Der Graf

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„Hauptmann Pirrwitz, gestattet ein Wort unter vier Augen, bevor Ihr ihn hängt!“

Der Hauptmann gebot den Männern mit einer Handbewegung Einhalt und ging zu Bernhards größter Verwunderung ohne zu zögern auf die Bitte von Spiegel ein. Sie tuschelten eine Weile abseits, wobei der Hauptmann ab und zu ungläubig fragende Blicke auf den Grafen warf. Anschließend trat der Hauptmann breitbeinig vor die Schar der Söldner und Marketenderinnen, die mittlerweile auf weit über hundert angewachsen war.

„Hängen wir ihn vorerst nicht, vielleicht lässt sich Lösegeld herausschlagen, viel Lösegeld, dann kann ich euch allen Sold auszahlen. Der Herr Spiegel behauptet, dieser junge Kerl hier wäre der Graf zur Lippe höchstpersönlich!“

Ein Raunen ging durch die Menge. Die meisten waren enttäuscht, hatten sie sich doch schon auf ein möglichst grausames Spektakel gefreut. Und Geld war ihnen so oft versprochen worden, dass sie gar nicht mehr daran glaubten, jemals einen Sold zu erhalten, außer dem, den sie sich selbst zusammenraubten.

Der Graf bekam vor Erleichterung weiche Knie. Die Gedanken jagten durch seinen Kopf:

Was zum Teufel machte Spiegel in einem Söldnerlager?

Wie und woher könnte er Lösegeld beschaffen, sollte es jemals dazu kommen?

Und vor allem, gab es jetzt, wo er nicht sofort aufgehängt werden sollte, eine Möglichkeit, sich zu befreien?

„Wo ist der Schmied?“, rief der Hauptmann über den Platz, „wir müssen den Herrn Grafen in Ketten legen, in der Hoffnung, dass es ein Herr Graf ist! Nein, halt, viel besser, Männer, holt den Schandkorb, den wir in Hameln mitgenommen haben! Ha“, wandte er sich an Spiegel, „eigentlich habe ich den Korb ja nur mitgenommen, damit die Männer nicht meinen, hier könnte mir einer auf der Nase herumtanzen! Aber jetzt können wir ihn sogar richtig gut gebrauchen und alle sehen gleich, wohin es führt, wenn sich einer mit mir anlegt!“

Spiegel nickte beifällig.

Mindestens zehn Männer stürmten los und schleppten von einem der im Rund stehenden Wagen einen länglichen Korb aus Eisenstreben herbei.

Durch eine enge Luke zwängten sie den Grafen hinein. Der Hauptmann verschloss die Luke persönlich, befestigte den Schlüssel umständlich an einer Kette und hängte sie sich um den Hals.

„Nun könnt ihr ihn doch noch aufhängen, Männer!“, lachte er.

Der Käfig war so gestaltet, dass ein Mann von der Größe des Grafen nicht ganz aufrecht stehen konnte. Unter den oben spitz zulaufenden Stäben musste er den Kopf leicht gebeugt halten. Er war aber auch so eng, dass man sich nur auf den Boden des Gelasses setzen konnte, wenn man die Beine zwischen den Eisenstäben nach draußen streckte. Oben an der Spitze befand sich ein eiserner Ring, an dem die Söldner rasch ein starkes Seil befestigten. Damit zogen sie den Käfig an dem dicken Ast in die Höhe, den man schon vorher zum Erhängen des Gefangenen ausersehen hatte.

Die Stimmung im Lager war jetzt wieder auf dem Höhepunkt. Die Männer grölten und lachten und sangen Lieder in ihrer merkwürdigen Sprache. Es wurde Bier ausgeschenkt und jeder Söldner versuchte, wenigstens einmal bis zum Schandkäfig vorzudringen, um diesen in Schwingungen zu versetzen, so dass das Seil schon bedenklich knarrte und der Graf in seiner misslichen Lage mehr als einmal mitsamt dem Eisenkäfig gegen den Stamm des Baumes geschleudert wurde. Die Wut kochte in ihm. Er spürte die zahlreichen blauen Flecken nicht, versuchte, die aufsteigende Übelkeit niederzukämpfen und begann in seiner Verzweiflung, mit beiden Händen die Gitterstäbe auseinanderzubiegen, konnte aber in der Enge kaum Kraft entwickeln. Und selbst wenn sich die Eisen bewegt hätten, wäre es ja doch ein sinnloses Unterfangen gewesen.

