Martha schweigt

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3 Antoniusfeuer

Sie haben unsere Welt verbrannt, dachte Martha, als sie in den frühen Morgenstunden, von Unruhe getrieben, die hintere Bergstraße hochlief, von wo aus sie die Flammen zum Himmel auflodern sah. Die Balken knirschten und bogen sich, bis sie barsten und der Dachstuhl in sich zusammenfiel. Laut und scheppernd krachte er durch die Decke des Lagerhauses und zerstörte alles, was unter ihm lag. Dunkler Rauch stieg in den Himmel und weiße Schwaden zogen übers Dorf hinweg. Die Feuerwehr versuchte vergeblich, mit ihrer Pumpe, die durch dicke Schläuche mit dem Dorfweiher verbunden war, die Wucht der Flammen einzudämmen, doch das Feuer verschlang alles.

Seitlich von der Lagerhalle, auf einer Steinmauer zur Straße hin, saßen Menschen auf Säcken und Bündeln. Sie hielten Hanfnetze mit Zwiebeln, Brot und Kartoffeln fest in ihren Händen, doch noch fester hielten sie ihre Kinder, die sie zwischen ihren Leibern und Kleidern versteckten, um sie vor dem Anblick dieses Grauens zu schützen. Sie hatten Decken über die Schultern gelegt, und ihre Körbe, in denen sie das Notdürftige verstaut hatten, lagen verstreut auf ihrem Fluchtweg ins Freie. Sie drängten sich eng zusammen und in ihren Augen, die noch immer erschrocken ins Feuer starrten, spiegelte sich die rote Glut der Flammen.

Früher wurde in der Halle Getreide gelagert, an den Wänden waren Säcke mit Saatgut und Torfballen aufgereiht, Kohlen und Briketts wurden dort an die Dorfbewohner verteilt, und auf der Holzrampe vor dem Lagerhaus stellten die Bauern ihre vollen Milchkannen ab, damit sie von der Molkerei abgeholt werden konnten. Einmal im Monat war auf dem Vorplatz Markt. Es trafen sich dort all jene, die etwas kaufen oder verkaufen wollten oder auch nur nach einem Rat suchten, wo man was bekommen könne.

Als der Krieg begann, behielten die Bauern ihre Waren für sich. Von der Milch schöpften sie die Sahne ab und stampften Butter daraus. Die Milch, die nicht getrunken wurde, stellte man an den warmen Herd, um aus der geronnenen Milch, die sich oben am Tonkrug absetzte, Quark zu machen. Die Masse wurde in ein Tuch eingeschlagen und das restliche Wasser ausgedrückt. Die gelblich trübe Molke gab man den Alten und Kranken zu trinken, schnell hatte man ihre heilende und stärkende Wirkung erkannt. Kohlen und Briketts gab es immer weniger, je länger der Krieg dauerte, umso mehr war man auf das Sammeln von Holz im Wald angewiesen. Das Getreide wurde oft gleich zur Mühle gefahren, man hatte nicht mehr genug, um etwas zu verkaufen. Nur das Saatgut wurde noch lange oben auf dem Speicher des Lagerhauses ausgebreitet, wo es vom Gemeindearbeiter zum Frühjahr hin gebeizt wurde, doch auch diese Menge verringerte sich von Jahr zu Jahr.

Als die ersten Flüchtlinge aus Schlesien kamen, verteilte sie der Bürgermeister auf die einzelnen Höfe. Nachdem einige sich beharrlich geweigert hatten sie aufzunehmen, ließ er Holzwände in der Lagerhalle einziehen, um somit einem Großteil der Zuflucht Suchenden Unterkunft zu gewähren. Es wurden Kanonenöfen und Herde aufgestellt und Säcke mit Stroh und alte Matratzen aus Hanf herbeigeschafft. Verstaubte Holzkisten, die früher mit Kartoffeln oder Hafer gefüllt gewesen waren, dienten als Möbel.

Auf dem Speicher des Lagerhauses hatte sich all das angesammelt, was die Flüchtlinge an Kostbarkeiten auf ihren Leiterwagen mit sich geschleppt hatten, in der Hoffnung, diese gegen etwas Essbares eintauschen zu können.

