Das Tagebuch der Anne Frank

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»Du weißt ja«, sagte er, »dass wir schon seit mehr als einem Jahr Kleider, Lebensmittel und Möbel zu anderen Leuten bringen. Wir möchten nicht, dass unser Besitz den Deutschen in die Hände fällt. Aber noch weniger wollen wir selbst geschnappt werden. Deshalb werden wir aus eigener Entscheidung weggehen und nicht warten, bis wir geholt werden.«

»Wann denn, Vater?« Der Ernst, mit dem Vater sprach, machte mir Angst.

»Mach dir darüber keine Sorgen, das regeln wir schon. Genieße dein unbeschwertes Leben, solange du es noch genießen kannst.«

Das war alles. Oh, lass die Erfüllung dieser Worte noch in weiter Ferne bleiben!

Gerade klingelt es, Hello kommt, ich mach Schluss! Deine Anne

Mittwoch, 8. Juli 1942

Liebe Kitty!

Zwischen dem Sonntagmorgen und jetzt scheinen Jahre zu liegen. Es ist so viel passiert, als stünde die Welt plötzlich auf dem Kopf. Aber, Kitty, du siehst, dass ich noch lebe, und das ist das Wichtigste, sagt Vater. Ja, in der Tat, ich lebe noch, aber frage nicht, wo und wie. Ich denke, dass du mich heute überhaupt nicht verstehst, darum fange ich mal an dir zu erzählen, was am Sonntag geschehen ist.

Um 3 Uhr (Hello war gerade weggegangen und wollte später wiederkommen) klingelte jemand an der Tür. Ich hatte es nicht gehört, denn ich sonnte mich faul in einem Liegestuhl auf der Veranda und las. Gleich darauf kam Margot ganz aufgeregt an die Küchentür. »Für Vater ist ein Aufruf von der SS gekommen«, flüsterte sie. »Mutter ist schon zu Herrn van Daan gegangen.« (Van Daan ist ein guter Bekannter und Teilhaber in Vaters Firma.)

Ich erschrak furchtbar. Ein Aufruf! Jeder weiß, was das bedeutet. Konzentrationslager und einsame Zellen sah ich vor mir auftauchen, und dahin sollten wir Vater ziehen lassen? »Natürlich geht er nicht«, sagte Margot, als wir im Zimmer saßen und auf Mutter warteten. »Mutter ist zu den van Daans gegangen und fragt, ob wir schon Morgen in das Versteck umziehen können. Van Daans kommen mit. Wir sind dann zu siebt.« Stille. Die Sprache versagte. Der Gedanke an Vater, der gerade, nichts Böses ahnend, einen Besuch im jüdischen Altersheim machte, das Warten auf Mutter, die Hitze, die Anspannung ... das alles ließ uns schweigen.

Plötzlich klingelte es wieder. »Das ist Hello«, sagte ich. Margot hielt mich zurück. »Nicht aufmachen!« Aber das war unnötig zu sagen. Unten hörten wir schon Mutter und Herrn van Daan mit Hello reden. Dann kamen sie herein und schlossen die Tür hinter sich. Bei jedem Klingeln gingen Margot oder ich nun leise hinunter, um zu sehen, ob es Vater war. Andere Leute ließen wir nicht rein. Margot und ich wurden aus dem Zimmer geschickt, van Daan wollte mit Mutter allein sprechen.

Als Margot und ich in unserem Schlafzimmer saßen, erzählte sie, dass der Aufruf nicht Vater gegolten hatte, sondern ihr. Ich erschrak wieder und begann zu weinen. Margot ist sechzehn. So junge Mädchen wollten sie deportieren? Aber zum Glück würde sie nicht gehen, Mutter hatte es selbst gesagt. Und vermutlich hatte Vater daran gedacht, als er mit mir über Verstecken gesprochen hatte.

Verstecken! Wo war es denn möglich, sich zu verstecken? In der Stadt? Auf dem Land? In einem Haus, in einer Hütte? Wann? Wie? Wo? Das waren Fragen, die ich niemandem stellen konnte und die mich doch ständig beschäftigten.

Margot und ich begannen, die nötigsten Sachen in unseren Schultaschen zu verstauen. Das Erste, was ich hineinlegte, war dieses gebundene Heft, danach Lockenwickler, Taschentücher, Schulbücher, einen Kamm, alte Briefe. Ich dachte ans Untertauchen und stopfte deshalb das unsinnigste Zeug in die Tasche. Aber es tat mir nicht Leid, denn ich mache mir mehr aus Erinnerungen als aus Kleidern.

