Papa werden

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Bindung, ein Begriff, den Psychologen für das enge Band zwischen zwei Menschen geprägt haben, ist entscheidend für die Beziehung zwischen Eltern und Kleinkind. Der Vater der Bindungstheorie ist der englische Kinderpsychiater John Bowlby, der seine Forschungen in den 1950er-Jahren begann. Bowlby wies frühere Theorien zurück, die postulierten, Grundlage für das Band zwischen Eltern und Kind seien der Hunger des Kindes oder seine Abhängigkeit, etwas, das das Kind mit dem Erwachsenwerden überwinden sollte. Er sagte demgegenüber, es gehe um eine tiefe emotionale Verbindung zwischen Eltern und Kind, die für die gesunde Entwicklung des Kindes ausschlaggebend sei. Die Jungen von Säugetieren einschließlich uns Menschen kämen mit einem angeborenen Instinkt zur Welt, nach einer Bezugsperson zu suchen. In den frühen Arbeiten konzentrierte sich Bowlby fast ausschließlich auf die Bindung zwischen Mutter und Kind und konzipierte sie als ein Verhalten, das vom Kind ausgeht und sich auf die Mutter richtet, und nicht als Beziehung in beide Richtungen. Heute wissen wir, dass Letzteres richtig ist – auch Mütter entwickeln eine Bindung zu ihrem Kind – und dass das Phänomen ebenso in der Beziehung zwischen Vater und Kind eine Rolle spielt. Die häufigsten Bindungen sind die zwischen Eltern und Kind und zwischen Liebenden, aber es gibt auch Bindungen zwischen engen Freunden und, wie manche sagen, zwischen Haustieren und ihren Besitzern. Bindung ist schwer zu definieren – eines der Phänomene, die man schwer beschreiben kann, aber Psychologen wissen, wann sie es damit zu tun haben. Wenn wir eine Bindung beobachten – sei es eine romantische, eine zwischen Eltern und Kindern oder die Bindung in einer tiefen Freundschaft –, sehen wir zwei Menschen, die sich nach körperlicher Nähe sehnen, die ständig die emotionale Reaktion des anderen beobachten, um selbst die Umwelt besser einzuschätzen, und für die Getrenntsein eine Qual ist. Beispiele sind ein Welpe, der von seiner Mutter getrennt ist, oder ein kleines Kind, das von seinem Elternteil getrennt ist. In Kapitel sieben werden wir darauf zurückkommen, wenn wir uns die Entwicklung der Beziehung zwischen Vater und Baby nach der Geburt anschauen. An dieser Stelle möchte ich auf den relativ neuen Gedanken eingehen, dass sich dieses Band schon vor der Geburt bildet.

Es steht außer Frage, dass eine Mutter eine Bindung zu ihrem ungeborenen Kind entwickelt – dieser Prozess wird sehr dadurch gefördert, dass sie die Bewegungen ihres Kindes spürt und dass sie zusammen mit ihrem Kind eine intensive körperliche und emotionale Reise absolviert. Das bezeichnet man auch als das Privileg der Mutterschaft. Aber ist es wirklich ein Privileg, das nur der Mutter zugutekommt? Mittlerweile gibt es umfangreiche Belege, die dafür sprechen, dass dieses Privileg geteilt werden kann. Väter können genauso intensive Liebe zu ihrem ungeborenen Kind spüren, nicht wenig haben dazu die Ultraschalluntersuchungen beigetragen. Dank der neuen Technik konnten Väter erstmals über ihre Fantasievorstellungen hinaus ihr Baby wirklich sehen und hören. Tims Erinnerung an die erste Ultraschalluntersuchung zeigt, wie stark dieses Erlebnis sein kann:

Ich meine, bei der Untersuchung habe ich es zum ersten Mal richtig geglaubt. Davor habe ich es auch geglaubt, aber der Ultraschall gab mir die Gewissheit, dass es real war. Es zum ersten Mal zu wissen, auf dem Monitor den Beweis zu sehen, war großartig. Unvorstellbar. Ich staunte, war begeistert, konnte es kaum fassen.

