Martha schweigt

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5 Maikäfer flieg!

Sie fanden den kleinen Rico in den späten Abendstunden am Bachufer, durchgefroren und wimmernd saß er dort, die Arme um die Beine geschlungen, den Kopf auf die Knie gelegt. Neben ihm seine Kleider zusammengefaltet auf einem Haufen, daneben eine leere Zigarrenkiste, in der das gewesen war, womit sie ihn angelockt hatten. Er hielt diesen Schatz noch immer fest in seiner Hand, einen Maikäfer, den er so festgedrückt hatte, dass der jetzt tot war.

Martha musste wieder an ihn denken, jetzt wo die Leute vor ihr auf dem Dorfplatz in ihrem Tun stehen geblieben waren, weil ein Jeep mit zwei amerikanischen Soldaten vor der Waagbank gehalten hatte. Sie kamen öfters in der letzten Zeit, immer samstags, wenn die Frauen auf dem Weg ins Backhaus waren oder die Männer ein Schwein über den Dorfplatz zur Waage zogen, doch heute war zum ersten Mal ein dunkler GI dabei.

Der Bäcker Körner zog wie jeden Samstag seinen Leiterwagen mit Körben voller Brotlaibe und Brötchen beladen über die Straße auf das Gasthaus zu. Auch bei ihm gab es Amerikaner, weiße und schwarze: Gebäckteilchen mit weißer Zuckerglasur und welche mit schwarzer Schokolade überzogen. Die Kinder liebten diese runden Kuchenstücke viel mehr als den Hefekuchen ihrer Mütter und Großmütter, den diese, auf riesigen Blechen in die Hüfte gestemmt, vom Backhaus nach Hause trugen.

So wie sie auch die olivfarbenen Döschen liebten, die ihnen die amerikanischen Soldaten zusteckten, wenn sie sich in ihre Nähe wagten.

„Hello, how gaard’s?“, trauten sich die Mutigen unter ihnen den Soldaten zuzurufen, und die Schüchternen zählten im Hintergrund, „One, two, three, …“, um auch ihr Können zur Geltung zu bringen, in der Hoffnung, dass sie etwas von der Beute abbekommen würden.

„Hello, good morning kids!“, rief der schwarze der beiden Soldaten ihnen zu und warf ihnen aus dem offenen Jeep Kaugummipäckchen entgegen.

„Catch it!“, rief er lachend und seine weißen Zähne leuchteten weit über den Rand der Windschutzscheibe hinweg.

Es blieben noch mehr Leute stehen und die Mütter der beschenkten Kinder eilten herbei, nahmen diesen die Döschen aus der Hand, legten sie auf der Waagbank ab und warfen dem Soldaten einen misstrauischen Blick zu. Die Kinder, die vom Jeep weggezerrt worden waren, murrten nicht allzu sehr, denn sie wussten, dass sie später, wenn die Soldaten fort waren, ihre Beute holen konnten und ihre Mütter neugierig von den Keksen und der Erdnussbutter probieren würden. Für den Moment waren sie froh, dass ihnen wenigstens die Kaugummis geblieben waren.

Martha war vor der Metzgerei stehen geblieben, Annegret, mit einem Stoffbeutel in der Hand, trat zu ihr, und Liesl, ein Kopf größer als sie, gesellte sich zu den beiden. Liesl war die älteste von den dreien und trug auch werktags keine Schürze. Sie hatte ein leichtes Sommerkleid an, das ihre weiblichen Formen betonte, und über die Schultern ein farbenfrohes Baumwolltuch gelegt. Am Arm hing ein großer Weidenkorb, mit dem sie wie immer viel einkaufen würde.

Der weiße GI kam vom Dorfplatz über die Straße zum Gasthaus gelaufen, wo er wie immer eine Brotzeit für beide holen würde. Als er an Liesl vorbei ging, grüßte diese keck:

„Hello, Sir!“

Er warf ihr einen freundlichen Blick zu:

„Good morning, nice girl!“

Im gleichen Moment traf der Bäcker Körner mit seinem Handkarren vor den Stufen der Metzgerei ein und hielt an. Er ließ dem Soldaten den Vortritt, und als die Tür zur Metzgerei mit einem Klingeln zugefallen war, wandte er sich an die Umstehenden und sagte deutlich und laut mit einem Fingerzeig in Richtung des schwarzen Soldaten:

„Da ham se uns ein Gesocks ins Dorf geschickt.“

„Es hätt ja net auch noch ein Schwarzer sein müssen“, unterstützte ihn eine der Frauen. „Wer weiß, wie dreckig die sind.“

