem Garten? Man kann hinunter sehen bis zur Weser und das Mondlicht glitzert auf dem Wasser. Der Himmel wird uns beistehen in dieser Nacht.“

Anna blieb stumm.

„Ich höre eine Grille. Das verheißt gutes Wetter, nicht wahr? So Gott will, wird es eine gute Ernte geben.“

Anna blieb stumm.

„Ist Euch nicht zu warm? Dort hinten in diesem Alkoven ist es arg stickig. Die Luft hier ist herrlich frisch. Ihr solltet herkommen und auch diese Sommernacht genießen. Oh, ich glaube, ich sehe sogar ein paar Glühwürmchen.“

Anna beobachtete ihn eine Weile. Er drehte ihr den Rücken zu. Er war so groß, mit starken Schultern, die schwarzen Locken fielen ungebändigt auf sein Hochzeitshemd aus gelber Seide. Die weiten Ärmel hatte er zurückgeschlagen, so dass seine gebräunten Unterarme sichtbar wurden, als er das Fenster öffnete. Wie bei einem Bauern, dachte Anna, so braun ist seine Haut, als wenn er Tag für Tag der Sonne ausgesetzt wäre.

Es dauerte nicht lange, da wurde die Sehnsucht nach der frischen Luft übermächtig. Mit nackten Füßen lief Anna über den Holzfußboden. Er rückte ein Stück zur Seite und ließ sie hinausschauen. Bernhard grinste sie spitzbübisch von der Seite an: „Na gut, das mit den Glühwürmchen war eine Lüge.“

 

Er vermied jede Berührung, bis sie durch den kühlen Luftzug etwas schauderte. Da legte er vorsichtig seinen Arm um ihre Schultern. Sie zuckte nicht zurück, sondern zeigte ihm das Dorf auf der anderen Seite des Flusses und die lippischen Hügel in der Ferne. So standen sie eine Weile, Annas Herz schlug viel zu schnell, dennoch suchte sie bald die Nähe und die Wärme seines Körpers. Sie ließ es zu, dass er sie auf die Wange küsste und regte sich auch nicht, als seine Lippen sanft forschend ihren Hals erkundeten. Nach einer Weile hob er sie vorsichtig an und trug sie zurück zum Bett. Sie schaute ihn zwar sehr ernst mit ihren wasserblauen Augen an, aber sie wehrte sich nicht. Er legte sie oben auf den vielen Kissen ab und setzte sich auf die Bettkante. Jetzt lächelte sie sogar und griff vorsichtig in seine Locken.

„Ich habe noch nie so schwarze Haare gesehen.“

Bernhard nahm ihr die Haube ab und löste ihren langen blonden Zopf. Er verflocht eine ihrer blonden Strähnen mit seinen Locken und kam langsam ihrem Gesicht näher. Er küsste sie auf beide Wangen und streichelte über ihren Hals und ihre Brüste. Er erkundete mit seinen Händen ihren Körper, fand zu Annas Erstaunen viele Plätze, die wohl noch nie zuvor ein anderer Mensch ertastet hatte. Sie rührte sich nicht, vor allem bemüht, zumindest weiter zu atmen. Endlich entledigte er sich seiner Beinkleider. Dann kam er über sie. Ihr Herz raste und sie meinte, in der Hitze ersticken zu müssen. Sein Hals war ganz nah an ihrem Mund. Er roch gut, so gut, dass sie den Drang spürte, in seine Haut beißen zu wollen. Sie schämte sich für diesen Gedanken und tat es nicht. Stattdessen begann sie, leise zu beten: „Gott, steh mir bei“ und „Mutter Maria, verlass mich nicht“. Er liebkoste ihren Körper und flüsterte ihr Zärtlichkeiten ins Ohr und eine schwarze Locke strich über ihre betenden Lippen. Plötzlich fühlte sie sein warmes Glied, das in sie eindrang, und einen leichten Schmerz. In ihrer Angst verkrampfte sie sich mehr und mehr. Mit einer Hand tastete sie nach ihrem Rosenkranz und fand ihn nicht. Die Hand krallte sich im Laken fest.

Seine Bewegungen wurden rhythmisch, er stöhnte leise. Es dauerte viel länger, als Anna das bei den Hengsten beobachtet hatte. Da hörte sie ein Hüsteln, das eindeutig vom Flur hinter dem Holzgitter herkam. Vor Scham wollte sie sich auflösen und konnte doch nur die Augen schließen. Auch Bernhard hatte offensichtlich das Hüsteln vernommen, seine Bewegungen wurden hektischer und ein dumpfer Schmerz durchzog ihren Unterleib bei jedem Stoß.