In Körben, Truhen und Koffern waren Bilder oder auch nur wertvolle Bilderrahmen verstaut, zusammen mit vielen Stoffbahnen aus Baumwolle, Seide und Leinen. Spindeln mit aufgerollten Spitzenborten und Satinbänder lagen dazwischen und Federstolas hingen aus den aufklaffenden Gepäckstücken heraus, an denen die Schlösser aufgesprungen oder gewaltsam geöffnet worden waren. Schwere Kerzenständer aus Messing, in rotem Filz oder wertvollen Pelzkragen eingewickelt, lagen zwischen dicken Büchern mit bunten Drucken und ledernem, goldbesetztem Einband, eng zusammen in hölzernen Kisten geschichtet.

Für Martha, die in dem kleinen katholischen Dorf nur Das Neue Testament und Die heiligen Legenden gekannt hatte, öffneten diese reich bebilderten und mit farbenprächtigen Zierschriften illustrierten Bücher ein Fenster zu einer neuen Welt, jenseits von Dorf, Wald, Wiesen und Feldern, größer, weiter und bunter, eine Welt, die es dort draußen irgendwo geben musste und in Martha das Fernweh weckte.

Martha lief hinunter zu Annegret und Edwin, die sie in der gaffenden Menschenmenge entdeckt hatte. Viele aus dem Ort waren zusammengelaufen und versammelten sich auf der Straße vor dem Lagerhaus. Martha hatte sich oft heimlich mit Annegret und Edwin dort getroffen. Hinten an der Rückwand des Lagerhauses stand immer eine Leiter angelehnt, mit der sie hoch in den Speicher geklettert waren und für Stunden die Dorfwelt vergessen konnten.

Sie und Annegret wickelten sich in bunte Seidenstoffe ein, warfen sich Federstolas oder Pelzchen über die Schultern, legten sich Satinbänder um den Bauch, hängten sich lange Perlenketten und Amulette um den Hals, probierten Hüte mit Blumengestecken oder kleinen Netzschleiern aus, spielten Prinzessin, Königin und feine Dame aus der Stadt zugleich. Das höchste der Gefühle war eine Zigarettenspitze; diese galant in den Mund gesteckt, posierten sie kichernd vor einem goldumrandeten zerbrochenen Spiegel.

Sie setzten Edwin einen Turban auf und warfen ihm ein Tuch mit goldbedruckten Ornamenten über die Schultern und ernannten ihn zum Sultan, zum König des Morgenlandes und Herrscher des Orients. Edwin war genervt von ihrem Gegacker und schälte sich aus der Verkleidung heraus. Meist saß er in der Ecke, blätterte durch die fremden Bücher und konnte seine Augen nicht abwenden von den Bildern eigenartiger Tiere, seltsamer Pflanzen und Menschen aller Hautfarben aus den unterschiedlichen Regionen der Welt.

Martha und Annegret beugten sich manchmal neugierig über seine Schulter, wenn er wieder in die Bildkarten versunken war und die Darstellungen der einzelnen Kontinente Asien, Afrika, Amerika und der Antarktis genau studierte. Die Art der Bekleidung, die Bemalung von Gesichtern oder Körpern, Kopfschmuck, Arm- und Halsreifen, Bronze- oder Tongefäße für Rituale, Waffen für den Kampf oder auch Schriftzeichen und Musikinstrumente sahen sie zum ersten Mal. Auch die Zeichnungen von nackten Menschen, jeder Strich eine Muskelfaser, von außen und von innen, ließen sie lange nicht mehr los.

Martha glaubte sich zu erinnern, dass Edwin das eine oder andere Buch mit nach Hause genommen hatte. Annegret ließ ein Amulett mitgehen und sie eine Brosche. Niemals hätten sie die Schmuckstücke tragen können, ohne dass ihr Geheimnis entdeckt worden wäre. Martha hatte ihres in den Kopfkeil des Bettes eingenäht und so wurde sie abends, bevor sie einschlief, jedes Mal an ihr schuldhaftes Vergehen erinnert und bekam ein schlechtes Gewissen.

Martha, die mittlerweile in der Traube der Menschen stand, die sich neugierig vor dem Brandort eingefunden hatte, hörte jemanden laut „Brandstiftung!“ rufen. Viele Köpfe drehten sich in die Richtung des Rufenden.