Um fünf Uhr kam Vater endlich nach Hause. Wir riefen Herrn Kleiman an und fragten, ob er noch an diesem Abend kommen könnte. Van Daan ging los und holte Miep [Anm.: Hermine ›Miep‹ Gies war Assistentin in der Firma Opekta]. Sie kam, packte einige Kleider, Mäntel, Schuhe, Strümpfe und Unterwäsche in eine Tasche und versprach, abends wiederzukommen. Danach war es in unserer Wohnung still. Keiner von uns vieren wollte etwas essen. Das Wetter war noch lind, und alles war sehr sonderbar.

Im großen Zimmer wohnte Herrn Goldschmidt zur Miete, ein geschiedener Mann in den Dreißigern. Anscheinend hatte er an diesem Abend nichts vor, er hing bis zehn Uhr bei uns rum und war nicht wegzukriegen. Um elf Uhr kamen Miep und Jan Gies. Miep arbeitet seit 1933 bei Vater im Geschäft, und sie ist eine gute Freundin geworden, genau wie ihr frisch gebackener Ehemann Jan. Erneut verschwanden Schuhe, Hosen, Bücher und Unterwäsche in Mieps Beutel und Jans tiefen Taschen. Um halb zwölf gingen sie wieder.

Ich war todmüde. Mir war klar, dass es die letzte Nacht in meinem eigenen Bett sein würde, trotzdem schlief ich sofort ein und wurde am nächsten Morgen um halb sechs von Mutter geweckt. Zum Glück war es nicht mehr so heiß wie am Sonntag; den ganzen Tag fiel ein warmer Regen. Wir zogen so viel Kleidung übereinander an, als müssten wir in einem Eisschrank übernachten, und das nur, um noch ein paar Kleidungsstücke mehr mitzunehmen. Kein Jude hätte es in unserer Lage gewagt, mit einem Koffer voller Kleider auf die Straße zu gehen.

Ich hatte zwei Hemden, drei Hosen, zwei Paar Strümpfe und ein Kleid an, darüber Rock, Mantel, Sommermantel, feste Schuhe, Mütze, Schal und noch viel mehr. Ich erstickte zu Hause schon fast, aber das war jetzt nicht wichtig.

Margot stopfte ihre Schultasche mit Schulbüchern voll, holte ihr Rad und fuhr hinter Miep her, in Richtung einer mir unbekannten Zuflucht. Ich wusste nämlich noch immer nicht, wo der geheimnisvolle Ort war, zu dem wir gehen würden.

Um halb acht schlossen wir anderen die Tür hinter uns. Die Einzige, von der ich Abschied nehmen musste, war Moortje, meine kleine Katze, die ein gutes Zuhause bei den Nachbarn bekommen sollte, wie in einem kleinen Brief an Herrn Goldschmidt stand. Die ungemachten Betten, die Frühstücksreste auf dem Tisch, ein Pfund Fleisch für die Katze in der Küche, all das wirkte, als wären wir Hals über Kopf weggegangen. Das konnte uns egal sein. Wir wollten weg, nur weg, und sicher ankommen, sonst nichts.

Morgen mehr. Deine Anne

Donnerstag, 9. Juli 1942

Liebe Kitty!

So gingen wir dann im strömenden Regen, Vater, Mutter und ich, jeder mit einer Schul- oder Einkaufstasche, bis zum Rand vollgestopft mit allen möglichen Sachen. Die Arbeiter, die zeitig zur Arbeit gingen, schauten uns bedauernd nach. In ihren Gesichtern war deutlich zu lesen, dass es ihnen leid tat, uns kein Fahrzeug anbieten zu können. Der auffallende gelbe Stern sprach für sich selbst.

Erst als wir auf der Straße waren, erzählten Vater und Mutter mir nach und nach den ganzen Versteckplan. Schon monatelang hatten wir so viel Hausrat und Kleidung wie möglich aus dem Haus geschafft, und am 16. Juli wäre es soweit gewesen, dass wir planmäßig hätten untertauchen können. Durch diesen Aufruf war der Plan um zehn Tage nach vorne verschoben, so dass wir uns mit einer weniger gut vorbereiteten Unterkunft begnügen mussten. Das Versteck war in Vaters Bürogebäude. Für Außenstehende ist das ein bisschen schwer zu begreifen, darum werde ich es näher erklären. Vater hatte nicht viel Personal, Herrn Kugler, Herrn Kleiman und Miep, dann noch Bep Voskuijl, die 23-jährige Stenotypistin, und alle waren über unser Kommen informiert. Im Lager arbeiteten Herr Voskuijl, Beps Vater, und zwei Arbeiter, denen hatten wir nichts gesagt.