Annegret und Martha blickten sich an und hörten, wie die Frau weiter hetzte. „Na, schau dir doch die Handflächen von denen an. Es is scho’ komisch, dass die dort ganz hell sind.“

Annegret und Martha schluckten, sie wussten, dass die Hautfarbe kein Dreck war. Damals hatten sie Rico, den kleinen dunkelhäutigen Jungen vom Wanderzirkus, weggelockt. Sie wollten herausfinden, ob diese Behauptung stimmte. Liesl hatte einen Eimer mitgebracht, Martha eine Wurzelbürste und Annegret Scheuerpulver. Sie schrubbten ihn, bis er schrie. Liesl, die stärkere von ihnen, hielt ihn fest, Annegret stäubte das Ata Pulver auf seinen kleinen schwarzen Körper und Martha schrubbte ihn mit der Wurzelbürste ab, bis sie ins Schwitzen kam. Liesl tauchte ihn immer wieder in das Wasser des Baches, doch es war nichts zu machen, die Haut blieb schwarz, nur in der Hand war sie hell geblieben und mittlerweile schrumpelig geworden von dem vielen Wasser. Die andere Hand, die Rico zur Faust gemacht hatte, ließ sich nicht öffnen. Sie hörten erst auf, als sie Rufe einer Frau vernahmen, die auf die Steinbrücke gelaufen kam und immer wieder den Namen Rico rief. Sie rannten davon. Erst nach Stunden hatte die Mutter ihren kleinen Jungen wiedergefunden.

Martha und Annegret schauten zu Liesl hoch, suchten ihren Blick, doch diese hielt den Kopf erhoben und schaute von der Treppe der Metzgerei aus weit über die Menge der Umherstehenden hinweg. Als der weiße Soldat aus der Metzgerei kam, grüßte er Liesl erneut mit „Goodbye, Lady“ und warf ihr einen freundlichen Blick zu.

Als er über die Straße ging und in seinen Jeep einstieg, folgte Liesl ihm. Auf dem Dorfplatz angekommen, drehte sie sich vor den Augen der beiden Amerikaner und der Menge einmal um sich selbst, öffnete ihr Tuch und drückte ihren Busen nach vorne und tanzte mit schwingenden Hüften vor den Zuschauern auf und ab.

Die älteren Frauen schüttelten den Kopf. „Also so ein ungezogenes Ding!“ Dann stoppte Liesl ihren Tanz und rief in Richtung der sich Empörenden: „Ich kauf mir jetzt beim Bäcker zwei Amerikaner, aber zwei weiße!“, und grinste ihnen frech zu.

6 Der Fluch

Sein Blick vom Schreibtisch aus fiel durchs Fenster in den Garten. Die Schulhefte stapelten sich an beiden Seiten. Ich werde den Fehlern der bildungsunwilligen Dorfkinder nie Herr werden, dachte er und fragte sich, wie lange er noch das Stöhnen und Jammern seiner kranken Frau, das durch die geöffnete Tür des angrenzenden Schlafzimmers zu hören war, ertragen werde können. Er war nicht wirklich froh darüber, wieder vom Krieg heimgekehrt zu sein. Sie hatten monatelang gehungert, gefroren und jeden Tag um ihr Leben gekämpft. Aber was ihn hier erwartete, welches Leben sollte das sein?, dachte Friedrich. Und der Hof, ein Gutshof, von dem er so geträumt und den man ihm nach dem Endsieg versprochen hatte, war für alle Zeiten verloren. So einen Hof, wie ihn Vater hatte, im Nachbarort mit Pferdeställen, Vieh auf der Weide, Scheunen und Weinkeller, und den sein jüngerer Bruder, sein behinderter Bruder geerbt hatte – der ein Krüppel war.

Schorsch, sein älterer Bruder, wäre der rechtmäßige Hoferbe gewesen. Friedrich nahm das gerahmte Foto von ihm, das seit vielen Jahren auf seinem Schreibtisch stand, verblichen vom einfallenden Licht der Sonne, in beide Hände.

*

Sechzehn Jahre war Schorsch damals alt, mit seinen blonden Locken, den strahlend blauen Augen und dem verschmitzten Lächeln in seinem Gesicht, den Kopf leicht abgewandt, immer im Gehen begriffen, immer unterwegs.