„Nein, wer sagt denn so was?“, empörte sich eine ältere Frau, die sich die Hand vor den Mund hielt und fortwährend mit dem Kopf schüttelte: „Die haben doch niemanden etwas weggenommen.“

„Naja, die eine Gör von denen hat neulich die Äpfel vom Bernbauer sein Garten aufgeklaubt“, kam es aus der Runde.

„Also, ich bitt’ euch, des sind doch Kinder, die haben Hunger“, entgegnete die Alte ihnen.

„Ja und wir, sollen wir nichts essen, jetzt wo sie unser Getreide mit dem Mutterkorn vergiftet ham!“, protestierte einer in der Runde. „Aber das wurde doch schon lang nicht mehr im Lagerhaus aufbereitet“, mischte sich ein älterer Bauer ein.

„Doch“, beharrte ein Jüngerer, „das letzte Saatgut haben wir raus geschaufelt, als die Halle den Flüchtlingen zugewiesen wurde, wer weiß, was die da für Krankheiten aus dem Osten oder vom Russ’ mitgebracht haben?“

„Die haben doch selbst nichts zu fressen gehabt, wie sollen die denn da was mit eingeschleppt haben!“, hörte man wieder eine Männerstimme einwenden.

„Die hatten Geld!“, beharrte der Jüngere erneut, „neulich hat mir einer von denen einen Messingkerzenständer angeboten, für einen Laib Brot. Ich weiß nicht, was die dort oben noch auf ihrem Dachboden gebunkert hatten.“

„Von einem Kerzenständer wirst du halt nicht satt, was soll denn des Geschwätz“, mischte sich die ältere Frau nun wieder ein.

„Naja, wer weiß, ob die den net aus der Kirche geklaut haben?“, ereiferte sich der Jüngere weiter.

„Spinnst du denn jetzt ganz und gar?“, fuhr ihn die Alte aufgebracht an.

„Des sind doch Protestanten, die achten doch nicht die Heiligenbilder und des Kreuz in der Kirch, die haben keine Beichte und wissen auch gar net, was a Sünd ist“, triumphierte dieser jetzt laut über die Köpfe der Menge hinweg, wobei einzelne zustimmend nickten.

Die alte Frau schüttelte wieder den Kopf, machte sich den Weg frei durch die Menge, zeigte mit dem Finger auf den Jüngeren und sagte:

„Du warst schon immer ein dummer und gehässiger Bub!“ Dann drehte sie sich um und ging.

„Und des Mutterkorn?“, rief er ihr laut hinterher, „was ist denn mit den Kindern, mit ihren tauben Fingern und Zehen und den roten aufgeplatzten Grinden in ihrem Gesicht?“

„Heilige Maria Mutter Gottes“, brabbelte jemand hinter Martha vor sich hin. Und als Martha sich umdrehte, sah sie, dass die Frau sich bekreuzigte. „Sie haben uns das Antoniusfeuer mitgebracht und jetzt ist es ihnen vom Herrgott zurückgegeben worden, des Antoniusfeuer, das Mutterkorn …“

Der Jüngere, der Sepp hieß, ließ nicht locker und verkündete weiter: „Dem Körner sein Kind kam neulich mit ’ner Behinderung auf die Welt. Zeit seines Lebens wird der net wieder gesund werden. – Des bringt uns diese Brut mit ins Dorf!“

 

„Beruhig dich, Sepp“, sagte jetzt eine Frau hinter ihm, die ihn am Arm aus der Menge zog und mit sich nach Hause nahm. Es war seine Mutter, die ein wachsames Auge auf ihren Sohn warf, seitdem dieser vom Militärdienst wegen seiner dicken Brillengläser abgelehnt worden war und im Feld nicht seinen Mann hatte stehen können.

Edwin, Annegret und Martha blickten sich irritiert an. Dann drehte Edwin sich wortlos um und ging nach Hause. Annegret packte Martha am Arm und zog sie mit hinauf zur hinteren Bergstraße, von wo aus sie einen weiten Blick über das verkohlte Lagerhaus hatten.

„Der Paul ist wieder da, weißt du’s schon?“, sagte Annegret ganz aufgeregt.