Der Herr Spiegel zu Peckelsheim hatte sich rasch abgewandt, als man den Grafen so unehrenhaft festsetzte, und war ohne ein weiteres Wort wieder in seinem Zelt verschwunden.

Der Morgen graute schon über den Hügeln, als die Männer endlich zur Ruhe kamen und sich einer nach dem anderen einen Schlafplatz auf den Wagen, bei den Feuerstellen und in den wenigen Zelten suchte. Zwei Männer wurden bestimmt, den Gefangenen zu bewachen, waren aber nach kürzester Zeit auch eingeschlafen.

Schon seit Stunden hatte der Graf den Drang verspürt, seine Notdurft zu verrichten. Endlich erleichterte er sich, peinlich darauf bedacht, die unter ihm schlafenden Wachen nicht zu benetzen, dann setzte er sich auf den Boden des Korbes, die Füße baumelten ins Leere. Er fand trotz aller Erschöpfung keinen Schlaf. Vor seinem geistigen Auge erschienen die beiden Wächter am Gatter der Allmende. Wie leicht es gewesen war, das erste Mal. Nicht anders, als einem verwundeten Tier bei der Jagd den Gnadenstoß zu geben. Möllenbeck hatte ihm nicht gesagt, dass es so einfach war. Er hatte ihn nur auf den glorreichen Kampf Mann gegen Mann vorbereitet. Aber jemanden im Schlaf umzubringen, das war kein Kampf edler Ritter. So ein Stich ins Herz eines Menschen verursachte einen ganz kleinen Stich im eigenen Herzen, ein kurzer Moment der Ungläubigkeit, schon vorbei. Er spürte kein Mitleid, keine Reue, nur immer größere Wut. Er hätte noch mehr von ihnen erledigen sollen. Er brauchte nur eine Truppe, viele Männer, und schon würde er diese Bande unerbittlich aus seinem Land vertreiben, ohne Gnade. So drehten sich seine Gedanken und der Groll wurde nicht weniger. Auch Durst und Hunger begannen ihn zu quälen, allerdings hätte er sich lieber die Zunge abgebissen, als diese Unholde nach Wasser zu fragen.

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als das Lager wieder erwachte, nachdem aber ein Bote eingetroffen war, trieb der Hauptmann seine Leute drängend zur Eile an.

Der Schandkorb wurde heruntergelassen und auf einen der Wagen zusammen mit Kochgeschirr und Fässern verfrachtet. Dabei zerrten und rissen die Söldner so lange an der Kleidung des Grafen herum, bis sie seine Kette mit dem goldenen Kreuz, seine Ringe und seine ledernen Stiefel entwendet hatten. Um die Stiefel entspann sich ein Streit, gleich drei Männer erhoben Anspruch darauf, da ihre Füße nur notdürftig mit Wolllappen umwickelt waren.

Im Durcheinander des allgemeinen Aufbruchs bekam der Graf mit, dass man zur Burg Sternberg, der Heimat seines treuen Kanzlers Möllenbeck, ziehen wollte, die schon von anderen Söldnergruppen belagert wurde, wo man aber Verstärkung und vor allem Nahrungsnachschub dringend benötigte. Als endlich alle Vorräte, Kessel und Zelte verladen waren und alle Ochsen und Pferde angespannt waren, trat Hauptmann Pirrwitz an den Schandkäfig. Heute war er in einen wattierten, etwas abgeschabten Waffenrock gekleidet, der von einem breiten Ledergürtel gehalten wurde, in dem das Messer des Grafen steckte. Er kaute auf einem zerfaserten Weidenstöckchen herum, sodass sein merkwürdiger Dialekt noch schwerer zu verstehen war:

„Nun, Herr Graf, wie ist das Befinden? Ihr habt schon gehört, dass es auf die Burg Sternberg geht? Spiegel sagte mir, dort residiert Euer Kanzler, der von Möllenbeck? Wir werden ihm einen guten Handel vorschlagen: Die Burg und alles, was sich darinnen befindet, und zehntausend Goldgulden gegen das Leben des Landesherren. Ein guter Tausch, was meint Ihr, wird er darauf eingehen?“

Der Graf fühlte Hitze in sich aufsteigen. Möllenbeck weit weg in Schaumburg, sein Burgvogt ohne Weisungen … womöglich würde man allzu rasch den Forderungen der Barbaren nachgeben!

Er drehte sich weg, um seine Erregung nicht zu zeigen.