Tim, werdender Papa

Die Technik wurde bereits in den 1950er-Jahren in Glasgow entwickelt, aber erst Anfang der 1970er-Jahre wurden Ultraschalluntersuchungen in der Schwangerschaft in Großbritannien üblich und erst Ende der 1970er-Jahre in den Vereinigten Staaten. Heutige Väter gehören damit zu einer der ersten Generationen, die routinemäßig die Gelegenheit haben, ihr ungeborenes Kind zu sehen, und alles in allem ist das eine gute Sache. Für die meisten Väter in meinen Studien war es selbstverständlich, dass sie zur Ultraschalluntersuchung mitgingen. Zwar gab es Ängste, dass bei dem Baby eine Unregelmäßigkeit entdeckt werden könnte, aber in der Mehrheit der Fälle berichteten sie von überwältigenden Emotionen wie Erleichterung, Stolz und Freude, wenn sie das Baby zum ersten Mal betrachten konnten. Infolge der raschen technischen Fortschritte können Eltern heute ihr Kind nicht nur hören und sehen, sondern bekommen ein Surround-Sound-Erlebnis mit einem 4D-Ultraschall. Diese Bilder zeigen das Baby dreidimensional und in Echtzeit – das ist die vierte Dimension. Es ergeben sich zahllose Gelegenheiten für frühe Diskussionen, wie er oder sie wohl aussehen wird. Für Väter, die von den körperlichen Bewegungen ihres ungeborenen Kindes wenig mitbekommen, ist das die große Chance, die Erfahrungen der Mutter zu teilen. Die Tage der grobkörnigen Schwarz-Weiß-Bilder sind vorbei, sie wurden abgelöst durch gestochen scharfe, bewegte Videos, die man auf DVD brennen, nach Hause mitnehmen und dort beliebig oft anschauen kann. Pier Righetti und seine Kollegen haben in den Abteilungen für Geburtshilfe und Gynäkologie zweier italienischer Krankenhäuser die Wirkung von 2D- und von 4D-Ultraschallbildern untersucht und dabei herausgefunden, dass die Väter, die Bilder in 4D-Technik sahen, einen viel größeren Sprung bei der Bindung zu ihren Kindern machten als Väter, die 2D-Bilder zu sehen bekamen, und dass sich die Intensität der Bindung auch zwei Wochen nach dem Untersuchungstermin noch unterschied. Möglicherweise versetzt die Chance, das eigene Kind dreidimensional zu sehen, verbunden mit der Möglichkeit, sich die Bilder immer wieder anzuschauen, Väter in die Lage, über die langen neun Monate der Schwangerschaft mit ihrem Kind verbunden zu bleiben.

Die Bindung zwischen Eltern und Kind ist die erste und vermutlich stärkste Bindung, die ein Mensch entwickelt, und ob es sich um eine gesunde oder eine ungesunde Bindung handelt, wird die Gesundheit und das Verhalten des Babys sein ganzes Leben lang bestimmen. Deshalb hat die Bindung zwischen Vater und Kind langfristige Implikationen für das Kind, die Familie und die Gesellschaft insgesamt. In den letzten Jahren sind wir zu der Ansicht gelangt, dass das Band zwischen Vater und Kind eine spezielle Verbindung ist, die eine einzigartige, wichtige Beziehung herstellt. Ben berichtet davon, wie sich dieses Band bei Vater und Kind schon lange vor der Geburt zu bilden beginnt:

Als meine Frau mit Rosie schwanger war, habe ich ihr immer »Der Mond ist aufgegangen« vorgesungen. Nach der Geburt, als sie auf dem Bauch ihrer Mutter lag, immer noch durch die Nabelschnur verbunden, habe ich wieder »Der Mond ist aufgegangen« gesungen, und sie erkannte es sofort. Das war einer der Momente, die ich nie vergessen werde.