„Kommst du mit?“, rief er fröhlich, schnappte sich das Moped vom Vater, fuhr die Feldwege entlang und quer die Wiesenhänge hinab. Friedrich musste sich beeilen, wenn er mit dem dunkelroten Damenfahrrad seiner Mutter hinterherkommen wollte. Schorsch schnitt ihm den Weg ab, fuhr Zickzack, wenn sie um die Wette die staubige Dorfstraße entlangfuhren, und lachte laut, während seine blonden Haare nach hinten flogen. Ab und zu nahm er Friedrich auf dem Gepäckträger mit. Er musste sich immer enger an den Rücken seines großen Bruders klammern, während sie den Wiesengrund hinunter holperten, wo sie das Moped ins Gras warfen und sich raufend auf dem Boden wälzten. Ihre Wangen waren erhitzt, wenn sie ihre von Schweiß und Staub klebenden Hemden über den Kopf streiften, die Hosen auszogen und in den Karpfenweiher sprangen, in dem es verboten war zu baden. Dort am Ufer unter der Trauerweide lagen sie stundenlang im Gras, träumten von Mädchen und davon, wie ihr Leben wohl einmal aussehen würde.

Vater war Bürgermeister im Ort gewesen. An Kirchweih durften sie immer in einer Kutsche sitzen, die inmitten des Trachtenzuges durch das Dorf fuhr. Oft ließ er das Pferdegespann anhalten, wenn er Schorsch und Friedrich am Straßenrand sah und ließ sie zusteigen.

Im Winter spannte er den Ackergaul vor den großen Schlitten, ließ alle Kinder aus der Nachbarschaft, in dicke Pferdedecken eingehüllt, aufsitzen und fuhr mit ihnen über die verschneiten Wege. Er blieb immer in Sichtweite des Dorfes, damit er sich bei der früh einfallenden Dunkelheit nicht verirrte und durch das warme Licht in den Fenstern der Häuser und den Petroleumlampen vor den Haustüren wieder den Weg zurückfand.

Im Herbst und den ganzen Sommer über wanderten sie sonntags mit Vater durch den Wald an der Kapelle Terzenbrunn vorbei zu seinen Verwandten nach Arnshausen. Sie schoben das Laub mit ihren knöchelhohen Schuhen vor sich her und freuten sich, wenn die Blätter in die Luft wirbelten. Sie schnitzen heimlich Zeichen oder Buchstaben mit ihren Taschenmessern in die Rinden der Bäume und mussten sich beeilen, Vater wieder einzuholen, damit er nichts merkte. Und wenn sie abends nach Hause kamen, machte Mutter ihnen ein Fußbad, brockte Brot in warme Milch und ließ sie oftmals im elterlichen Bett schlafen, was sonst nur dem jüngeren Bruder Ferdinand wegen seiner Krankheit vorbehalten war.

An Weihnachten und Ostern kamen Patres aus dem nahegelegenen Kloster ins Dorf, um die Messe und die Beichte abzuhalten. Sie wohnten immer beim Bürgermeister. Friedrich und Schorsch durften dann lange aufbleiben. Am Abend erzählten diese von ihren Missionarsreisen nach Afrika, von Elefanten, Löwen und anderen Abenteuern.

 

Schorsch und er mussten immer grinsen, wenn die Patres am Karfreitag Bauernwürste oder Kesselfleisch aßen, was für Katholiken einer Todsünde glich. Mutter ermahnte ihre Buben jedes Mal mit erhobenem Zeigefinger zu schweigen und erklärte wiederholt, dass man unter einem fremden Dach das Essen des Gastgebers nicht verschmähen durfte, was sie nicht erwähnte war, dass sich die Patres diese Verköstigung ausdrücklich gewünscht hatten.

Abends rauften die Patres mit Friedrich und Schorsch oftmals auf dem Teppich vor dem Kaminofen in der warmen Wohnstube und strichen den beiden Brüdern jedes Mal, bevor sie zu Bett gingen, über ihren Haarschopf, wobei sie mit dem Daumen ein Kreuz auf ihre Stirn zeichneten, um sie zu segnen – und als Schorsch zwölf war, nahmen sie ihn mit.

„Vater will, dass ich Pfarrer werde“, unterdrückte Schorsch sein Schluchzen, während er sich die Bettdecke an diesem Abend bis zur Stirn hochzog.

„Was?“, entfuhr es Friedrich, der im Bett hochschreckte und nicht sicher war, wo die Worte im Dunkeln herkamen. Träumte sein Bruder? Erst jetzt merkte er, dass Schorsch weinte.