Es erschien Anna eine Ewigkeit, bis er sich endlich entspannte und schweißgebadet von ihr abließ. Er küsste noch einmal ihre Hände, drehte sich zur Seite und löschte die Kerze. Alsbald schien er in einen tiefen Schlummer gefallen zu sein. Anna spürte die Feuchtigkeit zwischen ihren Schenkeln, von der sie nicht wusste, ob es ihr Blut oder sein Samen oder beides war. Sie wagte nicht, sich zu rühren aus Angst vor den stummen Zeugen auf dem Gang, auch hätte sie den Alkoven nur verlassen können, wenn sie über den schlafenden Bernhard gestiegen wäre. So blieb sie liegen, steif wie eine Wachspuppe und wartete auf den Morgen.

***

Annas Brautschatz füllte fünf große Wagen, gezogen von jeweils zwei kräftigen Pferden, die man mit fröhlichen bunten Bändern geschmückt hatte, um aller Welt kund zu tun, dass hier ein Hochzeitszug unterwegs war. Da waren Truhen mit Leinen- und Seidenstoffen, Bettzeug und Tischwäsche, Truhen mit Kleidern aus Wolle und Brokat, Stickereien, Spitzhüte mit zarten Schleiern, Daunen und Schafwolle, wieder andere mit feinstem Kupfergeschirr und Tonwaren, gläsernen Krügen und Schalen, silbernen Löffeln, Kerzenhaltern und kostbarem Bienenwachs, außerdem ein großer Spiegel und eine Schatulle gefüllt mit feinstem alten Goldschmuck, der aus dem fernen Holstein von Annas Großmutter stammte. Hinterdrein zogen Ochsengespanne fünf Wagen mit Vorräten, vor allem Getreide, ging es doch in ein geplündertes, geschundenes Land, dessen Ernten zum großen Teil vernichtet waren. Den Schluss des langen Zuges bildeten ein paar Viehtreiber mit Kühen, Ziegen und Schafen.

Die Straßen waren wieder passierbar geworden, die böhmischen Söldner waren in alle Winde zerstreut und hatten sich neue Kriegsherren gesucht, nachdem der Erzbischof von Köln keinen Sold mehr zahlen konnte und zwischenzeitlich sogar hatte fürchten müssen, dass sich die gottlose Meute gegen ihn selbst und die Stadt Köln wenden könnte.

Nachdem der Wagenzug die Weser auf der Brücke von Rinteln überquert hatte, wurde nur allzu bald deutlich, wie sehr das Lipperland unter dem Böhmensturm gelitten hatte. Kein Dorf ohne zerstörte Felder oder verbrannte Häuser, kein Dorf, das nicht mindestens einen Toten zu beklagen hatte, und kein Dorf, in dem man gewusst hätte, wie nun der nächste Winter zu überstehen sei.

Am dritten Tag näherten sie sich Blomberg, der ehemals so blühenden Residenz des Grafen zur Lippe.

Am Ende des weiten Tals thronte die Burg auf einem steilen Hügel. Mit ihren mächtigen Bruchsteinmauern sah sie von weitem aus wie ein Fels, gekrönt von kunstvollem Fachwerk und einem leuchtend roten Dach. Sie sah völlig unversehrt aus.

Die letzten Dörfer, die sie durchquerten, waren praktisch dem Erdboden gleichgemacht. Überall schlug ihnen der Geruch von Brand und Fäulnis entgegen. Die Dorfbewohner kamen aus ihren notdürftig errichteten Hütten und Unterständen und standen stumm am Straßenrand. Die von Hunger und Müdigkeit gezeichneten Gesichter starrten auf den Zug von prächtigen Pferden und Wagen, nur wenige neigten den Kopf zum Gruß. Der Graf vermied es, in die Gesichter der Menschen zu sehen, und ritt wortlos vorbei. Dann war die Stadt auf dem Hügel ganz nah. Die fest gefügte Mauer aus grauen Feldsteinen mit ihren wuchtigen Türmen schien unzerstört. Die dichte Hecke, die sich ganz um die Stadt zog und die Ufer des Wassergrabens waren jedoch an vielen Stellen zertrampelt und verwüstet.

Sie überquerten den Graben beim Vorwerk, dessen Dächer zum größten Teil ausgebrannt waren, und es ging steil bergauf zum unteren Stadttor.