Ben, Papa von Rosie (18 Monate)

Der australische Psychologe John Condon von der Flinders University hat die wichtigen Aspekte der Bindung vor und nach der Geburt untersucht und bahnbrechende Arbeiten dazu vorgelegt. Vor allem aber hat er die Unterschiede zwischen der Bindung von Vater und Kind und Mutter und Kind definiert. Bei einem werdenden Vater, dessen Beziehung zu seinem Kind hauptsächlich in seinem Kopf stattfindet, geben anscheinend drei Faktoren den Ausschlag, wie er eine Bindung zu seinem ungeborenen Kind entwickelt. Erstens kommt es darauf an, wie oft er sich in Tagträumen mit dem Kind beschäftigt und welche Gefühle das bei ihm auslöst. Ganz besonders wichtig ist, dass er sich das Baby als »kleine Person« vorstellt, und in welchem Ausmaß er positive im Gegensatz zu negativen Gefühlen ihm gegenüber empfindet. Denkt er in erster Linie darüber nach, wem er oder sie ähnlich sehen wird und wie er oder sie heißen soll, und wecken solche Gedanken Gefühle von Zärtlichkeit, Liebe und Glück? Oder denkt der werdende Vater selten an sein Kind, und wenn er es doch tut, ist seine Reaktion dann Ärger, Groll oder Frustration?

Der zweite Faktor ist, wie wohl sich jemand mit der gewählten Identität als Vater fühlt und, spezieller, inwieweit er sich vorstellen kann, ein »involvierter Vater« zu sein. Der Begriff »involvierter Vater« entstand in den 1980er-Jahren als Beschreibung für Väter, die ihre Elternrolle aktiv wahrnehmen und genauso viel zur Pflege des Kindes und seiner emotionalen und physischen Entwicklung beitragen wollen wie die Mutter – die »neuen Väter«, von denen in den Medien so viel die Rede ist. Die neuen Väter unterschieden sich sehr vom traditionellen Bild des Zuchtmeisters, der den Lebensunterhalt der Familie verdient, das in früheren Jahrzehnten vorgeherrscht hatte. Ein Vater in meiner Studie bezeichnete es als sein Ziel, ein Vater zu werden, der sich aktiv beteiligt:

Meine Rolle besteht darin, emotionale und finanzielle Unterstützung zu leisten. Ich denke, es ist ein bisschen von allem. Beim Elternsein geht alles gemeinsam – ich glaube nicht, dass ich allein das Geld verdienen und Julie allein die Erziehungsarbeit übernehmen sollte; ich denke, wir sollten das gleichmäßig aufteilen. Unsere Aufgabe ist es, unser Kind mit Geld, emotionaler Unterstützung, Schutz, Liebe und allem zu versorgen. Ich meine, es ist einfach großartig, Vater zu sein. Man hat so eine Verantwortung […] es gehört einfach alles dazu.

Colin, Papa von Freya (sechs Monate)

Die Entscheidung, welche Art Vater ein Mann sein will, hat entscheidende Auswirkung auf das Wesen der Bindung, die er zu seinem ungeborenen Kind ausbildet. Die australischen Psychologinnen Cherine Habib und Sandra Lancaster fanden in ihrer Untersuchung zu Bindung und Identität heraus, dass werdende Väter, die »Vater« als einen wichtigen Bestandteil – neben beispielsweise Ehemann und Geldverdiener – in ihre Identität integriert hatten und sich besonders stark mit der Rolle als Elternteil auf Augenhöhe identifizierten, eine intensivere Bindung an ihr ungeborenes Kind hatten als die Männer, die ihre Rolle primär darin sahen, das Geld zu verdienen. Viele Männer nehmen diese Identität bewusst an, so auch Mark:

 

Ich will nicht 60 Stunden in der Woche arbeiten und nicht da sein. Mein Vater war in meiner Kindheit ein Erfolgsmensch, er leitete ein Unternehmen. In meiner Erinnerung war er nur an Wochenenden da […] Ich gebe ihr zu essen, bade sie, bringe sie ins Bett […] jeden Abend, und das soll noch lange so gehen […] Ich will hier sein, [um] in Erinnerung [zu] bleiben.