„Ho, ho, der Herr wünscht nicht mit mir zu reden?“

Die Stimme des Hauptmanns klang unversehens bedrohlich. In dem Moment aber war die schöne Susanna an ihn herangetreten. „Hauptmann, wir sind soweit, alles ist verpackt. Nur die Alte aus Hameln meint, wir hätten dem Gefangenen noch gar nichts zu trinken gegeben, er werde verdursten … Und er ist so ein schöner Mann, finde ich, das wäre doch schade …“

Bei diesen Worten fuhr sie dem Hauptmann mit der rechten Hand durch den Bart und mit der linken streichelte sie sein Gemächt. Hauptmann Pirrwitz fasste sie grob am Handgelenk:

„Du kommst mir gerade recht! Was hast du mit dem hier zu schaffen? Wenn du ihm zu nahe kommst, dann gnade dir Gott!“

„Aber Hauptmann, ich komme nur dir zu nahe!“

Dabei schob sie ihren ausladenden Busen vor seine Brust. „Allenfalls sein letztes Stündchen könnte ich ihm versüßen, wenn du ihn wirklich umkommen lassen willst?“

Ihre flammend roten Haare wirbelten herum und sie blinzelte dem Grafen zu.

„Hüte deine Zunge, Weib, sonst vergesse ich mich … so schnell verdurstet ein Mann nicht, aber gut, wir brauchen den feinen Herrn noch, also in Gottes Namen, sag der Alten, sie soll ihm Wasser bringen.“

Er gab ihr einen Klaps aufs Hinterteil, dass es laut klatschte und wandte sich seinen zum Abmarsch bereiten Männern zu. Die Marketenderin stellte sich breitbeinig vor den Grafen im Schandkäfig hin, die Hände in die Taille gestemmt:

„Und, Herr Graf, sagst du jetzt: danke, schöne Susanna?“

Der Graf lächelte spöttisch und zog die Augenbrauen hoch:

„Wer weiß, vielleicht, wenn du mich wirklich meinen Durst stillen lässt?“

Der Wagenzug hatte sich schon in Bewegung gesetzt, als Susanna mit einem Trinkschlauch und einem steinharten, aber zumindest nicht angeschimmelten Stück Brot zurückkam. Der Graf hatte es mittlerweile geschafft, sich wieder auf den Boden des Käfigs zu setzen und die Beine zwischen den Fässern auszustrecken. Als sie ihm Essen und Trinken reichte, ließ er beides in seinen Schoß fallen, fasste blitzschnell ihre Arme, zog sie zu sich heran und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf den Mund. Sie riss sich los:

„Wenn das der Hauptmann gesehen hat, schlägt er uns beide tot!“

„Ich wollte nur ‚Danke, schöne Susanna‘ sagen!“, lachte der Graf, „und komm bald wieder, schöne Susanna!“

 

Die Marketenderin ließ ihn ohne ein weiteres Wort zurück und eilte zum vordersten Wagen, neben dem der Hauptmann Pirrwitz auf seinem Pferd ritt.

Der Graf trank gierig ein paar Schlucke aus dem Schlauch und kaute an dem Brot. Vielleicht konnte die schöne Susanna ihn ja auch noch vor anderem als dem Hungertod bewahren! Zum ersten Mal seit dem gestrigen Abend keimte wieder eine vage Hoffnung in ihm auf, auch wenn zwei Fußsoldaten neben seinem Ochsenkarren auftauchten, die mit ihren schweren Hellebarden zu seiner persönlichen Bewachung abgestellt waren. Die Wagen rumpelten langsam über die matschigen Wege. Diese Kriegsmannen waren wahrlich ein bunter Haufen. Einige Ältere schienen gar mit ihren Ehefrauen unterwegs zu sein, beide gleich ärmlich gekleidet mit groben Kitteln, auf Bauernkarren gezogen von mageren Ochsen. Männer und Frauen bewaffnet mit krumm geschmiedeten Spießen, langstieligen Äxten und mit eisernen Stacheln bewehrten hölzernen Morgensternen. Andere hatten zumindest einen Waffenrock oder gar ein Kettenhemd, der Graf sah Schwerter, Pfeil und Bogen und auch Kanonen. Am Abend erreichten sie das gewundene Tal, das zur Burg Sternberg hinaufführte. Auf einer langgestreckten Lichtung trafen sie auf hunderte von Karren und Wagen. Der Graf schluckte. Hier sah er auch erstmals gut bewaffnete Soldaten unter den Söldnern mit festem Lederwams und Brustharnisch, Spieß und Schild, es gab Armbrustschützen und Berittene. Er konnte es einfach nicht fassen, er fragte sich wohl zum hundertsten Male, ob wirklich der Erzbischof dieses Heer befehligte, woher all diese vielen Kämpfer kamen und zu welchem Zweck man sie gerufen hatte.