Das Tor stand offen, es war keine Wache zu sehen. Sie betraten die Stadt, ohne anzuhalten. Links neben der Stadtmauer war eine enge Gasse mit unversehrten kleinen Häuschen, die sich seltsam unwirklich von den schwarz verkohlten Trümmern der übrigen Straßen abhoben.

Sie ritten den Steinweg hinauf. Auf einem Grundstück ragten Balken in Form eines riesigen Kreuzes wie ein Mahnmal in den Himmel. Zwischen den Resten der Häuser liefen Schweine und Hühner umher, die nach Nahrung suchten. Vereinzelt sah man Gruppen von Frauen und Männern, die verkohlte Balken beiseite räumten oder Unterstände bauten. Als sie die Pferde und Wagen sahen, ließen sie von ihrer Arbeit ab und schlossen sich dem Zug an. Auch hier war kaum ein Wort der Begrüßung zu hören.

Die Farbe aus Annas Gesicht war gewichen, mit weit aufgerissenen Augen schaute sie sich um. Endlich erreichten sie den Marktplatz, aber auch hier nur ein Bild der Zerstörung. In der Mitte des Platzes war ein großer Haufen mit Holzbalken und Brettern aufgeschichtet, die den Brand halbwegs unversehrt überstanden hatten und vielleicht noch brauchbar waren.

Der Platz füllte sich schnell mit Menschen, die alle stumm auf den Grafen schauten.

Aus den Ruinen des Rathauses trat der Bürgermeister. Die Begrüßung fiel zu laut und überschwänglich aus:

„Willkommen zu Hause, Herr Graf, und ein herzliches Willkommen auch Ihrer schönen jungen Frau! Nun wird alles gut werden. Gott sei Dank seid Ihr am Leben! Wir werden mit Gottes Hilfe bald bessere Zeiten haben.“

Der Graf nickte dem Bürgermeister beifällig zu, schwang sich direkt vom Pferd auf den Holzstapel und wandte sich an die Menschenmenge vor ihm:

„Blomberger Bürger! Ich stehe tief in Eurer Schuld. Eine Horde von Barbaren hat unsere blühende Stadt überfallen und ohne Gnade Männer, Frauen und Kinder dahingemetzelt, Häuser und Felder zerstört und das Vieh geschlachtet. Euch ist großes Unrecht widerfahren und ich habe Euch nicht schützen können. Ich weiß, ich bin jung, aber dennoch will ich mein Leben und alles, was ich habe, einsetzen für diese Stadt. Diejenigen von Euch, die meinen Vater noch gekannt haben, wissen, dass er stets seine ganze Kraft für das Lipperland gegeben hat, so, wie es danach auch unser verehrter Kanzler Möllenbeck tat …“

Beifälliges Gemurmel war zu hören.

„… und so will ich diesen edlen Männern nacheifern. Ich liebe diese Stadt, unser aller Heimat. Sie darf nicht untergehen! Auch wenn ihr alles verloren habt, die Heimat im Herzen kann euch niemand nehmen. Gemeinsam werden wir die Stadt für uns und unsere Kinder wieder aufbauen und sie zu dem machen, was sie einmal war, eine schöne, blühende Residenz, die Blume des Lipperlandes. So habe ich beschlossen, dass alle Einnahmen, die wir in den nächsten Jahren aus dem Wegezoll am Hellweg und an der Straße nach Lemgo erhalten, in den Wiederaufbau der Stadt fließen sollen. Außerdem mag von Stund‘ an jeder Blomberger Bürger Holz schlagen in den gräflichen Wäldern am Winterberge und im Hurn, sowohl zum Aufbau der Häuser als auch im Winter, falls es nötig sein wird, zum Heizen. Und Pfarrer Glede wird Mittel erhalten, um denen zu helfen, die alles verloren haben, damit, so Gott will, niemand Hungers sterben muss.“

Viele der Menschen hatten mittlerweile den Kopf gehoben und sahen den Grafen an, hier und da sah man sogar ein zustimmendes Nicken. Der Graf fuhr noch einmal mit lauterer Stimme und erhobenen Händen fort:

„Aber ohne euch bin ich nichts, nur wenn auch ihr nicht aufgebt trotz allen Unrechts und anpackt, dann können wir gemeinsam einen neuen Anfang machen! Gott wird uns beistehen in dieser schweren Stunde und uns Kraft geben.“

Der Graf drehte sich kurz um, reichte Anna die Hand und zog sie auf den Holzstapel. Dann sagte er:

„Und nun, liebe Blomberger, möchte ich euch noch meine Frau, Anna von Schaumburg, vorstellen, auch sie wird ihre ganze Kraft in unsere große Aufgabe legen. Möge unser junges Glück ein gutes Vorzeichen für den Neuanfang in unserer Stadt sein!“

Als der Graf geendet hatte, entspannten sich die Gesichter, vereinzelt war sogar „Es lebe der Graf und die Gräfin!“ zu hören. Die Menge zerstreute sich langsam und die Bürger gingen unter leisem Gemurmel wieder an die Arbeit.