Mark, Papa von Emily (sechs Monate)

Die Schwangerschaft gehört zu den wenigen Ereignissen im Leben, bei denen wir uns wirklich Zeit nehmen können, um uns auf eine größere Veränderung der Lebensumstände vorzubereiten. Die anderen wichtigen Übergänge – Pubertät, die erste Liebe, der erste Verlust – sind nicht so absehbar. Eltern haben die Chance, sich in den neun Monaten Schwangerschaft praktisch und emotional auf den Neuankömmling einzustellen. Wie aus den Berichten der Papas hervorgeht, die wir in diesem Kapitel gehört haben, ist es für viele Väter ein wichtiger Teil der Vorbereitung, sich zu überlegen, welche Art Vater sie sein wollen. Diese Gedanken über die Identität sind höchst wichtig für die Bindung, aber auch für das Selbstverständnis des Mannes und die Beziehung zu seiner Partnerin oder seinem Partner; alles wichtige Faktoren, wie gut ein Mann den Übergang zum Vatersein bewältigt. Hier spielt die Fantasiekraft eine ganz entscheidende Rolle:

Bevor ich ein Kind hatte, träumte ich davon, dass ich mit meiner Kleinen in ihrem Zimmer bin, weil sie ein bisschen unruhig ist, und ich wiege sie in einem Schaukelstuhl. Bevor also mein kleines Mädchen angekommen ist, habe ich den Schaukelstuhl meiner Mutter geholt und ins Kinderzimmer gestellt. Als er da stand, war es wie: »Endlich! Ich sitze in einem Schaukelstuhl! Und halte ein Baby in den Armen!« So wie Menschen von der Hochzeit ganz in Weiß träumen, war das mein Traum, wie es sein würde, wenn ich ein Baby habe.

Adrian, Papa von Judy (sieben)

Schließlich hat noch ein äußerer Faktor erheblichen Einfluss auf die Bindung zu dem ungeborenen Kind, und das ist die Beziehung zur Partnerin oder dem Partner. Wenn die Beziehung zwischen werdenden Eltern stark und gut ist, mit einem hohen Grad an Zufriedenheit und gegenseitiger Unterstützung für die Rolle des jeweils anderen, entwickeln Väter stärkere Bindungen an ihre ungeborenen Kinder als die Väter, die eher Distanz zur Partnerin spüren. Offensichtlich ist es für jedes Paar schwierig, ein Baby in eine bestehende Beziehung zu integrieren, aber je mehr Gemeinsamkeit man auf diesem Weg empfindet, desto besser für die Familie.

Bei der Mehrheit der Väter wird mit dem Fortschreiten der Schwangerschaft die Bindung an das ungeborene Kind intensiver. Doch bei manchen Vätern klappt es mit der Bindung nicht so reibungslos. Manchen Männern wie Jim fehlt ein geeignetes Rollenvorbild als Vater, andere haben mit seelischen Problemen zu kämpfen, wieder andere erleben eine Krise in der Beziehung zur Mutter des Kindes.

Bevor mein Sohn geboren wurde, habe ich viel darüber nachgedacht, was ich für ihn sein soll, was meine Rolle ist. Meine Eltern ließen sich scheiden, als ich noch ganz klein war, deswegen war es für mich sehr hart, denn ich hatte wirklich kein Rollenmodell im Kopf, wie ein guter Vater ist […] Mein Vater war der fremde, lustige Kerl, der an den Wochenenden auftauchte, aber ich möchte mich um meinen Sohn kümmern und Zeit mit ihm verbringen. Anders als mein Vater, der nicht die Gelegenheit dazu hatte.

Jim, Papa von Sean (sechs Monate)

In Fällen wie diesen kann die Stärke der Bindung des Vaters an das ungeborene Kind ein Indiz für künftige Probleme in dieser Beziehung sein, die wiederum Auswirkungen auf die Gesellschaft insgesamt haben. Wie wir in Kapitel zehn sehen werden, hat die Beziehung des Vaters zu seinem Kind das Potenzial, einen starken Einfluss auf seine verhaltensmäßige, emotionale und psychische Entwicklung auszuüben, der anders ist als jeder Einfluss, den die Mutter haben kann. Wenn die Bindung stark ist, fördern Väter die seelische Gesundheit, ermutigen zu Unabhängigkeit und unterstützen die Verhaltens- und Sprachentwicklung. Aber wenn diese Bindung unzulänglich ist, können die Folgen nicht nur für das Kind und seine Familie negativ sein, sondern auch für die Gesellschaft insgesamt. Kinder mit unsicheren Bindungen an ihre Eltern haben ein erhöhtes Risiko, antisoziale Verhaltensweisen oder eine Sucht zu entwickeln oder an seelischen Problemen zu leiden. John Condon hat in seinen Untersuchungen über die Bindung vor der Geburt herausgefunden, dass neben der Qualität der Beziehung zwischen Mama und Papa die Bindung des Vaters an sein Kind der stärkste Prädikator dafür ist, ob er nach der Geburt eine gute Beziehung zu seinem Kind aufbauen wird. Das ist eine ungeheuer wichtige Erkenntnis, denn sie bedeutet, dass wir ein Instrument haben, das uns erlaubt, schon vor der Geburt Fälle zu identifizieren, die bei der Entwicklung der Beziehung Hilfe brauchen werden.