Martha, die ihren Blick noch immer nicht vom Ort des Geschehens abwenden konnte, seufzte tief: „Jetzt haben sie unsere Welt verbrannt.“

„Sei nicht albern“, stieß Annegret sie in die Seite, „des waren doch nur Kindereien.“

„Kommst du mit?“, fragte sie und fasste Martha an der Hand, „wir laufen die Kirchgasse hinunter an Pauls Hof vorbei, vielleicht sehn wir ihn ja.“

Martha ließ ihre Hand los, ihr war nicht nach Rennen zumute und verwirrt fragte sie: „Wer ist denn dieser Paul?“

„Dem Karl sein Bruder, kannst du dich denn nicht mehr erinnern, der war bei uns in der Schule?“

Martha schüttelte den Kopf. Annegret war zwei Jahre älter als sie und es gab nur eine Dorfschulklasse, doch sie konnte sich nicht erinnern.

„Naja, du warst ja damals noch ein Kind, als die zum Krieg eingezogen wurden“, kommentierte sie Marthas Erinnerungslücke.

Martha schaute sie mit großen Augen an. Annegret packte sie an beiden Armen und schüttelte sie.

„Heute Abend auf dem Dorfplatz treffen wir uns an der Waagbank neben dem Backhaus. Kommst du?“, fragte Annegret.

Martha zuckte mit den Schultern.

„Die Liesl hat gesagt, die jungen Burschen kommen auch“, versuchte sie die Freundin zu begeistern.

Martha löste sich aus dem Haltegriff Annegrets, die sich noch einmal umdrehte, bevor sie die Bergstraße mit großen Sprüngen hinunterrannte und ihr zurief: „Also, bis heute Abend!“

Martha lief gern die hintere Bergstraße entlang. Von dort aus konnte sie in die Gärten und Höfe der Häuschen blicken, die am Hang zur Dorfstraße hin gebaut worden waren. Sie sah die Kaninchenställe und die freilaufenden Hühner hinten im Hof, die nach den restlichen Körnern pickten, die Frauen, die Wäsche an die Leine hängten – es war immer jemand zuhause. Am Scheunentor hingen Kaninchenfelle, die auf Holzgestellen zum Trocknen aufgezogen worden waren. Sie musste an ihren Vater denken, der immer Tränen in den Augen hatte, wenn er wieder einen Hasen mit einem Nackenschlag getötet oder einem Huhn mit dem Beil den Kopf abgehackt hatte. Sie vermisste ihn sehr. Mit Mutter allein war alles so dunkel und trostlos im Haus.

Doch als sie wieder an die verbrannte Welt des Lagerhausspeichers dachte, wich ihre Traurigkeit einer Wut, einem Entsetzen darüber, was sich Menschen antun können. Gleichzeitig spürte sie eine beängstigende Unruhe in sich aufkommen, eine Ahnung, ein Gedanke, dass vielleicht noch Schlimmeres passieren könnte.

4 Heimkehr

Auf dem Feldweg unterhalb der Weinberge lief ein Mann auf das Dorf zu. Die Stiefel an seinen Füßen schienen zu schwer für seinen schmalen Körper zu sein und doch setzte er entschlossen jeden Schritt vor den anderen, so als ob er sein Ziel kannte.

Nichts als heim, dachte Paul, heim zur Mutter, heim ins Dorf. Mutter hatte ihm über die Feldpost geschrieben, dass sein Bruder Karl gefallen war und sein Vater als vermisst galt, doch er wollte nur nach Hause, einfach nach Hause.

Er wischte sich mit der staubigen Hand über die Stirn und hoffte, dass niemand fragen würde. Das Gewehr drückte schwer auf seinen Schultern, ebenso das Gewicht seines leeren Rucksackes, an dessen Riemen ein Kaffeebecher baumelte. Das Gewehr hatte ihm auf der langen Strecke durch Wald und Wiesen geholfen zu überleben, jetzt würde er es nicht mehr brauchen.