Das Gebäude sieht so aus: Im Parterre ist ein großes Magazin, das als Lager benutzt wird und wieder unterteilt ist in verschiedene Verschläge, zum Beispiel den Mahlraum, wo Zimt, Nelken und Pfeffersurrogat vermahlen werden, und den Vorratsraum. Neben der Lagertür ist die normale Haustür, danach eine Zwischentür, hinter der man zur Treppe gelangt. Oben an der Treppe kommt man zu einer Tür mit Milchglas, auf der einmal mit schwarzen Buchstaben das Wort »Kontor« stand. Das ist das große vordere Büro, sehr groß, sehr hell, sehr voll. Tagsüber arbeiten da Bep, Miep und Herr Kleiman. Durch ein Durchgangszimmer mit Tresor, Garderobe und großem Vorratsschrank kommt man zu dem kleinen, ziemlich muffigen, dunklen Direktorenzimmer. Dort saßen früher Herr Kugler und Herr van Daan, nun nur noch Ersterer. Auch vom Flur aus geht es in Kuglers Zimmer, durch eine Glastür, die zwar von Innen, aber nicht ohne weiteres von Außen zu öffnen ist. Von Kuglers Büro aus weiter durch den langen, schmalen Flur, vorbei am Kohlenverschlag und vier Stufen hinauf, da ist das Prunkstück des ganzen Gebäudes, das Privatbüro. Vornehme, dunkle Möbel, Linoleum und Teppiche auf dem Boden, Radio, elegante Lampe, alles prima-prima. Daneben ist eine geräumige Küche mit Durchlauferhitzer und zwei Gaskochern. Dann noch ein Klo. Das ist der erste Stock.

Vom unteren Flur führt eine gewöhnliche Holztreppe nach oben. Dort ist ein kleines Zwischenzimmer, das Diele genannt wird. Rechts und links sind Türen, die linke führt zum Vorderhaus mit den Lagerräumen, dem Dachboden und dem Oberboden. Vom Vorderhaus aus führt auf der anderen Seite auch noch eine lange, übersteile, echt holländische Knochenbrechertreppe zur zweiten Straßentür.

Rechts von der Diele liegt das »Hinterhaus«. Kein Mensch würde denken, dass hinter der schlichten, grauen Tür so viele Zimmer versteckt sind. Vor der Tür ist eine Schwelle, und dann ist man drinnen. Direkt gegenüber der Eingangstür ist eine steile Treppe, links ein kleiner Flur und ein Raum, der Wohn- und Schlafzimmer der Familie Frank werden soll. Daneben ist noch ein kleineres Zimmer, das Schlaf- und Arbeitszimmer der beiden jungen Damen Frank. Rechts von der Treppe ist eine fensterlose Kammer mit einem Waschbecken und einem abgeschlossenen Klo und einer Tür in Margots und mein Zimmer. Wenn man dann die Treppe hinaufgeht und oben durch die Tür tritt, ist man verwundert, dass es in einem alten Grachtenhaus so einen hohen, hellen und geräumigen Raum gibt. In diesem Raum stehen ein Herd (das haben wir der Tatsache zu verdanken, dass hier früher Kuglers Laboratorium war) und ein Spülstein. Das ist also die Küche und gleichzeitig auch das Schlafzimmer des Ehepaares van Daan, außerdem Wohnzimmer für alle, Esszimmer und Arbeitszimmer. Ein ganz kleines Durchgangszimmerchen wird Peters Appartement werden. Dann, genau wie vorn, ein Dachboden und ein Oberboden.

 

Siehst du, so habe ich dir unser ganzes schönes Hinterhaus vorgestellt!

Deine Anne

Freitag, 10. Juli 1942

Liebe Kitty!

Wahrscheinlich habe ich dich mit meiner langatmigen Beschreibung der Wohnung recht gelangweilt, aber es ist schon wichtig, dass du weißt, wo ich gestrandet bin. Wie ich gestrandet bin, wirst du aus den folgenden Briefen schon erfahren.