* * *

Das vorgeburtliche Band zwischen Vater und Kind hängt wesentlich von der Vorstellungskraft des Vaters ab und ist harte Arbeit: sich das Kind und die künftige Beziehung ausmalen, Gelegenheiten suchen, um mit dem Kind im Mutterleib zu interagieren, und sich die Zeit nehmen, um zu überlegen, welche Art von Vater man sein will. Tim berichtet:

Ich hoffe, dass ich langsam beginne, eine Beziehung zu dem Baby aufzubauen […] Es ist schwer, es fühlt sich an, als ob du zu einem Ding sprichst, das keine Vorstellung hat, wer du bist und was du tust. Aber ich spreche ziemlich viel mit ihm, ich fasse es auch viel an. Es gefällt mir, einbezogen zu sein, wenn ich da bin. Vor ein paar Tagen haben wir High Five gemacht, ich habe es getätschelt, und es hat zurückgetätschelt […] Vielleicht hatte es auch bloß Schluckauf, aber es war toll, einfach großartig.

Tim, werdender Papa

Wir wissen, dass die neurochemischen Botenstoffe, die für Schwangerschaft und Geburt stehen – Oxytocin und Dopamin – auch der Vater hat, aber in viel geringerer Konzentration als die Mutter und nach viel mehr Zeit und Einsatz (ganz abgesehen von der Geburt!). Aber die Evolution speist die Väter nicht mit einer Schwangerschaft nur in der Fantasie ab – sie hat noch einen wunderbaren Trick im Ärmel, um Männern beim Übergang in die Vaterrolle zu helfen.

Viele sagen, Testosteron sei das Hormon, das einen Mann zum Mann macht. Wenn es zwischen der sechsten und zwölften Schwangerschaftswoche im Mutterleib freigesetzt wird, entwickeln sich bei einem männlichen Fötus Penis und Hoden, und überdies hat es Einfluss auf die Entwicklung des Gehirns. Nach der Geburt, so heißt es, würden das Testosteron und sein Einfluss auf die Gehirnentwicklung und das Verhalten dafür sorgen, dass kleine Jungen sich männliche Spielzeuge aussuchen und jeder Stock für sie zu einem Schwert oder Gewehr wird. In der Pubertät ist Testosteron für die Verteilung von Fett und Muskelgewebe und die Entwicklung der Knochen zuständig; Kiefer, Schultern und Brustkorb werden breiter, auf der Brust, im Gesicht und im Genitalbereich wachsen Haare. Und Testosteron entscheidet, wie gut ein Mann als Liebhaber und Vater sein wird.

Lange galt, dass Männer mit einem höheren Testosteronspiegel als Partner erfolgreicher und attraktiver sind. Das könnte mit zwei Dingen zusammenhängen: einer durch Testosteron gesteuerten höheren Motivation, nach Frauen Ausschau zu halten, und einer Präferenz der Frauen für Partner mit breiten Kiefern und Brustkörben – die bessere Beschützer und Ernährer sind. Doch wenn ein Mann sich entscheidet, bei einer Frau zu bleiben und eine Familie zu gründen, wird der hohe Testosteronspiegel, der früher ein Vorteil war, hinderlich. Während er versucht, sich auf seine neue Rolle als hingebungsvoller Partner und Vater zu konzentrieren, drängen ihn seine Hormone, sich weiterhin nach anderen Partnerinnen umzusehen. Für Nachwuchs, der auf seine Fürsorge angewiesen ist, wäre das schädlich. Diese Konstellation ist als »Herausforderungshypothese« bekannt, und eine Herausforderung ist es in der Tat. Aufgestellt hat die Hypothese der britische Zoologe John Wingfield; dabei geht es um die schwierige Frage, wie ein Mann die Anforderung, ein erfolgreicher Liebhaber zu sein, bevor er Kinder hat, mit der Herausforderung, anschließend ein erfolgreicher Vater zu sein, ausbalancieren kann. Und wie lautet die Antwort? Das Testosteron muss weichen.