An den Weinstöcken am Wegesrand konnte er schon die ersten Triebe an den Reben erkennen und musste an all die Jahre denken, wie sie als Kinder bei der Weinlese am Abend mit nackten Füßen die Trauben in der Kelter festgestampft hatten und danach den ersten Most kosteten, der über eine äußere Rinne in einen Eimer gelaufen war. Die Arbeit dauerte oft bis spät in die Nacht, doch jedes Mal war es ein Freudenfest.

In seinem Innern erklang die Musik von damals und beschwor Bilder von lachenden Mädchengesichtern herauf. Er versuchte sich vorzustellen, wie Annegret und Liesl wohl jetzt aussehen mochten und musste dabei schmunzeln, als plötzlich zwei Gestalten auf dem Feldweg vor ihm auftauchten und seine Erinnerungen vertrieben.

Er warf sich ins nächste Gebüsch und hielt den Atem an. Er wollte nicht gefunden werden, noch nicht. Einer der beiden Gestalten hielt eine Fahne in den Händen, die im Wind flatterte. Als sie näherkamen, spürte Paul, wie er zu keuchen anfing. Er hatte so viele Male im Krieg den Atem anhalten müssen, so dass sich sein Mund seit einiger Zeit wie von selbst öffnete, wenn er Luft holte. Hoffentlich hören oder sehen sie mich nicht, dachte Paul noch, als sie abrupt vor ihm stehen blieben.

„Komm raus!“, rief der Ältere mit der Fahne in der Hand.

Paul duckte sich noch tiefer, in der Hoffnung, unerkannt zu bleiben, als er erneut die Stimme vernahm.

„Komm raus! Wir tun dir nichts.“

Er befand sich im Nachbarort und er hätte nur noch den Waldhügel überqueren müssen, um zu Hause zu sein. Was sollte er tun? Doch dann sah er durch die Äste hindurch die Holzkrücke des Jüngeren und das missgebildete Bein und beruhigte sich. Mit erhobenen Händen trat er aus seiner Deckung heraus.

Der Ältere streckte ihm die Hand entgegen und sagte:

„Ich bin der Bürgermeister, Grüß Gott, mein Sohn.“

Jetzt erst sah Paul, dass es keine Fahne, sondern ein weißes Betttuch war, das an einer Apfelpflückstange gebunden war.

„Wir gehen den Amis entgegen“, sagte der Bürgermeister, als er Pauls fragenden Blick sah, „damit sie unser Dorf verschonen.“

„… und den Leut‘ nichts tun“, fügte der Jüngere hinzu.

„Wem g’hörst du denn?“, fragte der Ältere weiter.

„I..ch bin au…s Wiemersdorf, d..d..em Luber sein Jüngster“, stotterte Paul.

„Ludwig Kassierer aus Wiemersdorf, stimmt’s?“, wiederholte der Bürgermeister zackig und Paul nickte verlegen.

„Wenn du aus Wiemersdorf bist, dann kennst du meinen Sohn, den Friedrich, Friedrich Tetzlaff, der is’ doch Lehrer bei euch im Dorf.“ Paul nickte erneut und spürte, wie sein Herz zu klopfen begann. Seine Knie zitterten, das Blut sackte ihm in die Beine und ihm wurde schwindelig.

„Bist ja ganz blass“, hörte er den Bürgermeister noch sagen, während er sein Gewehr von der Schulter rutschen ließ, um sich darauf zu stützen.

„Gehst bei unserm Hof vorbei, wenn du vorne die Gasse runterkommst, meine Frau macht dir ’ne Brotzeit, dass d’ wieder zu Kräften kommst. Trink ’nen Schluck Most, damit d’ wieder Farb’ im G’sicht kriegst“, sagte er noch und klopfte Paul dabei auf die Schulter.

„Sagst dem Friedrich Grüß Gott von uns, bin auch froh, dass er wieder g’sund vom Krieg daheim ist.“

„Vergelt’s Gott“, grüßte Paul mit erhobener Hand und lief zügig, wenn auch noch schwankend, so schnell wie möglich den beiden Männern davon.

Er nahm sich fest vor, nicht beim Hof des Bürgermeisters einzukehren. Nichts, aber auch gar nichts mehr wollte er mit diesem Lehrer zu tun haben.