Nun weiter mit meiner Geschichte, denn ich bin noch nicht fertig, wie du weißt. Nachdem wir die Prinsengracht 263 erreicht waren, führte uns Miep gleich durch den langen Flur und über die hölzerne Treppe nach oben ins Hinterhaus. Sie schloss die Tür, und wir waren allein. Margot, die mit dem Rad viel schneller gewesen war, hatte schon auf uns gewartet.

Unser Wohnzimmer und alle anderen Zimmer waren so mit Sachen vollgestopft, dass man es nicht beschreiben kann! Alle Kartons, die im Lauf der vergangenen Monate ins Büro geschickt worden waren, standen auf dem Boden und auf den Betten. Das kleine Zimmer war bis an die Decke mit Bettzeug vollgestopft. Wenn wir abends in ordentlich gemachten Betten schlafen wollten, mussten wir sofort damit anfangen, den Kram in Ordnung bringen. Mutter und Margot waren nicht fähig, auch nur einen Finger zu rühren. Sie lagen auf den kahlen Betten, waren müde und schlapp und was weiß ich noch alles. Aber Vater und ich, die beiden Ordnungshüter der Familie, wollten sofort anfangen.

Wir räumten Schachteln aus und Schränke ein, den ganzen Tag lang, wir hämmerten und werkten, bis wir abends todmüde in die sauberen Betten fielen. Den ganzen Tag hatten wir kein warmes Essen bekommen, aber das störte uns nicht. Mutter und Margot waren zu müde und zu nervös, um zu essen, Vater und ich hatten zu viel Arbeit.

Dienstag Morgen machten wir da weiter, wo wir am Montag aufgehört hatten. Bep und Miep gingen mit unseren Lebensmittelmarken einkaufen, Vater reparierte die zum Teil kaputte Beleuchtung, wir schrubbten den Küchenboden und waren wieder von morgens bis abends beschäftigt. Bis Mittwoch hatte ich kaum Zeit, über die große Veränderung nachzudenken, die in mein Leben gekommen war. Jetzt fand ich zum ersten Mal seit unserer Ankunft im Hinterhaus Gelegenheit, dir die Ereignisse mitzuteilen und mir gleichzeitig darüber klar zu werden, was nun eigentlich mit mir geschehen war und was noch geschehen würde.

Deine Anne

Samstag, 11. Juli 1942

Liebe Kitty!

Vater, Mutter und Margot können sich noch immer nicht an das Geräusch der Westerturmglocke gewöhnen, die jede Viertelstunde verlauten lässt, wie spät es ist. Ich schon, mir hat es sofort gefallen, und besonders nachts hat es so etwas Beruhigendes. Es wird dich vermutlich interessieren, wie es mir »im Untergrund« gefällt. Aber ehrlich gesagt, weiß ich das selbst noch nicht genau. Ich glaube, ich werde mich in diesem Haus nie zuhause fühlen, aber damit möchte ich gar nicht sagen, dass ich es hier unangenehm finde. Ich fühle mich mehr wie in einer recht eigenartigen Pension, in der ich Ferien mache. Das ist eine ziemlich schräge Auffassung von Untertauchen, aber es ist nun mal nicht anders. Das Hinterhaus ist ein perfektes Versteck. Obwohl es feucht und ein bisschen zerknautscht ist, wird man wohl in ganz Amsterdam, ja vielleicht in ganz Holland, kein so bequem eingerichtetes Versteck finden.

Unser Zimmer war mit seinen nackten Wänden vorher sehr kahl. Dank Vater, der meine ganze Postkarten- und Filmstarsammlung schon zuvor hierher mitgenommen hatte, konnte ich mit Leimtopf und Pinsel die ganze Wand bestreichen und aus dem Zimmer ein einziges Bild machen. Es sieht nun viel fröhlicher aus. Wenn die van Daans kommen, werden wir aus dem Holz, das auf dem Dachboden liegt, ein paar Schränkchen und anderen netten Krimskrams basteln.

Margot und Mutter haben sich wieder ein wenig erholt. Gestern wollte Mutter zum ersten Mal Erbsensuppe kochen, aber als sie zum Ratschen unten war, vergaß sie die Suppe. Die brannte so an, dass die Erbsen kohlenschwarz und nicht mehr vom Topf loszukriegen waren. Gestern Abend sind wir alle vier hinunter ins Privatbüro gegangen und stellten den englischen Sender an. Ich hatte solche Angst, jemand könnte es hören, dass ich Vater regelrecht anflehte, wieder mit nach oben zu kommen. Mutter verstand meine Angst und ging mit.