Als sie noch klein waren, waren sie oft in den unbeheizten Zimmern unter eine Decke gekrochen, um sich gegenseitig zu wärmen. Friedrich zögerte einen Moment, doch dann nahm er seine Bettdecke und legte sich in Schorschs Bett an dessen Seite.

Schorsch hatte sich die Tränen mit dem Bettzipfel abgewischt und grinste verlegen.

„Ich muss dir morgen noch Moped fahren beibringen und mein Taschenmesser kannst du auch haben, als Andenken“, sagte er.

„Ich will nicht, dass du fortgehst“, erwiderte Friedrich und holte tief Luft, um nicht auch in Tränen ausbrechen zu müssen.

„Keine Angst, ich werd nicht Pfarrer, ich werd Richter und dann werde ich alle verklagen.“

Eng umschlungen unter ihren Bettdecken, dieses Mal hatte Friedrich seinen Arm schützend um den großen Bruder gelegt, schliefen sie ein.

Vater hörte sich weiterhin täglich in der Mittagszeit die Sorgen der Dorfbürger im Rathaus an. Es kamen Frauen aus dem Dorf, die ihn baten, ihren Männern zu sagen, dass sie nicht so viel trinken sollten, es kamen Kriegsinvalide, die ihr Leid klagten, weil sie mit der Arbeit auf dem Feld nicht fertig wurden, und manch einer wütete über sein ungezogenes Kind und fragte sich, ob es nicht ein Bankert aus den Kriegstagen sei. Es kamen Alte, die nach Brennholz fragten, oder Lebensmittel brauchten, weil sie zu wenig Rentenmarken geklebt hatten und ihr Essen nicht ausreichte.

„Euer Vater ist ein guter Mensch“, sagte Mutter immer, wenn sie Friedrich und Schorsch mal wieder mit einem Korb voller Kartoffeln und Äpfel zu den Häusern der Bedürftigen losschickte. Doch seit dem Tag, an dem Friedrich allein die Körbe trug, zweifelte er, ob Vater wirklich ein guter Mensch, ein guter Vater war.

*

Vater ist ein Schwächling, dachte Friedrich. Als der zweite Weltkrieg begann, hatte Friedrich gesehen, wie Mutter dem Hausarzt eine Stofftasche mit einer Flasche Schnaps und einen in Zeitungspapier gewickelten Schinken in die Hand drückte.

„Herr Doktor, mein Mann hat schon so viel mitgemacht, können Sie nicht was tun?“

Der Arzt nickte. „Und Ferdinand, der schafft den Hof ja auch nicht allein“, unterstützte er Mutters Absichten.

„Es ist wegen der Lunge, Herr Doktor, sein Husten nachts, den er vom letzten Krieg mitgebracht hat …“, wich Mutter aus.

Vater musste nicht in den Krieg ziehen, Ferdinand nicht – nur er.

In den letzten Kriegstagen kam eine Frau auf den Hof gerannt und rief: „Bürgermeister, die Amerikaner kommen, sie sind schon bei den Weinbergen, schnell, Sie müssen was tun“, rief sie ganz außer Atem.

Vater befahl Mutter ein Bettlaken zu holen und Ferdinand die Apfelpflückstange aus der Scheune, an die das weiße Laken gebunden wurde. Mit dieser weißen Friedensfahne in der Hand und seinem hinkenden Sohn an der Seite ging er den amerikanischen Soldaten auf den Weinbergwegen entgegen und überreichte ihnen den Rathausschlüssel.

„Es fiel kein einziger Schuss, Opa rettete unser Dorf “, prahlte sein Neffe jeden Sonntag beim gemeinsamen Mittagessen, bei dem die ganze Familie zusammensaß, eine Tradition, die Mutter nach dem Krieg hatte wiederaufleben lassen.

„Weißt du, dass Vater nicht mal in der Partei war?“, wandte sich sein Bruder Ferdinand jetzt an ihn.

„Mutter hatte ihn ins Rathaus nach Ellersbach geschickt, damit er sich als Parteimitglied eintrage. Aber Vater“, so erzählte dieser weiter, „war damals auf halbem Weg umgekehrt und all die Hitlerjahre hindurch hatte niemand gemerkt, dass er gar nicht in der Partei gewesen ist. Vater ist ein Held!“

Mutter klopfte bei diesen Worten sanft auf Vaters Schulter und setzte sich neben ihn. Er nahm ihre Hand und wollte mild und versöhnlich wirken, als er sagte:

„Ja, manchmal sind es die Daheimgeblieben, die ihren Mann stehen und das Vaterland retten müssen.“

Friedrich spürte, wie ihm der Sauerbraten aufstieß und einen bitteren Geschmack im Mund hinterließ.