Die Ankömmlinge wurden von den anderen Söldnern freudig begrüßt, teilweise schien man sich zu kennen. Gleich machten sich Männer daran, einige von den mitgebrachten Tieren zu schlachten, und bald zog köstlicher Bratendurft über die Wiese, so dass der Graf heftig mit seinem bohrenden Hungergefühl zu kämpfen hatte. Immerhin ließen sie ihn weitgehend in Ruhe, nur vom nahen Feuer der Hauptleute hörte er schallendes Gelächter und die laute Stimme des Hauptmannes Pirrwitz, der mit seinem Fang prahlte.

Nach einer weiteren unruhigen Nacht in seinem engen Gelass besuchte ihn Susanna wieder. Diesmal aber näherte sie sich dem Schandkäfig nur bis auf ein paar Schritte, gab das Brot bei einer der Wachen ab und ließ sich auf keine Unterhaltung ein.

Von seinem Karren aus konnte der Graf einen kleinen Teil der Mauer von Burg Sternberg einsehen. Im Laufe des Tages beobachtete er davor verstärkte Aktivitäten. Die Söldner hatten Bäume gefällt und sie mit Pferden vor die Mauer gezogen. Stundenlang hörte er die Äxte und die Rufe der Zimmerleute. Die Armbrustschützen hatten sich im Halbrund verteilt, um etwaige Angriffe von der Burgmauer abzuwehren. Aber dort blieb alles ruhig. Vermutlich dachte der Burgvogt wie der Graf: Wenn sie einen Belagerungsturm zimmerten, war es besser, ihn von den Feinden aufrichten zu lassen und ihn erst im letzten Moment mit Feuerpfeilen zu zerstören oder ihn mit langen Stangen einfach umzukippen. Wenn die Feinde den Turm nämlich schon bestiegen hatten, wurden so auch möglichst viele Männer mit in den Tod gerissen. Aber dann sah er, dass sie nur einen einzigen großen Pfeiler mit einem Querbalken hochzogen und verankerten. Mit Entsetzen wurde ihm klar, dass dort kein Belagerungsturm gezimmert worden war, sondern ein Galgen, so offen vor der Mauer positioniert, dass er nur einem Zwecke dienen konnte:

Man wollte den Schandkorb daran hochziehen, um den Verteidigern der Burg vor Augen zu halten, in welch schlimmer Lage sich ihr junger Landesherr befand, und sie so zur Aufgabe zu zwingen.

Man wollte ihn vor aller Augen der Lächerlichkeit preisgeben, ihn erniedrigen, ihn für immer der Schande ausliefern! Wie sollte er je wieder vor seine Vasallen treten, sich je wieder Achtung erwerben, je wieder Achtung vor sich selbst haben? Lieber wollte er sterben, aber auch das war in diesem verfluchten Käfig unmöglich!

So etwas konnte der Spiegel als ein Ritter von Ehre doch in keinem Fall zulassen! Aber Jürgen Spiegel zu Peckelsheim mied den Grafen, seit sie in Bösingfeld aufgebrochen waren. Kaum dass er ihn einmal von ferne in der Menge der Söldner ausgemacht hatte, gesprochen hatte er überhaupt noch nicht mit ihm. Er würde Susanna nach ihm schicken müssen. Besser noch, Susanna würde den Schlüssel zum Schandkorb stehlen müssen. Aber die schöne Susanna hatte sich seit dem Morgen auch nicht mehr blicken lassen. Verzweiflung machte sich breit. Ohne Erfolg hatte er wieder und wieder versucht, die eisernen Stäbe des Käfigs zu verbiegen. Des Öfteren hatten ihn seine beiden Bewacher sogar ganz allein auf dem Karren zwischen den Fässern zurückgelassen, weil anderswo helfende Hände gebraucht wurden oder sie einfach auf der Suche nach Gesellschaft mit ihresgleichen waren. Aber so sehr er sich auch mühte, er fand keine Möglichkeit, sich zu befreien.