Auch sonst haben wir große Angst, dass die Nachbarn uns hören oder sehen könnten. Gleich am ersten Tag haben wir Vorhänge genäht. Eigentlich kann man nicht von Vorhängen sprechen, denn es sind nichts weiter als Lappen, vollkommen unterschiedlich in Form, Material und Muster, die Vater und ich sehr unprofessionell schief aneinander genäht haben. Mit Reißnägeln wurden diese Prachtstücke vor den Fenstern befestigt, und sie würden vor Ablauf unserer Untertauchzeit nie mehr herunterkommen.

Rechts neben uns befindet sich das Haus einer Firma aus Zaandam, links eine Möbeltischlerei. Diese Leute sind also nach der Arbeitszeit nicht in den Gebäuden, aber dennoch könnten Geräusche durchdringen. Wir haben Margot deshalb auch verboten, nachts zu husten, obwohl eine schwere Erkältung sie erwischt hat, und wir geben ihr große Mengen Codein zu schlucken.

Ich freue mich sehr auf die Ankunft der van Daans, die am Dienstag sein soll. Es wird viel gemütlicher und auch weniger still sein. Die Stille nämlich ist es, die mich abends und nachts so nervös macht, und ich würde einiges darum geben, wenn jemand von unseren Beschützern auch hier schlafen würde. Sonst ist es hier gar nicht so schlimm, denn wir können selbst kochen und unten in Papis Büro Radio hören. Herr Kleiman, Miep und Bep haben uns sehr geholfen. Wir hatten sogar schon Rhabarber, Erdbeeren und Kirschen, und ich glaube nicht, dass wir uns fürs Erste hier langweilen werden. Zu lesen haben wir auch, und wir lassen noch einen Haufen Spiele besorgen. Aus dem Fenster schauen oder hinausgehen dürfen wir natürlich nie. Tagsüber müssen wir auch immer sehr leise gehen und leise sprechen, denn im Lager dürfen sie uns nicht hören.

Gestern hatten wir viel Arbeit, wir mussten für das Büro zwei Körbe Kirschen entkernen, Herr Kugler will sie einmachen. Aus den Kirschenkisten werden wir Bücherregale machen.

Gerade werde ich gerufen!

Deine Anne

Nachtrag, geschrieben am 28. September 1942

Es beklemmt mich doch mehr, als ich sagen kann, dass wir niemals hinaus dürfen, und ich habe große Angst, dass wir entdeckt und dann erschossen werden. Das ist natürlich eine gar nicht so angenehme Aussicht.

Sonntag, 12. Juli 1942

Heute vor einem Monat waren sie alle so nett zu mir, weil ich Geburtstag hatte, aber nun fühle ich jeden Tag mehr, wie ich mich von Mutter und Margot entfremde. Heut habe ich hart gearbeitet, und alle lobten mich überschwänglich, aber fünf Minuten später schimpften sie schon wieder auf mich ein.

Man kann deutlich den Unterschied sehen, wie sie Margot behandeln und mich. Margot hat zum Beispiel den Staubsauger kaputtgemacht, und deshalb ist den ganzen Tag das Licht ausgefallen. Mutter sagte: »Aber Margot, man sieht, dass du keine Arbeit gewöhnt bist, sonst hättest du gewusst, dass man einen Staubsauger nicht am Kabel zieht.« Margot sagte irgendwas, und damit war die Geschichte erledigt.

Aber heute Mittag wollte ich etwas von Mutters Einkaufsliste abschreiben, weil ihre Schrift so undeutlich ist. Sie wollte das nicht und hielt mir sofort wieder eine gepfefferte Standpauke, in die sich die ganze Familie einmischte.

Wir passen nicht zusammen, das wird mir vor allem in der letzten Zeit sehr deutlich. Sie sind so gefühlvoll miteinander, ich will das lieber sein, wenn ich alleine bin. Sie betonen, wie gemütlich wir vier es doch hätten und dass wir so harmonisch zusammenpassen würden. Dass ich es ganz anders empfinde, können sie sich keinen Moment lang vorstellen.