„Ich muss gehen, meine kranke Frau wartet zuhause.“ Er stand ruckartig auf und murmelte noch „Gesegnete Mahlzeit!“

Mutter fing ihn an der Haustür ab und bat ihn zu warten, sie wolle für seine Frau noch etwas zum Einreiben mitschicken. Auch Gernot, der Jüngere der beiden Neffen, kam hinter ihm hergerannt:

„Onkel Friedrich, wann gehen wir wieder auf Rebhuhnjagd?“

„Bald“, antwortete Friedrich und tätschelte die Wange von Gernot. Er wurde jedes Mal schwach, wenn er die strahlend blauen Augen und den blonden Lockenkopf seines Neffen sah, die ihn immer wieder an seinen Bruder Schorsch erinnerten. Mutter hielt ihn am Arm fest, als sie ihm den Beutel mit dem Glas Gänseschmalz und einem Stoffsäckchen mit getrockneten Brennesselblättern in die Hand drückte.

„Dein Vater hat das nicht so gemeint, er war doch selbst im Krieg.“

„Ach was, für sein Drückebergertum müsste man ihn noch im Nachhinein erschießen“, entfuhr es Friedrich zornig, bevor er sich von ihr losriss.

„Friedrich, versündige dich nicht, um Gottes Willen!“, stieß Mutter hervor und als sie ihn die Treppe hinunter und zum Hof hinausgehen sah, bekreuzigte sie sich.

Friedrich war aufgewühlt von dem Geschwätz und quälte sich den ganzen Weg durch den Wald zurück nach Hause mit Gedanken über Sünde und Strafe. Wofür wurde er eigentlich bestraft, fragte er sich.

Schorsch, seinen Bruder, den er so geliebt hatte, hatte er verloren, seine Frau war krank, seine Ehe blieb kinderlos und für seinen Einsatz im Krieg wurde er nun mit der Häme der Drückeberger überschüttet – war dies nicht alles Strafe? Aber wofür?

Er verfluchte sich und die Welt und merkte, wie bei diesen Gedanken sein Kopf schwer wurde und er ließ ihn in beide Hände auf die Schreibtischplatte fallen. Als er wieder zu sich kam, seinen Kopf hob, sah er das Bild von Schorsch auf seinem Schreibtisch stehen und spürte, wie sehr er ihn noch immer vermisste, als draußen ein Ast vom Baum herunterkrachte.

Es war Paul, er hatte ihn gebeten, die Obstbäume zu schneiden. Paul war jung, ein ehemaliger Schüler von ihm – auch er war im Krieg gewesen.

Durchs Fenster beobachtete er, wie Paul auf den Bäumen herumkletterte und die Äste für den nächsten Austrieb zurückschnitt. Mit seinen weit ausholenden, gestreckten Armen lockerte er die abgeschnittenen Zweige aus dem Geäst und warf sie auf die Erde. Friedrich konnte die Muskeln seiner Oberarme und seiner Schultern unter dem Hemd erkennen, wie diese sich zusammenzogen und gespannt weiteten, wenn wieder ein Ast Richtung Boden fiel. Der Schweiß rann ihm den Nacken hinunter und in seinen dunklen Locken verfing sich das eine oder andere trockene Blatt des Baumes. Friedrich spürte den Schmerz, eine Sehnsucht in der Brust, die ihn fast zerriss. – Wie gerne wäre er noch einmal jung gewesen.

7 Liebesreigen

Martha konnte es noch immer nicht glauben. Antonia, die junge Wirtshausbesitzerin war zu Besuch da gewesen. Sie hatte Bohnenkaffee mitgebracht, von dem die Mutter gleich welchen aufbrühte, und Seidenstrümpfe für Martha. Ob Martha am Wochenende beim Bedienen helfen könne, hatte sie gefragt. Die Mutter nickte und ließ sich auf den Stuhl sinken und Martha konnte ihr Glück kaum fassen.