Doch als er die Gasse hinunterkam und die Bürgermeisterin durch das offene Tor mit dem Eierkorb in der Hand über den Hof laufen sah, trieb ihn der Hunger hinein. Er rief ihr zu, dass ihr Mann ihn geschickt habe, da ließ sie alles liegen und stehen und bewirtete ihn, wie er es schon lange nicht mehr erlebt hatte. Als er fertig war, packte sie ihm noch einen Laib Brot, Butter, Eier und ein paar Räucherwürste in den Rucksack, bevor er sich auf den Weg nach Hause machte.

„Vergelt’s Gott“, bedankte sich Paul verlegen, bevor er aufstand und den Hof verließ.

„Grüß den Friedrich von mir, war so froh, als sie im Radio gebracht haben, dass der Krieg vorbei ist.“

Paul spürte Verwirrung und Erleichterung zugleich in sich aufkommen und als er durchs Tor hinausging, drehte er sich noch einmal zur Bürgermeisterin um. Sie musste seinen verwirrten Blick bemerkt haben, denn sie fügte etwas leiser hinzu:

„Musst net beim Friedrich vorbeischauen, er kommt ja eh’ jeden Sonntag zum Mittagessen, hab nur gemeint, wenn du ihn halt triffst.“

Ich werd ihn nicht treffen, dachte Paul, und wenn’s der Zufall doch will, dann werd ich einen weiten Bogen um ihn machen.

Sein Bruder Karl war der Liebling des Lehrers gewesen, an ihm hatte der seinen Narren gefressen. Da nutzte es auch nichts, dass Paul ein guter Fußballspieler und ein guter Schüler war. Am Anfang wollte sein Bruder ihn nicht mal zu den HJ-Treffen mitlassen, und wenn sie mit der Fahne und uniformiert durchs Dorf marschierten, da trug sein Bruder jedes Mal die Fahne und Paul musste mit den anderen hinterhertrotten.

Wie eifrig er sich auch meldete und Interesse bekundete, der Lehrer schaute immer über ihn hinweg, so als ob er nicht existierte. Er hatte bei einem Diktat dem Bruno noch schnell die Kommas in den Text gemacht, bevor sie ihre Zettel abgeben mussten. Der Lehrer erwischte ihn und als sich Paul entschuldigen wollte, zischte dieser nur höhnisch, während er Paul das Ohr umdrehte, bis dieser vor Schmerz aufschrie.

„Entschuldigung, was heißt hier Entschuldigung – das ist ein Charakterfehler, ein Charakterfehler!“, hallte es bis in die letzte Bank der Schulstube. Paul ging beschämt und gedemütigt auf seinen Platz zurück. Nicht mal Bruno, sein Banknachbar, dem er eine gute Note verschaffen wollte, nahm Notiz von ihm. Der Lehrer hielt alle, vom erhöhten Pult aus, mit seinem stieren Blick im unsichtbaren Würgegriff.

Am Abend hat er’s dann Fritz, dem Ackergaul, im Stall erzählt, während er sein Fell mit Striegel und Bürste reinigte. Bei jedem Strich wiederholte er: „Ich hab keinen Charakterfehler, ich hab keinen Charakterfehlen, ich hab keinen Charakterfehler, …“ und bildete sich dabei ein, dass das Pferd jedes Mal mit dem Kopf nickte, bis der Vater mit der Petroleumlampe auftauchte, um vor der Nachtruhe noch mal nach den Tieren zu sehen. Paul wusste nicht, ob sein Vater ihn gehört hatte.

Paul war mittlerweile im Wald oben am Hügel, angelangt. Er wählte den gleichen Weg, den er immer mit Vater und Karl gegangen war, wenn sie die Verwandten im Nachbarort besucht hatten. Der weiche Waldboden war durchzogen mit Wurzelgeäst. In den Lichtungen konnte man die ersten Blätter der Maiglöckchen sehen und am Wegrand links und rechts die Bäume, in deren Rinde sie ihre Initialen eingeritzt hatten: A+K, L+P und K+P für Karl und Paul.