Nur Papa versteht mich manchmal, ist aber meistens auf der Seite von Mutter und Margot. Ich kanns nicht ausstehen, wenn sie vor Fremden erzählen, dass ich geheult habe, oder wie vernünftig ich bin, oder dass sie von Moortje [die Katze der Franks, die zurückgelassen werden musste, red.] anfangen zu reden. Das kann ich überhaupt nicht ertragen. Moortje ist mein weicher und schwacher Punkt. Ich vermisse sie jede Minute, und keiner weiß, wie oft ich an sie denke. Ich bekomme dann immer Tränen in die Augen. Moortje ist so lieb, und ich habe sie so gern, und ich träume davon, dass sie wieder zurückkommt.

Ich träume hier so schön. Aber die Wahrheit ist, dass wir hier sitzen müssen, bis der Krieg vorbei ist. Wir dürfen nie hinausgehen, und Besuch können wir nur von Miep, ihrem Mann Jan, Bep, Herrn Kugler und Herrn und Frau Kleiman bekommen – aber Frau Kleiman kommt nicht, sie findet es zu gefährlich.

Nachtrag, geschrieben am 28. September 1942

Papi ist immer so lieb. Er versteht mich vollkommen, und ich würde gern mal ganz allein und innig mit ihm reden, ohne sofort in Tränen auszubrechen. Aber das scheint an meinem Alter zu liegen.

Ich würde am liebsten immerzu schreiben, aber das wird viel zu langweilig. Bis jetzt habe ich fast nur meine Gedanken und Gefühle in dieses Buch geschrieben, aber hübsche Geschichten, die ich später einmal vorlesen kann, gibt es bisher keine. Aber ich werde in Zukunft nicht mehr so sentimental sein und mich mehr an die Wirklichkeit halten.

Freitag, 14. August 1942

Beste Kitty!

Einen Monat lang habe ich dich links liegen lassen, aber es passiert nun wirklich nicht so viel, um dir jeden Tag etwas Interessantes zu erzählen. Van Daans sind am 13. Juli angekommen. Wir dachten, sie kämen erst am 14., aber weil die Deutschen immer mehr Deportations-Aufrufe verschickten, fanden sie es sicherer, lieber einen Tag zu früh als zu spät umzuziehen.

Morgens um halb zehn (wir saßen noch beim Frühstück) kam Peter van Daan, ein ziemlich langweiliger und schüchterner Lulatsch von noch nicht sechzehn Jahren, von dessen Gesellschaft man nicht viel erwarten kann. Frau und Herr van Daan kamen eine halbe Stunde später an.

Frau van Daan hatte zu unserer großen Belustigung einen Nachttopf in ihrer Hutschachtel. »Ohne Nachttopf fühle ich mich nirgends zu Hause«, erklärte sie, und der Topf bekam sofort einen Stammplatz unter der Bettcouch. Herr van Daan hatte keinen Topf dabei, sondern trug einen zusammenklappbaren Teetisch unterm Arm.

Wir aßen am ersten Tag unseres Zusammenseins gemütlich miteinander, und nach drei Tagen fühlten wir alle sieben uns, als wären wir eine große Familie geworden. Selbstverständlich hatten die van Daans noch viel zu erzählen, sie waren ja eine Woche länger in der Welt draußen gewesen. Unter anderem wollten wir genau wissen, was mit unserer Wohnung und mit Herrn Goldschmidt passiert war.

Herr van Daan erzählte: »Montagmorgen um neun Uhr rief mich Goldschmidt an und fragte, ob ich mal schnell herüberkommen könne. Ich ging gleich hin und fand ihn sehr aufgeregt vor. Er gab mir den Zettel zu lesen, den Sie dort gelassen hatten, und er wollte die Katze laut Anweisung zu den Nachbarn bringen, was ich sehr gut fand. Er hatte Angst vor einer Hausdurchsuchung, deshalb kontrollierten wir alle Zimmer, deckten den Tisch ab und räumten ein bisschen auf. Da entdeckte ich auf Frau Franks Schreibtisch einen Zettel, auf dem eine Adresse in Maastricht stand. Obwohl ich wusste, dass Frau Frank ihn dort absichtlich hingelegt hatte, gab ich mich sehr erstaunt und erschrocken und bat Herrn Goldschmidt eindringlich, dieses unglückselige Papier zu verbrennen. Die ganze Zeit blieb ich dabei, dass ich nichts von Ihrem Verschwinden wüsste. Aber nachdem ich den Zettel gesehen hatte, kam mir eine gute Idee.