Und es weicht tatsächlich. In so unterschiedlichen kulturellen Umfeldern wie bei polygynen senegalesischen Ackerbauern, Israelis der Mittelschicht, sehr aktiven philippinischen Vätern, Kanadiern der Mittelschicht, jamaikanischen Vätern, die nicht mit den Müttern ihrer Kinder zusammenleben, und in meiner Gruppe englischer Papas haben Väter signifikant niedrigere Testosteronspiegel als Nichtväter, unabhängig davon, ob sie mit ihren Kindern zusammenleben oder nicht. Und wir wissen, dass Männer mit niedrigeren Testosteronspiegeln stärker auf das Weinen eines Kindes reagieren, eher aktiv an der Erziehung ihres Kindes mitwirken wollen und mehr Empathie und Zuneigung gegenüber ihren Kindern an den Tag legen als Männer mit höheren Testosteronspiegeln. Testosteron hat einen großen Anteil daran, dass Männer sich in ihrem Verhalten als Väter unterscheiden. In Kapitel sechs werden wir das genauer untersuchen. Aber die Frage taucht auf: Werden generell Männer mit niedrigerem Testosteronspiegel Väter, und haben deshalb weltweit Väter niedrigere Testosteronspiegel als Männer ohne Kinder, oder senkt die Vaterschaft irgendwie den Testosteronspiegel?

Lee Gettler von der Northwestern University in Illinois hat die Antwort auf diese Frage. In einer bahnbrechenden Studie über fünf Jahre hinweg beobachteten Gettler und sein Team eine Gruppe philippinischer Männer, wie sie Beziehungen eingingen und Väter wurden. Sie sahen die Männer zum ersten Mal, als sie noch alleinstehend waren, und maßen ihren Basistestosteronspiegel. Fünf Jahre später besuchten sie die Männer erneut. Von den 624 Männern, die sie ursprünglich getestet hatten, waren 162 in den fünf Jahren zum ersten Mal Vater geworden. Diese 162 Männer hatten zu Beginn der Untersuchung die höchsten Testosteronspiegel aufgewiesen, fünf Jahre später hatten sie nun die niedrigsten Werte. Die Männer, die allein geblieben waren, und die Männer, die eine Partnerin gefunden hatten, aber nicht Vater geworden waren, zeigten keine signifikante Veränderung des Testosteronspiegels. Gettler hatte seine Antwort. Männer mit höherem Testosteronspiegel sind tatsächlich erfolgreicher bei der Partnersuche, und sie erleben den stärksten Einbruch des Testosteronspiegels, wenn sie Vater werden. Durch die Vaterschaft sinkt der Testosteronspiegel, und wie es aussieht, steigt er zwar einige Wochen nach der Geburt des Kindes wieder an, erreicht aber nie mehr das Niveau wie in der Zeit, als der Mann noch nicht Vater war. Die Evolution hat einen Mechanismus selektiert, der Männer in die Lage versetzt, die widerstreitenden Anforderungen an alleinstehende Männer und hingebungsvolle Väter auszusöhnen.

* * *

Hm, ich denke, ich habe mich verändert. Ich hoffe es. Ich habe gelernt, bei vielen Dingen ruhiger zu sein. Es gibt jetzt deutlicher ein Ziel in meinem Leben. Ich bin viel glücklicher. Ich meine, in der Theorie müssten wir eher die Einstellung haben: »Mein Gott, was haben wir nur gemacht?«, weil es mit drei von der Sorte schon ziemlich hart ist, aber wir hatten echt Glück.

Matt, Papa von Tom (sieben), Sam (drei) und James (sieben Monate)

Ich beginne meine Untersuchungen mit neuen Vätern immer in der Schwangerschaft, und eine meiner ersten Fragen lautet, wie es sich ihrer Meinung nach auf ihr Leben auswirken wird, ein Baby zu haben. Darüber haben sie sich im Allgemeinen schon einige Gedanken gemacht, und die Mehrheit schätzt durchaus ganz realistisch ein, dass die neue Situation größere Veränderungen mit sich bringen wird. Viele sehen die Folgen für ihr Leben zu Hause und ihre Kontakte; die Abläufe des Alltags werden sich ändern, weshalb sich auch die Beziehung zur Partnerin oder dem Partner ändert, und auf die Familie kommt eine zusätzliche finanzielle Belastung zu.