Anna atmete tief durch. Noch immer standen sie beide auf dem Holzstapel und der Graf hatte seinen Arm um ihre Taille gelegt, so dass sie sich sicher fühlte trotz der wackligen Bohlen unter ihren Füßen, so, als sei sie genau am richtigen Platz. Skeptisch und bewundernd zugleich schaute sie auf zu ihrem jungen Ehemann. Er hatte ein unglaubliches Talent, Menschen auf seine Seite zu ziehen. Wie gewinnend dieser Mann sein konnte! Wie vertrauenerweckend! Als wäre er ganz und gar, mit Körper und Seele und all seiner Kraft nur für seine Blomberger da!

In den wenigen Wochen ihrer Ehe hatte Anna schon so viele Facetten seines Wesens erlebt: Sein Lächeln war selten warmherzig wie heute, vielmehr war es meistens spöttisch, oft hochfahrend und arrogant. Und selbst wenn sie glaubte, Wärme und Zuneigung zu erfahren, so erschrak sie bei näherem Hinsehen wieder über das dunkle Feuer in seinen Pupillen. Er konnte stolz und unnahbar wirken und einen Augenblick später wieder hilflos erscheinen. Oft meinte sie gegenläufige Gefühle in seiner Miene zu entdecken, Liebe und Hass, abgeklärte Überlegenheit und mühsam kontrollierte Wut, kindliche Unsicherheit und überlegene Güte, all das war gleichzeitig in seinem Gesicht zu lesen. Anna wurde einfach nicht schlau aus ihm. Sie bewunderte und verabscheute ihren jungen Gatten, mal empfand sie leise Zärtlichkeit und dann doch wieder Angst. Sie ertappte sich dabei, dass sie es vermied, ihm direkt in die Augen zu sehen, um ihrer eignen Verunsicherung zu entgehen. Sie war nicht die einzige in der Umgebung des Grafen, die ihren Blick oft gesenkt hielt, was ihm trotz seiner Jugendlichkeit eine Aura von Macht und Einsamkeit verschaffte.

In dem Moment war er von dem Holz hinunter gesprungen und hob sie im hohen Bogen zu sich herab.

„Komm, Anna, meine Liebe, ich will dir endlich dein neues Zuhause zeigen! Es wird hier bald wieder ganz anders aussehen, glaub mir.“

Heute konnte sie ihm gut in die Augen sehen.

Sie führten die Pferde am Zügel über den weiten Platz mit der Lehenslinde, den Weg hinauf zum inneren Tor der Burg. Auch dieses Tor stand offen, Wachen waren nicht zu sehen. Der leicht nach hinten ansteigende Hof war übersät mit Mist, zerbrochenen Möbeln und Scherben. Die Tür zu den Pferdeställen zur Linken stand auf, am Gesindehaus daneben war die Tür ganz zerschlagen. Am Haupthaus hinter dem Brunnen waren viele Fensterrahmen halb oder ganz aus ihren Angeln gerissen. Das Fachwerk war schwarz von Ruß. Nur der Burgfried und der Palas zur Rechten mit dem Rittersaal schienen weitgehend unversehrt. Nirgends war ein Mensch zu sehen, kein Laut zu hören, Totenstille. Sie hielten ihre Pferde am Zaum, blieben unter dem Torbogen stehen und starrten fassungslos auf die Szenerie. Hinter ihnen zwängte sich keuchend der Bürgermeister zwischen den Wagen mit Annas Mitgift hindurch.