›Herr Goldschmidt‹, sagte ich, ›jetzt fällt mir auf einmal ein, was diese Adresse bedeuten kann. Ich erinnere mich deutlich, dass vor etwa einem halben Jahr ein hoher Offizier ins Büro kam, ein Jugendfreund von Herrn Frank, der versprach, ihm zu helfen, wenn es nötig sein würde, und der in der Tat in Maastricht stationiert war. Ich vermute, er hat sein Wort gehalten und die Franks irgendwie nach Belgien und von dort weiter in die Schweiz gebracht. Erzählen Sie das auch den Leuten, die vielleicht nach den Franks fragen. Maastricht brauchen Sie dann natürlich nicht zu erwähnen.‹ Und damit ging ich weg. Die meisten Bekannten wissen es nun bereits, denn ich habe meinerseits schon von verschiedenen Seiten diese Version gehört.« Wir fanden die Geschichte sehr witzig, lachten aber noch mehr über die Phantasie der Leute. Denn eine Familie vom Merwedeplein hatte uns angeblich alle vier morgens auf dem Fahrrad vorbeikommen sehen, und eine andere Frau behauptete, sie hätte gesehen, wie wir mitten in der Nacht in ein Militärauto gestiegen wären.

 

Deine Anne

Freitag, 21. August 1942

Beste Kitty!

Unser Versteck ist erst jetzt ein richtiges Versteck geworden. Herr Kugler fand es nämlich sicherer, vor unsere Zugangstür einen Schrank zu stellen (denn es werden Hausdurchsuchungen gemacht, um versteckte Fahrräder aufzuspüren), aber natürlich einen Schrank, der schwenkbar ist und wie eine Tür aufgeht. Herr Voskuijl hat das Ding geschreinert. (Wir haben ihn inzwischen über uns sieben Untergetauchte informiert, und er ist die Hilfsbereitschaft selbst.)

Wenn wir nach unten gehen wollen, müssen wir uns jetzt immer zuerst bücken und dann hinaus hüpfen. Nach drei Tagen liefen wir alle mit Beulen an der Stirn herum, weil sich jeder den Kopf an der niedrigen Tür stieß. Peter nagelte dann ein Tuch mit Holzwolle davor. Mal sehen, ob es hilft!

Lernen tue ich kaum, bis September mache ich Ferien. Danach will Vater mir Unterricht geben, aber erst müssen wir die neuen Schulbücher besorgen.

Viel Veränderung kommt nicht in unser Leben hier. Heute hatte Peter eine Haarwäsche, aber das ist nicht so etwas Umwerfendes. Herr van Daan und ich haben dauernd Knatsch. Mama behandelt mich immer, als ob ich ein Baby wäre, und das kann ich nicht ausstehen. Peter finde ich noch immer nicht besser. Er ist ein öder Junge, faulenzt den ganzen Tag auf seinem Bett, tischlert mal ein bisschen und geht dann wieder dösen. Was für eine Trantüte!

Mama hat mir heute Morgen wieder eine elende Predigt gehalten. Wir sind immer absolut gegenteiliger Meinung. Papa ist ein Schatz, auch wenn er mal fünf Minuten böse auf mich ist. Draußen ist schönes, warmes Wetter, und trotz aller Hindernisse nutzen wir das so gut es geht aus, indem wir uns auf dem Dachboden auf das Ausziehbett legen.

Deine Anne

Nachtrag, geschrieben am 21. September 1942

Herr van Daan ist in letzter Zeit scheinheilig freundlich zu mir, ich lasse es mir ruhig gefallen.

Mittwoch, 2. September 1942

Liebe Kitty!

Herr und Frau van Daan haben gewaltigen Streit gehabt. So etwas habe ich noch nie erlebt, denn Vater und Mutter würden nicht im Traum daran denken, sich derart anzubrüllen. Der Anlass war so unbedeutend, dass es nicht der Mühe gewesen wäre auch nur ein einziges Wort darüber zu verlieren. Na ja, jeder nach seinem Geschmack.

Für Peter ist es natürlich unangenehm, er steht doch dazwischen. Aber er wird von niemandem mehr ernst genommen, weil er furchtbar zimperlich und faul ist. Gestern war er ganz besorgt, weil er eine blaue Zunge bekommen hatte. Diese merkwürdige Erscheinung verschwand aber genauso schnell, wie sie gekommen war. Heute hat er den ganzen Tag einen dicken Schal um den Hals geschlungen, weil er ein steifes Genick hat. Des weiteren klagt der Herr über Hexenschuss. Auch Schmerzen zwischen Herz, Niere und Lunge sind ihm nicht fremd. Er ist ein echter Hypochonder! (So heißt das doch, oder?)