Aber für manche Männer wie Colin ist die Frage mit Angst verbunden, ob sie der Aufgabe gewachsen sein werden, ob sie überhaupt die notwendigen Voraussetzungen mitbringen.

Ich glaube, Vorbild zu sein ängstigt mich, weil ich immer erfolgreich sein wollte, und die Menschen um mich herum – Familie und Freunde – sollten mich als erfolgreich ansehen, und auch [meine Tochter] soll mich so sehen. Ich möchte nicht als Versager dastehen, und ich möchte kein Versager bei der Erziehung meiner Tochter sein. Ich möchte sicher sein können, dass ich meine Sache mit ihr gut mache, und die Menschen sollen sehen, dass ich es gut gemacht habe.

 

Colin, Papa von Freya (sechs Monate)

In einer der ersten Untersuchungen dieser Art begleitete die Soziologin Tina Miller von der Oxford Brookes University eine Gruppe junger Väter bei ihrem Übergang in die Vaterrolle. Eine ihrer Versuchspersonen machte sich Gedanken darüber, wie man feststellt, ob man als Papa geeignet ist: »Für einen Job wird man nach Fähigkeiten und Charakter ausgewählt […] Vater kann man ganz leicht werden, es macht Angst, wie leicht es ist […] Wie weiß ich, ob ich es kann? Werde ich der Aufgabe gewachsen sein? Ich habe keine Ahnung.« Aber nach meinen Erfahrungen mit frischgebackenen Vätern verschwinden solche Gedanken auch schnell wieder. Sie sind weniger ein Grund zu anhaltender Sorge, sondern eher eine Chance, sich neu zu definieren, eine neue Rolle, Identität oder Perspektive zu übernehmen. Viele Väter in meinen Untersuchungen sagten, die Vaterschaft motiviere sie, »sich ins Zeug zu legen«, sei ein Antrieb, besser zu werden, um ein gutes Vorbild für ihr Kind abzugeben, auch wenn sie mit ihrem Wunsch nach Perfektion manchmal hinter den hohen Standards zurückblieben, die sie sich selbst gesetzt hatten. Der selbst verordnete Druck hat zwar seine Schattenseiten, aber ihnen steht der Zuwachs an Selbstachtung und Selbstvertrauen gegenüber, den die Vaterschaft für einen Mann bedeuten kann. Ich kann mit Überzeugung sagen, dass es sich für die große Mehrheit der Väter so anfühlt, als hätten sie endlich ihre Berufung gefunden.

Selbst Männer, bei denen wir erwarten, dass der Eintritt in die Vaterrolle für sie schwierig sein könnte – zum Beispiel sehr junge Väter oder Väter ohne geeignetes Rollenvorbild –, stellen unter Umständen fest, dass die Vaterschaft ihnen ermöglicht, das Stereotyp des autoritären oder abwesenden Vaters zu überwinden, oder dem Beispiel, das ihr Vater für sie war oder nicht war, den Rücken zu kehren und sich stattdessen einem anderen Modell zuzuwenden, sich damit selbst neu zu erfinden und ihrer Vergangenheit zu entfliehen.