Die Dämmerung war schon längst hereingebrochen, als sich endlich Susanna mit einem Trinkschlauch und einem kleinen Kanten Brot näherte. Der Graf setzte sein schönstes Lächeln auf:

„Endlich erfüllt sich meine Sehnsucht! Wie kannst du mich so lange allein lassen, schöne Susanna?“

Die Schöne legte ihren Kopf schief und lächelte:

„Du hast auf mich gewartet?“

„Den ganzen Tag tue ich nichts anderes, ich verzehre mich nach dir!“

„Nach mir, oder nach dem Essen, das ich dir bringe?“

Jetzt lachte der Graf, beteuerte aber:

„Hungern will ich tagelang für einen einzigen Kuss von dir!“

Plötzlich zeigte sich Angst auf Susannas Gesicht. Rasch legte sie Brot und Wasser vor ihm ab und flüsterte:

„Ich komme wieder!“

Sie raffte ihre zerrissenen Röcke und lief schnell davon. Als der Graf sich umdrehte, sah er Hauptmann Pirrwitz gar nicht weit entfernt, wie er mit den Wachen schimpfte, die sich über ein gebratenes Huhn hergemacht hatten. Der Hauptmann scheuchte sie zurück auf ihren Platz neben dem Karren des Grafen.

Wieder hatte Der Graf mit Susanna nicht über den Schlüssel reden können! Hoffentlich kam sie noch in der Nacht zurück! Er grübelte und grübelte, aber kein anderer Ausweg wollte ihm einfallen, als auf Susannas Hilfe zu hoffen.

***

Die sanfte Berührung einer Hand holte ihn aus einem unruhigen Schlummer.

„Schhhh, leise!“ Aber es war nicht Susanna, die sich da über den Karren beugte. Die zahnlose Alte, die er gelegentlich bei der Feuerstelle des Hauptmanns gesehen hatte, zog einen Schlüssel aus ihrem Kleid und schloss die Luke auf. Das Eisen knirschte laut in den Scharnieren, als sie die Tür öffnete. Der Graf sah sich erschrocken um, doch der Platz lag wie ausgestorben, die Feuer waren heruntergebrannt, es war so finster, dass er die schnarchenden Wachen neben dem Karren kaum ausmachen konnte.

Die Frau zerrte ihn heraus:

„Schnell, Herr, dort ins Gebüsch!“

Sie schob ihn über die Lichtung. Der Graf versuchte, seine steif gewordenen Beine zu lockern.

„Wie kann ich dir danken, Frau? Wie ist dein Name?“

Aber die Alte meinte nur:

„Es sind so unglaublich viele! Ich habe gesehen, wie sie die Weserfurt durchquert haben! Ein endloser Zug. Ihr müsst ihnen entgegentreten! Lasst nicht zu, dass sie noch mehr Tod und Verderben verbreiten!“

Der Graf atmete tief ein und aus.

„Aber was wird aus dir? Komm mit mir, damit dir nichts geschieht!“

Die alte Frau schüttelte den Kopf.

„Sorgt Euch nicht. Mir wird nichts geschehen. Der Hauptmann ist vom Wein und von Susanna benebelt, er schläft wie ein Stein. Ich werde ihm den Schlüssel wieder um den Hals legen. Ich werde den Schandkorb mit etwas Ruß beschmieren und morgen verbreiten, der Teufel habe Euch geholt. Die Fremden sind sehr leichtgläubig … Und nun müsst Ihr fort!“

Damit drehte sie sich um und ließ ihn einfach stehen. Der Graf schüttelte den Kopf, wollte noch etwas erwidern, aber da hatte die Dunkelheit die Alte schon verschluckt.

„Gott segne dich!“, flüsterte er ihr nach, doch das hörte sie nicht mehr.

Kapitel II

Anna von Schaumburg wuchs als einzige Tochter des Grafen Otto von Schaumburg und Holstein gemeinsam mit drei Brüdern auf. Sie war ein wildes Kind, stand in Mut und Schnelligkeit ihren Brüdern nicht nach und verbrachte ganze Tage im Wald, auch um der allzu oft traurigen Stimmung ihrer Mutter zu entgehen. Diese stammte aus dem Holsteinischen, litt unendlich unter Heimweh nach dem Meer und dem hohen Himmel des Nordens und verbrachte ganze Tage im Bett, weinend oder die Decke anstarrend, nicht in der Lage mit jemandem zu sprechen. Graf Otto hatte sich im Laufe der Zeit mit den seelischen Verstimmungen seiner Frau arrangiert und versuchte, in klugen Geschäften und vorteilhaften Fehden seinen Besitz zu mehren.

Von der Mutter hatte Anna die strengen, fast männlichen Gesichtszüge geerbt, die ihr schon als Kind das Aussehen einer Erwachsenen gaben, die das Leben kennt. Vom Gemüt her aber war sie ganz anders als ihre Mutter und fühlte sich eingesperrt, als sie älter wurde und sich das wilde Leben gemeinsam mit ihren Brüdern für sie nicht mehr schickte.