 

„Verzeiht, Euer Gnaden, verzeiht, dass ich Euch nicht gleich berichtet habe! Wir wussten ja nicht, dass Ihr heute zurückkehrt, sonst hätten wir …“

„Waterbecker!“, der Graf zog sein Pferd in den Hof hinein, „was um Himmels willen ist hier geschehen? Wo sind die Leute?“

„Alle tot, Herr Graf!“

„… Alle?“

„Der junge Walter, der Knappe, kam nach ein paar Tagen aus dem Wald. Er hat mitgeholfen, die Toten hier zu bestatten. Aber es war zu viel für den Jungen. Die Kriegsmeute hatte manche enthauptet und die Köpfe hier im Hof umher gerollt. Jedenfalls konnten wir die Leichenteile gar nicht sicher zusammenfügen. Einige hatten sie auch angezündet, die waren bis zur Unkenntlichkeit verbrannt und viele Frauen waren geschändet.“

Der Bürgermeister blickte zu Boden und brauchte einen Moment, um sich wieder zu fassen. Die Ankömmlinge von der Schaumburg hatten ihm mit schreckgeweiteten Augen zugehört und der Graf schüttelte nur den Kopf. Waterbecker fuhr fort:

„Also für den Walter war das nichts, er ist ja fast noch ein Kind. Aber er hat geholfen, die Leichen auf dem Kirchhof zu begraben. Wir haben ein großes Grab für alle ausgehoben und Pfarrer Glede lebt, also haben sie ein christliches Begräbnis bekommen, ihre Seelen ruhen in Frieden … Aber dann habe ich den Walter zum Vorwerk ins Tal geschickt, es ist doch Erntezeit, dort wird jetzt auch jede helfende Hand gebraucht, um das wenige zu ernten, was die Barbaren übrig gelassen haben. Und, na ja, die ganze Stadt liegt in Trümmern … da haben wir hier in der Burg noch nicht angefangen …“

„Es ist gut, Waterbecker, ich danke Euch, dass Ihr in diesem schrecklichen Unglück so umsichtig gehandelt habt.“

Und mehr zu sich selbst: „Mein Gott, ich wusste doch nicht, dass es so schlimm ist … , ich … ich hätte niemals fortgehen dürfen in jener Nacht. Auch der alte Burgvogt ist tot?“

Waterbecker nickte nur.

Der Graf schloss kurz die Augen.

„Liebste Anna, so einen Anfang hast du nicht verdient.“

Anna blickte in die Runde, als wollte sie eine Auflistung der Zerstörung machen.

„Es ist schrecklich, Bernhard, aber ich bin sicher, Gott erwartet mit dieser Prüfung von uns, dass wir stark sind. Die Menschen hier brauchen uns, die Burg steht noch, wir müssen anfangen!“

Der Graf sah verwundert auf seine Frau, bisher hatte er sie eher als unsicher und verschüchtert erlebt. Es würde wohl noch eine Weile dauern, bis sie sich richtig kennengelernt hatten. Als Bürgermeister Waterbecker bat, sich zurückziehen zu dürfen, gab er ihm noch mit, nach Walter zu schicken, er wünschte sich doch sehr, wenigstens ihn als alten Getreuen an seiner Seite zu haben.

Die zwölf Knechte, die Anna zum Transport ihrer Habe von der Schaumburg mitgenommen hatte, machten sich daran, den Pferdestall soweit herzurichten, dass man die Pferde unterstellen und versorgen konnte.

Der Graf und seine Frau betraten die große Halle. Die Decken waren rußgeschwärzt wie das Fachwerk draußen, die Wandmalereien kaum noch zu erkennen. In der Mitte war eine Art Scheiterhaufen aufgeschichtet aus Möbeln, Wandteppichen, Bettzeug und Leinenstoffen. Aus welchem Grund auch immer war dieses Feuer aber vorzeitig erloschen, sogar einige Leintücher waren fast erhalten, nur an den Rändern ein wenig angesengt. Diesem Umstand war es wohl zu verdanken, dass die Burg anders als die meisten Häuser in der Stadt nicht abgebrannt war, denn hätte dieses Feuer je die Treppe erreicht, so hätten sicher das obere Fachwerk und der Dachstuhl im Handumdrehen in Flammen gestanden.

Anna zog Leintücher aus dem Haufen und schüttelte die Asche ab. Sie nahm den Grafen bei der Hand. In der angrenzenden Küche war zwar alles voller Schmutz, aber die Gerätschaften zum Teil noch vorhanden. Anna wischte versonnen einige Kupferpfannen ab, die an der Wand hingen.

„Bernhard, ich brauche noch heute zwei oder drei Mägde, und wir werden das alles hier ganz schnell wieder bewohnbar machen. Noch heute, hörst du, je länger wir auf dieses schwarze Unglück schauen müssen, desto trauriger werden wir nur.“

Von der Halle her war ein leiser Ruf zu vernehmen:

„Herr Graf?“

Dort stand Walter. Der Graf schloss seinen Knappen in die Arme.