Antonia, auch Toni genannt, die nur fünfzehn Jahre älter war als sie, führte den Gasthof im Dorf. Martha hatte von den Tanzabenden mit modernem Swing und Schlagern gehört, die bei Antonia im Saal stattfanden. Antonia fuhr das erste Auto im Dorf und wenn sie montags am Ruhetag vom Einkaufen aus der Stadt zurückkam, warteten die Frauen aus der Metzgerei schon vor ihrem Haus gespannt darauf, was sie dieses Mal für sie mitgebracht hatte: Bett- und Tischwäsche, Kleider, Dessous, Nagellack, Lippenstift. Es hatte sich schon herumgesprochen, was danach hinter verschlossenen Fensterläden anprobiert wurde, wo nur lautes Gelächter zu vernehmen war und manchmal Zigarettenschwaden aus den Ritzen der Fensterläden hervordrangen. Die Modeschau der Frauen vom Dorf, mit selbstgemachtem Eierlikör in Schokokeksgläschen und Salzbrezeln und Goldfischli dazu. Martha hoffte, dass auch sie eines Tages in diese Runde aufgenommen werden würde, doch zuerst wünschte sie sich etwas anderes von Antonia. Sie wusste, dass deren jüngere Schwester Erna auf der höheren Schule war, der Lehrer hatte es zugelassen. Sie würde bestimmt das Geheimnis erfahren, wie sie es geschafft hatte und Antonia würde ihr sicherlich dabei helfen.

Es passierte gleich am ersten Wochenende, an dem sie bediente. Sie hatte das Mittagsgeschirr zurück in die Großküche getragen, als schon die ersten Fußballer eintrudelten und nach ihrem Maß Bier verlangten.

Paul war anders, er grölte nicht, sagte „bitteschön“ und überhaupt war Schreien nicht sein Ding.

„Bitte ein Radler“, bestellte er und lächelte Martha mit seinen dunklen Augen unter seinem schwarzen Lockenschopf an.

„Wer bist du denn?“, hatte er gefragt, „dich hab ich hier noch nie g’sehn.“

„Und du?“, gab Martha keck zurück, „wer bist du?“

„Komm, bring dem Paul ’ne Maß, 1:0 haben wir gewonnen, wegen ihm“, hörte sie einen Fußballer aus der Runde rufen.

Hinter der Theke erzählte Antonia ihr dann, dass der Paul wieder vom Krieg zurück ist. Und als sie Paul das Radler brachte, beschwerte sich Anton, wo denn seine Maß bliebe.

„Zuerst die, die sich benehmen können“, frotzelte Martha und schlug seinen Arm weg, mit dem Anton sie um die Hüfte packen wollte.

„Oh, die hilft zu unserm Paul“, betonte Anton. „Aber Paul, schlag sie dir aus dem Kopf, du bist einer von uns und Martha will sowieso in die Stadt, Lehrerin werden“, sagte er jetzt mit gehobener Stimme und zog die Augenbrauen dabei hoch.

„Wo bleibt denn die Maß?“ grölte Franz aus der Ecke, „die Sieger ham Durst.“

Martha eilte zum Zapfhahn, an dem Antonia schon die Maßkrüge aufgereiht hatte, nahm zwei in jede Hand und stellte sie vor ihnen auf dem Tisch ab. Paul warf Martha einen Blick zu und in dem Moment ging die Wirtshaustür auf und Edwin betrat die Gaststube. Er setzte sich zu den Fußballern und bestellte einen Apfelsaft.

„Danke Martha, schön dich zu sehen“, begrüßte er sie, als sie das Glas vor ihm abstellte.

Edwin war kein Fußballer, doch alle im Dorf hielten sich mit Kommentaren zurück. Zu mächtig wog der Vorwurf, dass das Gerede im Dorf seinen Vater in den Selbstmord getrieben habe. Edwin saß aufrecht in der Bank, den Kopf erhoben, fragte freundlich, wer das Siegertor geschossen hatte und prostete mit seinem Apfelsaft den anderen zu. So sehr Martha Edwins stoische Ruhe und Stolz bewunderte, so sehr suchte sie doch wieder nach den unruhigen und lachenden Augen von Paul. Er rauchte Zuban, die in der roten Packung. Das würde Martha sich merken.

Am späten Nachmittag gingen die Fußballer nach Hause, die meisten jungen Männer mussten das Vieh füttern. Manche kamen am Abend zum Schafkopf wieder.

Edwin, der seinen Apfelsaft an der Theke zahlte, fragte Martha, ob sie nicht mit ihm zum Kirchweihfest gehen wolle, als in dem Moment Paul mit erhobener Hand grüßend an der Theke vorbei zur Wirtshausstube hinausging. Martha wurde rot und stotterte irgendwas, von wegen, dass sie noch nicht wisse, ob ihre Mutter sie weggehen lassen würde, und anderes Zeug.