Die Burg Schaumburg erhob sich wie ein Adlerhorst auf einem Vorsprung des Wiehengebirges hoch über dem Tal der Weser mit einem Blick weit über den Fluss nach Süden über die lippischen Hügel. Wann immer es Anna gelang, der düsteren Mutter zu entkommen, kletterte sie auf den Burgfried und träumte, wie ein Vogel nach Süden zu fliegen, dorthin, wo die Sonne wärmer schien.

Immerhin erlaubte der Vater nach langen Bitten, dass sie am Unterricht der Brüder teilnehmen durfte, wenn sie versprach, nicht zu stören und den Mönch, der vom Kloster Möllenbeck für den Unterricht abgestellt worden war, nicht mit weiblichen Reizen oder Albernheiten abzulenken. Anna war selig und gab sich alle Mühe, den Vater nicht zu enttäuschen. Schon als Kind hatte sie das Schreiben und Lesen von ihren Brüdern erlernt, und nun saß sie ganz still hinter den jungen Männern in einer Ecke und versuchte, sich über alles Notizen zu machen, was der Mönch sie lehrte, um den Stoff anschließend in ihrer Kemenate eifrig zu repetieren. So lernte Anna die Grundzüge der lateinischen und ein paar Worte der griechischen Sprache, lernte etwas über die Bibelauslegung der großen Kirchenphilosophen wie Thomas von Aquin oder Franziskus von Assisi. Auch über die Jurisprudenz wusste Frater Clemens einiges zu berichten, da er einst an der ehrwürdigen Universität von Heidelberg studiert hatte. Am meisten Wert aber legte er auf die lateinischen Bibeltexte, von denen er für richtig hielt, dass man möglichst viel auswendig hersagen konnte. Denn nur Gottes Wort sei die wahre Bildung des Menschen. Annas Brüder waren davon weniger überzeugt, so dass Frater Clemens oft ungehalten war und die Buben züchtigte. Anna saß dann in ihrer Ecke und flüsterte die Verse leise vor sich hin, wurde aber nie gefragt.

An Annas vierzehntem Geburtstag teilte der Vater ihr mit, dass man sie mit Bernhard, dem künftigen Grafen zur Lippe verheiraten werde. Der sei zwar zwei Jahre jünger als sie, aber die einzige in Frage kommende Partie. Es mangele an standesgemäßen jungen Adligen in der Gegend. Er habe die Verlobung schon mit dem lippischen Kanzler Möllenbeck vereinbart, der im übrigen aus dem Schaumburgischen stamme und sich schon seit Jahren vorbildlich um die Belange des Lipperlandes und die Erziehung des jungen elternlosen Grafen kümmere. Außerdem befreie ihn diese Verlobung von den ewigen Anfragen des alten verwitweten Grafen von Hoya, für den ihm seine Tochter nun wirklich zu schade sei.

Anna hörte sich die lange Rede ihres Vaters an und sagte nichts. Zum einen ängstigte sie die Ehe und alles was darum herum gemunkelt wurde, auch konnte sie sich nicht vorstellen, irgendwo anders zu leben als eben auf der Schaumburg. Aber andererseits erinnerte sie sich an ihre Kindheitsträume, nach Süden zu ziehen und immer weiter.

Immerhin, das Lipperland lag im Süden, auch wenn es gleich hinter der Weser begann.

Zwei Wochen nach dieser Neuigkeit verschwand Annas Mutter.

Niemand hatte etwas bemerkt. Sie hatte sich am Abend wie gewohnt früh zurückgezogen und sich noch einen Becher Milch in ihr Schlafgemach bringen lassen. Als sie am nächsten Tag nicht zum Morgenmahl erschien, ließ Graf Otto nach ihr schicken, aber die Magd fand die Kammer leer und das Bett unbenutzt. Man rief nach der Gräfin Elisabeth, suchte jeden Winkel der Burg ab, bis hinauf zum hohen Burgfried. Man befürchtete, sie sei irgendwo gestürzt und liege nun hilflos oder gar ohnmächtig. Ihre sonst so düstere Stimmung hatte sich in letzter Zeit etwas gelegt, fast als sei sie erleichtert, dass ihre Tochter mit der Verlobung nun endlich gut versorgt war. Daher erschien ihr Verschwinden umso rätselhafter. Eine Entführung wurde erwogen, war jedoch besonders unwahrscheinlich, da sich Graf Otto in letzter Zeit von Fehden eher ferngehalten hatte. Als man in der Burg absolut keine Spur von ihr finden konnte, befahl Graf Otto, in Gruppen in den Wald, ins Dorf und bis an die Weser auszuschwärmen, obwohl es eigentlich fast unmöglich war, die Burg am Abend oder in der Nacht unbemerkt von Hunden oder Wachen zu verlassen. Es fand sich kein Anhaltspunkt, auch die Dorfbewohner hatten die Gräfin Elisabeth in letzter Zeit nicht gesehen.