„Herr Graf, Ihr lebt, welch ein Segen!“

„Ich lebe, Walter, und verheiratet bin ich auch, komm und begrüße Anna, die neue Gräfin zur Lippe!“

Walter verbeugte sich artig.

Gemeinsam gingen sie durch die anderen Räume: den großen Rittersaal, das Erkerzimmer, die Kammern, nichts als Brandgeruch und Ruß, zerstörte Möbel und zerrissenes Tuch. Auch die kleine Kapelle neben dem inneren Tor war verwüstet, selbst das Altarbild hatte man mit einer Axt in kleine Stücke gehackt.

Als sie wieder im Hof ankamen, sagte der Graf: „Walter, ich hätte gleich einen Auftrag für dich. Kannst du dich in der Stadt umhören, ob ein paar junge Frauen bereit wären, für die Gräfin als Magd zu arbeiten, möglichst heute noch? Und wie du siehst, haben wir Knechte von der Schaumburg mitgebracht. Gemeinsam werden wir hier bald die gröbsten Schäden ausgebessert haben. Weißt du, ob der Brunnen noch intakt ist? Das werden wir untersuchen müssen.“

„Verzeiht, Herr Graf, ich hätte … ich konnte nicht … allein …“

„Ich weiß, Walter, der Bürgermeister hat mir schon berichtet, es muss schrecklich gewesen sein.“

In den nächsten Tagen übernahm Anna das Regiment auf der Burg. Sie stellte eine junge Witwe, Margret mit Namen, fest als Haushälterin ein, weil ihr deren couragiertes Wesen auf Anhieb gefiel. Zwei Waisenmädchen nahm sie als Mägde auf. Die anderen Frauen, die Walter schon nach einer Stunde auf den Burghof gebracht hatte und die sich alle eine Erlösung aus dem wochenlangen Elend erhofften, ließ sie zumindest zwei Tage lang gegen Auszahlung von Getreide und Speck beim Aufräumen mithelfen. Die von der Schaumburg mitgebrachten Vorräte schrumpften schnell, sodass Anna gezwungen war, diese Frauen bald nach Hause zu schicken und die Essensausgabe an die verbliebenen Burgbewohner streng einzuteilen.

Der Graf sah mit Verwunderung, wie Anna ohne seine Hilfe zurechtkam. Mägde und Knechte spannte sie in ihre Tagespläne mit ein. Sie ließ die Wände kalken, Türen, Fenster und Treppen instand setzen und ein Schreiner musste einige einfache Bänke, Tische und Truhen zimmern. Aus den mitgebrachten Stoffen von der Schaumburg ließ sie Vorhänge nähen und die Gobelins im Rittersaal wurden ausgebessert und gereinigt. Nach wenigen Wochen waren der Brandgeruch in der Burg durch den Duft von Rosenwasser verdrängt, die Fußböden gesäubert und mit frischen Kräutern belegt. Die Küche war blitzblank geschrubbt und wieder nutzbar, sodass häufiger der köstliche Duft von Gesottenem die Burg wie früher durchzog. Anna ordnete an, auch die Gesindeunterkünfte gründlich zu reinigen, von Ungeziefer zu befreien und zu kalken. Alle Strohsäcke wurden gewaschen und neu befüllt.

Der Winter verlief glücklicherweise mild. Möllenbeck hatte einen tüchtigen Burgvogt gefunden und die neue Saat versprach das Beste. Viele Bürger in der Stadt hatten ihre Häuser schon instand gesetzt und der Markt fand wieder regelmäßig statt. Es gab allerdings noch so manche Ruine, viele Arme, die in Verschlägen hausen mussten, besonders die Witwen und Waisen waren seit dem Brand auf Almosen angewiesen. Obwohl das Land jetzt befriedet war, saß der Groll gegen den Erzbischof tief, auch der Graf sann weiterhin auf Rache. Aber als er im Frühsommer einen Lehenstag für all seine Vasallen abhielt, war die einhellige Meinung, man müsse noch abwarten, das Land sei zu geschwächt, und da sowohl die Stadt Soest, als auch Kleve und Lippe seit einem Jahr von den erzbischöflichen Truppen unbehelligt geblieben seien, solle lieber ein Friedensschluss auf dem Verhandlungswege gesucht werden. Das Erzbistum sei in finanziellen Nöten, das sei allgemein bekannt, und werde außerdem von Burgund bedroht, damit sei man in einer guten Verhandlungsposition.

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