Noch während sie die Nachmittagstische abräumte, überlegte Martha schon, dass sie ihre hellen Sommerschuhe mit weißer Creme einschmieren wolle, die Seidenstrümpfe von Antonia anziehen und ihr Sommerkleid mit einem breiten Gürtel mit großer Schnalle zieren würde. Am liebsten hätte sie sich die Haare abgeschnitten und einen Bubikopf getragen, doch das Gerede im Dorf würde das Herz der Mutter nur noch schwerer werden lassen. Mit ihrer Schwester, die im Nachbardorf verheiratet war, würde sie tanzen üben in der Stube, das bräuchte die Mutter ja nicht zu wissen.

 

„Pack ihr noch Mohrrüben aus der Sandkiste mit ein, ein Glas Gurken und ein Einmachglas mit Birnenschnitz“, sagte die Mutter, als Martha ihren Rucksack für ihre Schwester Lene packte.

„Is’ ja schon gut, Mutter, aber das reicht jetzt. Ich schlepp mich ja zu Tode mit dem Rucksack übern Berg.“

Dass Martha unten in den Rucksack ihr Kleid, die Schuhe und die Lockenschere gepackt hatte, davon ahnte die Mutter nichts. Lene würde sich freuen, sie hatte ein Kleid von Mutter für sie umgenäht, auf Taille und mit Gürtel, vielleicht würde sie ja mit zum Kirchweihtanz kommen, wenn ihr Mann es zulässt.

Martha eilte mit diesen Gedanken unten zum Dorf hinaus, an den Gärten vorbei, zu den Weinbergen hoch, wo ein Waldweg sie in den Nachbarort führte.

*

Martha liebte diesen Weg, sie war ihn schon so oft als kleines Mädchen gegangen, zuerst mit ihrem Vater und dann allein. Wie jetzt im Mai zog sie, wenn sie drüben auf der anderen Seite unten am Bach angekommen war, ihre Wollstrümpfe aus und lief barfuß über das weiche, noch vom Schneewasser getränkte Moos am Waldesrand und kletterte über die sonnenerwärmten Steine der Bachbrücke. Mai bedeutete für sie luftiger Rock, weißes Blütenmeer an Bäumen und Sträuchern, dicke Maiglöckchensträuße, die sie als Kinder pflückten für die Marienaltäre, die in jedem katholischen Elternhaus in der Maienzeit zu finden waren.

Ihr Geruch ist giftig und dennoch hatten viele Frauen, so wie auch ihre Mutter, den Maialtar in ihrem Schlafzimmer hergerichtet. Die Muttergottesfigur hatte ein blaues Gewand und ein liebliches Gesicht und die Decke des Hausaltars war mit weißen Spitzen umhäkelt. Davor stand ein Schemel mit Kissen, damit es beim Knien und Beten für die Mutter nicht zu hart war. Die Blumenpracht faszinierte Martha, aber die Muttergottesfigur fand sie langweilig.

Ihre Mutter vertraute ihr kürzlich an, dass sie im hohlen Körper dieser Marienfigur immer ihr Bargeld versteckte – für den Fall, dass mal was mit ihr passieren würde, denn sie und Martha waren seit der Heirat ihrer Schwester allein. Martha musste lachen, drückte die Hand ihrer Mutter und flüsterte ihr zu:

„Weißt du was, Mama, da leg ich mein verdientes Geld vom Wirtshaus dazu, vielleicht findet ja ein Wunder statt wie bei der Brotvermehrung am See Genezareth. Die Mutter schüttelte den Kopf und ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln, was nur selten vorkam. Auch aus diesem Grund hatte es Lene schon früh von zuhause fortgezogen.

*

Lene breitete die Arme aus, als sie Martha zum Tor hereinkommen sah. Schon auf der Steintreppe vor dem Haus flüsterte sie ihr ins Ohr:

„Mein Mann ist heute Abend beim Weinbauverein.“

Martha schmunzelte und nickte. Lene nahm ihr den schweren Rucksack ab und während Lene die Kühe melkte und den Stall fertig machte, brachte Martha ihre Nichte und ihren Neffen ins Bett. Dann wurde noch Lore vom benachbarten Wirtshaus geholt, die ihren Plattenspieler im Koffer und ihre Schellackplatten mitbrachte. Dann konnte es losgehen.

Der Esstisch wurde zur Seite geschoben, Lene zog ihre Hochzeitsschuhe an und freute sich über das genähte Kleid von ihrer Schwester. Lore zog ein weißes Sommerkleid mit groß bedruckten blauen Blumen und enger Taille an und Martha holte ihre gefärbten Schuhe und ihr Baumwollkleid mit Taillenrock und UBoot- Ausschnitt aus dem Rucksack.