 

Anna spürte neben aller Sorge auch so etwas wie Unbeschwertheit. Die Burg, der Himmel, der Wald, alles erschien seit dem Verschwinden der Mutter etwas heller. Sie erschrak über diesen Gedanken und betete in der Kapelle um Vergebung zur Mutter Gottes.

Vier Tage später wurde die aufgedunsene Leiche der Gräfin von Schaumburg und Holstein von einem Fischer flussabwärts bei Veltheim im Uferschilf der Weser gefunden, die Finger mehrfach umschlungen von einer Kette, an der ein goldenes Kreuz hing.

Anna betete jeden Tag in der Kapelle für das Seelenheil ihrer Mutter. Ansonsten aber fand sie sich mit ihren knapp fünfzehn Jahren rasch in die Rolle der Hausfrau eines großen Anwesens. Sie beaufsichtigte die Mägde, verwaltete Vorratskammer und Keller und regte ihren Vater zu manchen Neuerungen an. Er ließ sie gewähren, denn er konnte seiner einzigen Tochter, die doch ach so früh erwachsen werden musste, keinen Wunsch abschlagen. So wurde die baufällige Kapelle auf der Burg renoviert, die Wände weiß gekalkt, neue Butzenscheiben eingesetzt und ein wunderschönes Bildnis der heiligen Elisabeth, der Namenspatronin von Annas Mutter, aufgestellt.

Das zweite Vorhaben, das Anna in Angriff nahm, war ein kleiner Garten direkt unterhalb der Küche. Die Schaumburg war auf einem steilen Felsen erbaut, der obere Burghof dadurch sehr beengt, so dass der Gemüsegarten und Ställe und ein Teil der Gesindehäuser in einem zweiten, unteren Burghof untergebracht waren. Beide Höfe waren mit einem steilen ummauerten Torweg verbunden, über den alle Güter, eben auch jede Zwiebel, jeder Apfel und jedes Küchenkraut nach oben transportiert werden mussten. Im Fels aber, zum Tal der Weser hin, befand sich unterhalb der großen Küche eine natürliche Terrasse, und nachdem man die dicken Mauern für eine kleine Tür durchbrochen und eine Stiege hinab geschaffen hatte, wurde es möglich, dieses kleine Fleckchen durchaus fruchtbaren Bodens von der Küche aus zu begehen. Anna ließ Bohnen anpflanzen und Pastinaken und Möhren. Es war Platz für ein Kräuterbeet mit Minze, Dill, Kerbel und vieles mehr und in der äußersten Ecke pflanzte Anna persönlich einen Apfelbaum. Bald verbrachte sie jede freie Minute in diesem kleinen Paradies. Von den alten Frauen im Dorf ließ sie sich die Pflanzenzucht, die Verwendung der Kräuter und die Gefahren durch Schädlinge wie Schnecken und Mäuse genau erklären. So grünte und blühte es in dem Felsengärtchen und die Düfte der zum Trocknen aufgehängten Kräuter durchzogen die Küche.

***

Eines Morgens hörte Anna plötzlich aufgeregtes Schimpfen und Rufen vom Burghof her. Die Zofe wollte ihr gerade die Zöpfe aufstecken, aber Anna drehte sich um: „Hörst du das? Was ist das denn in der Frühe für ein Lärm, lass uns schauen!“ Die beiden Mädchen liefen zum Fenster, öffneten es und Anna lehnte sich hinaus. Im Hof waren zwei Wächter damit beschäftigt, einen völlig verdreckten jungen Mann mit zerrissenen Kleidern zu bändigen. Die nackten Füße waren mit Lehm bedeckt, die Kleidung so feucht, als sei er soeben der Weser entstiegen. Der junge Mann beschimpfte die Wachen lauthals. Er war groß, breitschultrig und kraftvoll und doch sehr schlank und in seinen Bewegungen so schnell und geschickt, dass die beiden Wächter Mühe hatten, ihn festzuhalten. Seine schwarzen Haare flogen umher und die böse funkelnden dunklen Augen konnte Anna selbst von oben erkennen. Das Gesicht war bedeckt mit schwarzen Bartstoppeln. In dem Moment betrat ihr Vater den Hof. Er war schon ganz angekleidet und sah in seinem grüngoldenen Wams wie immer sehr stattlich und würdevoll aus.