Paul blieb stehen und fuhr mit dem Finger den Buchstaben K nach. Wo Karl jetzt wohl ist?, dachte er wehmütig. Er spürte, wie eine große Welle der Traurigkeit ihn übermannte und wie eine bleierne Hand in seinem Nacken versuchte, seinen Kopf nach unten zu drücken. Doch Paul warf ihn ruckartig zurück in den Nacken und mit Blick zum Himmel schrie er: „Nein, nein, nein!“

Er weigerte sich vorzustellen, dass Karl tot sei. Er wird, wie ich, von der Kompanie geflohen sein, er war im Lazarett und ist nicht wieder zurückgegangen, die wissen nicht, die können doch gar nicht wissen, wo er ist, dass er noch lebt. Doch dann hätte Karl ein einziges Mal ungehorsam sein müssen, Paul zögerte bei diesem Gedanken, ein einziges Mal in seinem Leben. Und dieser Gedanke machte Paul erneut traurig und ließ seinen Kopf und die Hoffnung zugleich sinken.

Karl war so stolz, wenn er beim Abendbrot nach dem Gebet die Wochensprüche aus der Schule auswendig aufsagte:

„Der Führer weiß und kann alles“, sagte Karl eines Tages plötzlich nach dem Tischgebet.

„Der Hitler ist ein gottloser Mensch!“, entgegnete Vater erbost.

„Nur mit Gewalt kann man das erreichen, was man will“, postulierte Karl weiter.

„Gewalt erzeugt nur wieder Gewalt“, protestierte der Vater aufgebracht. Und erst als die Mutter ihre Hand auf die seine legte, beruhigte er sich.

„Euch wird’s nicht gut gehen, Kinder – wir gehen schweren Zeiten entgegen“, sagte er dann und kündigte mit den Worten „Gesegnete Mahlzeit“ die Schweigezeit während des Essens an.

Der Lehrer hatte den Paul immer übersehen und als der in die höhere Schule gehen wollte um zu studieren, da hat der Lehrer zum Vater „nein“ gesagt, „die jungen Leut sollen daheim im Dorf bleiben, dort wo sie gebraucht werden“. Der Vater war weitsichtiger, er wusste, dass der Hof nicht für beide Söhne reichen würde und deshalb hatte er Paul in der Fabrik eine Schlosserlehre machen lassen, bevor der Krieg begann. Die Mutter und sie alle hatten gedacht, dass Vater nicht mehr an die Front muss, wegen seiner Lungenkrankheit aus dem letzten Krieg. Die Nachricht hatte alle schockiert.

 

Am Abend des Tages, an dem der Einberufungsbefehl für Vater gekommen war und sie noch ein letztes Mal zusammen die Tiere im Stall striegelten, da sah Paul, dass sein Vater weinte, während er ruhig und gleichmäßig über das Fell der Tierrücken strich.

„Warum musst du denn in den Krieg?“, traute Paul sich nun zu fragen.

Jetzt war ein leichtes schmerzhaftes Lächeln auf dem Gesicht des Vaters im flackernden Schein der Petroleumlampe zu sehen.

„Weil ich einen Charakterfehler habe“, gab er zur Antwort zurück und Paul musste schlucken.

Bei den Weinbergen seines Heimatortes angelangt, lief er den Hang hinunter. Frauen, die in den angrenzenden Gemüsegärten ihre Beete jäteten, kamen ihm entgegengelaufen, als sie ihn erblickten.

„Paul, um Gottes Willen, Paul, bist du’s?“– „Heilige Maria Mutter Gottes, die ersten kommen schon heim.“ – „Gott sei Dank!“

Und dann kamen die Fragen: „Weißt du was vom Erwin?“ – „War der Josef bei dir in der Kompanie?“ – „Hast du was vom Hans gehört?“

Paul musste sie alle enttäuschen, als er sagte, dass viele in Gefangenschaft geraten seien.

„Na ja, um Gottes Willen, es wird scho’ alles gut gehen.“ – „Deine Mutter wird sich freuen, Paul, jetzt muss sie nicht mehr die ganze Arbeit allein machen.“

Paul lief das Dorf Richtung Kirchgasse, wo sein Elternhaus stand, hoch. Der Gedanke, dass er nicht Bauer sein wollte, sondern wieder zurück in die Fabrik gehen wollte, ließ ihn nicht mehr los. Er wollte zu seinem Meister zurück. Der Lehrer mochte ihn nicht, aber sein Meister, der wusste, was in ihm steckte, wusste, dass er tüchtig war.