Die Walzermelodien erklangen und sie summten dazu, während sie sich Arm in Arm durch die Stube drehten. Bei den Swingplatten versuchten sie durch Fersenkicken, Auf- und Abwippen in den Knien, wobei sie den Hintern leicht nach hinten und den Oberkörper nach oben schoben, mit Schritten nach rechts, links, vor und zurück, in Schwung zu kommen. Sie drehten sich im Kreis, bis ihre Röcke hochflogen und ihnen schwindelig wurde und sie sich lachend auf das Kanapee in der Stube plumpsen ließen.

An diesem Abend legten Martha und Lene sich zu den Kindern ins Bett und Martha erzählte von Paul und ihrem Wunsch Lehrerin zu werden.

Am nächsten Morgen packte ihr Lene die Hochzeitsschuhe in den Rucksack.

„Für die Kirchweih“, sagte sie.

„Aber willst du denn nicht mitkommen?“, fragte Martha.

„Nein, ich war doch schon“, schüttelte Lene den Kopf. Und als Martha sie erstaunt anschaute, fuhr sie fort, „gestern Abend, weißt du es denn nicht mehr?“

Es ist so schön eine Schwester zu haben, dachte Martha und als sie oben am Berg ankam und über die Weinberge ins Tal und über das Dorf blickte und die Sonne aufgehen sah, hatte sie das Gefühl, dass die ganze Welt ihr gehörte.

Mutter dachte, dass sie beim Bedienen im Festzelt aushelfen müsse. Sie wusste nicht, dass Antonia ihr freigegeben hatte. Annegret und Liesl, ihre Schulfreundinnen, winkten schon von Weitem, als sie an der Festwiese ankam. Ihr Tisch stand vorne neben dem selbstgezimmerten Tanzboden, dessen Geländer mit bunten Girlanden geschmückt war, daneben die Trachtenkapelle. Martha setzte sich zu ihnen.

Annegret befühlte den Stoff von Marthas Sommerkleid und nickte anerkennend, und Liesl, die den breiten Gürtel an ihrer Taille bewunderte, sagte etwas spöttisch: „Na, aber oben rum fehlt dir noch was.“ Martha wurde verlegen, weil sie mit dem prallen Busen ihrer älteren Klassenkameradin nicht mithalten konnte.

Die gegenseitige Begutachtung wurde unterbrochen von den jungen Dorfburschen, die durch die Bankreihen gingen, mit Maßkrügen und Hüten schwenkend auf sie zukamen und sich zu ihnen setzten.

Paul war auch dabei und Marthas Herz begann schneller zu klopfen. Er tanzte von Anfang an mit ihr. Sie ließen keinen Tanz aus. Sie genoss sein schönes Lachen, seinen freundlichen Blick und wie er jedes Mal seinen Kopf mit seinen schwarzen Locken beim Drehen nach hinten in den Nacken warf. Er hielt sie zugleich behutsam und fest an den Hüften während sie sich drehten und Martha begann zu schweben.

Danach fragte er sie, ob er eine Bratwurst oder ein Fischbrötchen für sie holen solle. Die anderen schauten schon etwas merkwürdig, weil Paul nur Augen für Martha zu haben schien. Und Liesl mischte sich sogleich ein und antwortete:

„Ja, eine Bratwurst möchte ich haben, Paul.“

Er tat ihr den Gefallen und als er zurückkam und sich neben Martha setzte, drängte sich Liesl von der anderen Seite an Paul heran.

Doch Paul ließ sich nicht stören. Er fragte nach ihrer Schwester, nach der Mutter, nach ihrem Vater, der im Krieg geblieben war. Er erzählte, wie froh er war, endlich wieder daheim im Dorf sein zu können. Martha nickte und meinte, dass auch sie gerne im Dorf lebe, doch dass sie gern Lehrerin werden möchte. Paul schaute sie irritiert an und fragte:

„Aber da musst du doch weg?“

„Ich komm doch wieder, es ist ja nur für kurz.“

„Für kurz?“, fragte Paul.

„Drei Jahre, aber einmal im Monat darf ich heim.“

Da trat Liesl hinter Paul heran und schrie ihm mit einem lauten Lachen ins Ohr „Damenwahl“, das mit einem Tusch der Kapelle begleitet wurde, und schnappte sich Paul. Er wirkte etwas verwirrt, als er in den Armen seiner neuern Tanzpartnerin über den Bühnenboden getragen und geschoben wurde, ganz so wie die Musik es verlangte.

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