Bei seinem Anblick wurde der junge Mann etwas ruhiger und verbeugte sich, soweit der Griff der Wachen dies zuließ: „Graf Bernhard zur Lippe, Euer Gnaden, verzeiht mein wenig standesgemäßes Aussehen. Ich bin gerade mit Mühe einigen unpässlichen Situationen entronnen.“

Die Wachen brachen jetzt in lautes Lachen aus.

„Euer Gnaden, das hat der Bauernlümmel vor dem Tor auch schon erzählt und herumkrakeelt, er sei der Schwiegersohn und er müsse sofort vorgelassen werden, was sollen wir mit ihm machen?“

Anna war blass geworden, ihr Herz schlug rasend, das konnte doch nicht sein, dass sie mit diesem schwarzen Ungeheuer verheiratet werden sollte!

Während ihr Vater noch ungehalten auf die lachenden Wachen sah, stürzte der lippische Kanzler Möllenbeck, der die Heiratsverhandlungen mit ihrem Vater geführt hatte, aus dem Haus.

Johann von Möllenbeck, aus dem reichen Geschlecht derer von Möllenbeck, die einst auch das gleichnamige Kloster gestiftet hatten, war früh ergraut und hatte einen etwas gewölbten Rücken, ein offenes Gesicht und seine wachen, freundlichen Augen täuschten darüber hinweg, dass er ein harter und sehr eloquenter Verhandlungspartner war. Sein ganzes Leben hatte er dem Wohlergehen des lippischen Staatswesens gewidmet. Den Söhnen des früh verstorbenen Grafen Albert zur Lippe war er ein umsichtiger und liebevoller Ziehvater gewesen. Über die Grenzen des Landes hinaus wurden seine politische Klugheit, seine Weitsicht und Loyalität gerühmt. In der Regel achtete er sehr auf seine Kleidung, die schlicht, aber von edlem Stoff war.

Heute jedoch sah recht derangiert aus, die leuchtend rote Samtkappe saß schief auf seinem grauen Haarkranz und im Laufen zog er sich noch seinen schwarzen Rock an. Als er den Aufgegriffenen erblickte, rief er aus:

„Um Himmels Willen, Herr Graf, was ist Euch geschehen?“, und an Annas Vater gewandt: „Euer Gnaden, ich verstehe das nicht, ein schreckliches Unglück, darf ich Euch unseren jungen Landesherren Graf Bernhard VII. zur Lippe vorstellen?“

***

Graf Otto sah immer noch konsterniert auf seinen zukünftigen Schwiegersohn. Statt einer standesgemäßen Begrüßung meinte er nur:

„Die Magd mag Euch einen Zuber mit heißem Wasser bereiten … und Speis‘ und Trank werden wohl fürs Erste in der Küche auch zu finden sein.“

Die Wachen ließen den Grafen endlich los und machten ein erschrockenes Gesicht. Aber niemand tadelte sie. Anna stand erstarrt an ihrem Fenster. Als der Graf zur Lippe kurz nach oben blickte, gelang es ihr nicht mehr rechtzeitig, sich zu ducken. Ein Schmunzeln ging über Bernhards Gesicht.

Zwei Mägde zogen ihn auf Geheiß des Hausherrn lachend mit in die Küche. Im Nu hatten sie Wasser in die Kessel über der großen Feuerstelle gefüllt, einen langen hölzernen Zuber in die Mitte der Küche gerückt und den Grafen mit großen Leintüchern umhüllt. Nun baten sie ihn, sich seiner zerrissenen und verdreckten Kleider zu entledigen. Alsbald schütteten sie das erste heiße Wasser in den Zuber und legten ein Brett quer darüber mit einem Teller voller Brot und Schinken und einem Krug Bier daneben. Dem Grafen lief das Wasser im Munde zusammen. In den drei Tagen seiner Flucht hatte er außer Wasser, einigen Beeren im Wald und ein paar Kanten Brot im Söldnerlager nichts zu sich genommen. Die Mägde kicherten, als er beim Einstieg in den Zuber kurz splitternackt zu sehen war. Als der Graf darauf mit einem