Mutter und Frau van Daan vertragen sich nicht gut. Anlässe für Unstimmigkeiten gibt’s ja eine Menge. Als kleines Beispiel will ich dir erzählen, dass Frau van Daan jetzt aus dem gemeinsamen Wäscheschrank für sich Laken herausgeholt hat, und nur drei übrig ließ. Sie meint, dass Mutters Wäsche für die ganze Familie verwendet werden kann. Sie wird schwer enttäuscht sein, wenn sie merkt, dass Mutter ihrem guten Beispiel gefolgt ist.

Außerdem hat sie eine Stinkwut, dass nicht unser Tischgeschirr verwendet wird, sondern ihrs. Immer versucht sie herauszufinden, wo wir unsere Teller hingetan haben. Sie sind näher als sie denkt, sie stehen in Kartons auf dem Dachboden hinter einem Berg Reklamematerial von Opekta. Solange wir uns verstecken, sind die Teller für sie unerreichbar, und das ist auch gut so!

Mir passieren dauernd Missgeschicke. Gestern habe ich einen Suppenteller von Frau van Daans Geschirr zerdeppert.

»Oh«, rief sie wütend, »pass doch besser auf! Das ist das Einzige, was mir geblieben ist.«

(Bitte berücksichtige, Kitty, dass die beiden Damen hier ein katastrophales Holländisch sprechen. Über die Herren wage ich nichts zu sagen, sie wären sehr beleidigt. Wenn du dieses Gestammel hören könntest, würdest du laut auflachen. Wir kümmern uns gar nicht mehr drum, verbessern nützt sowieso nichts. Ich werde aber, wenn ich über Mutter oder Frau van Daan schreibe, nicht ihre Originalsprache wiedergeben, sondern ordentliches Niederländisch.)

Letzte Woche hatten wir eine kleine Unterbrechung in unserem so eintönigen Leben, und das lag an einem Buch über Frauen, und an Peter. Dazu musst du wissen, dass Margot und Peter so gut wie alle Bücher lesen dürfen, die Herr Kleiman für uns ausleiht. Aber dieses spezielle Buch über ein »Frauenthema« wollten die Erwachsenen gar nicht gern aus den Händen geben. Das weckte Peters Neugier. Was für verbotene Dinge wohl in dem Buch stehen? Heimlich nahm er es aus den Sachen seiner Mutter, als sie unten am Reden war, und lief mit seiner Beute rauf zum Speicher. Zwei Tage lang klappte das. Frau van Daan wusste aber längst, was er tat; sie verriet aber nichts, bis Herr van Daan dahinter kam. Er wurde böse, nahm Peter das Buch weg und ging davon aus, dass die Sache damit erledigt wäre. Er hatte aber nicht mit der Neugier seines Sohnes gerechnet, den das energische Auftreten seines Vaters keineswegs aus der Fassung gebracht hatte. Er überlegte sich, wie er vorgehen konnte, um dieses hochinteressante Buch doch zu Ende lesen zu können.

Frau van Daan hatte inzwischen Mutter gefragt, was sie von dieser Sache halte. Mutter fand das Buch nicht gut für Margot, aber was die meisten anderen betraf, hatte sie keine Bedenken.

»Zwischen Margot und Peter ist ein großer Unterschied«, sagte Mutter.

»Erstens ist Margot ein Mädchen, und Mädchen sind immer reifer als Jungs, zweitens hat Margot schon mehr ernste Bücher gelesen und sucht nicht nach Dingen, die vielleicht verboten sein könnten, und drittens ist sie viel weiter entwickelt und verständiger, was auch ihre vier Jahre Oberschule mit sich bringen.«

Frau van Daan stimmte dem zu, fand es aber doch prinzipiell verkehrt, Jugendliche Erwachsenenbücher lesen zu lassen. Inzwischen hatte Peter den passenden Zeitpunkt gefunden, an dem niemand auf das Buch oder auf ihn achtete. Abends um halb acht, als die ganze Familie unten im Privatbüro Radio hörte, nahm er seinen Schatz mit hinauf zum Oberboden. Um halb neun wäre es Zeit gewesen, wieder unten zu sein, aber weil das Buch so spannend war, vergaß er die Zeit und kam gerade die Dachbodentreppe herunter, als sein Vater ins Zimmer kam. Was folgte, war klar. Ein Klaps, ein Schlag, ein Ruck, das Buch lag auf dem Tisch, und Peter verschwand auf den Oberboden.