In den letzten Jahren haben Soziologen und Sozialanthropologen, die sich mit einzelnen Gesellschaften und Kulturen befassen, begonnen, die negativen Schlagzeilen zu hinterfragen, die behaupten, alle jungen Väter seien verantwortungslos und bequem. Die Forscher untersuchen, ob es auch positive Geschichten über junge Väter gibt, ein Vorhaben, das ich uneingeschränkt unterstütze. Dabei haben sie festgestellt, dass einige junge Väter tatsächlich das Narrativ des gleichgültigen oder abwesenden Teenager-Vaters auf den Kopf stellen und Rettung und Verwandlung in ihrer Vaterrolle finden. Väter, die früher geglaubt hatten, sie müssten dem Image des harten Kerls entsprechen, das in ihren Gesellschaften propagiert wurde, nutzen jetzt die Möglichkeiten des neuen Vaterbilds und wenden sich von dem alten ab. Zum Beispiel haben Bevölkerungswissenschaftler von der London School of Hygiene and Tropical Medicine und von der University Kwa-Zulu Natal beobachtet, dass in Südafrika, wo zum Bild des Mannes bei der schwarzen Bevölkerungsgruppe vor allem Dominanz, Unterdrückung und Abwesenheit gehören, junge schwarze Väter eine neue Idee von Vaterschaft vertreten, die Affären, Drogen und leichtsinnige Geldausgaben ablehnt und an ihre Stelle den Wunsch setzt, Geld für die Familie zu verdienen, sie zu beschützen und für sie zu sorgen. In Amerika hat die Geburtshelferin Dr. Jenny Foster von der University of Massachusetts herausgefunden, dass junge puertorikanische Väter sich gegen ein Leben in der Unterwelt der Gangs – mit dem Risiko, ins Gefängnis zu kommen oder früh zu sterben – aussprachen, weil sie sich vorstellten, was ihre Kinder dazu sagen würden. Sie wollten für ihre Kinder da sein, sich um sie kümmern und sie beschützen und das so wichtige Rollenmodell sein. Bei diesen jungen Vätern revolutionierte die Vaterschaft im wahrsten Sinn des Wortes ihr Leben und ihre Zukunft. Aus Bandenmitgliedern wurden involvierte Väter.

Aber vielleicht am stärksten ist die Veränderung der Identität bei schwulen Vätern wie Simon:

Für jemanden, der in der Zeit als Schwuler aufgewachsen ist, in der ich aufgewachsen bin, war [Vater werden] niemals eine Option, und es war wirklich hart, das zu realisieren. Ich würde nie Vater sein und nie Kinder haben. Und scheinbar fand ich mich damit ab. Bis in meine Zwanziger war das auch vollkommen in Ordnung. So war es nun einmal. Aber die Welt hat sich verändert […] Und dann lernten wir uns kennen und waren schnell ein Paar [und] alles fühlte sich richtig an. Wir haben in vielerlei Hinsicht Glück. Ein schönes Haus und Geld […] Deshalb passte es einfach, dass wir in der Lage sein würden, Väter zu sein.

Simon, Papa von Daisy (sechs) und Bill (fünf)

Bis vor sehr kurzer Zeit war es für die Mehrheit der schwulen Männer unerreichbar, Vater zu werden. Die Einstellung der Gesellschaft zur Adoption durch Schwule und der eingeschränkte Zugang zu künstlicher Befruchtung, dazu der Irrglaube, Kinder würden am besten in einer heterosexuellen Kleinfamilie aufwachsen, bedeuteten für viele Männer, dass sie sich damit abfinden mussten, niemals Vater zu werden, wenn sie ihre Sexualität lebten. Doch in manchen Ländern haben sich die Einstellungen inzwischen geändert, und Hürden wurden abgebaut, sodass Vatersein für schwule Männer mittlerweile eine echte Option ist. Nachdem sie sich von der väterlichen Identität bereits verabschiedet haben, müssen sie sie wieder hervorholen, abstauben und annehmen. Adrians Weg ist typisch:

Ich wollte immer Kinder. Ich erinnere mich, dass ich mit vierzehn oder fünfzehn meinem Freund erzählt habe, dass ich schwul bin [und dass] das größte Problem für mich dabei war: »Schwule Menschen bekommen keine Kinder.« Das hing immer wie eine große schwarze Wolke über mir. Und dann wurde ich älter und erkannte, dass es tatsächlich die Möglichkeit gibt. Ich hatte immer einen sehr starken Drang, Vater zu werden. Ich denke […] am Anfang war es ein bisschen der Gedanke: »Ich kann die Welt nicht verlassen, ohne dass ein Teil von mir bleibt! Ich kann nicht einfach aussterben!« Aber das spielt jetzt gar keine Rolle mehr.

Adrian, Papa von Judy (sieben)

Für die schwulen Väter, mit denen ich gearbeitet habe, war es manchmal schwierig, eine »Papa«-Identität anzunehmen, weil es so wenige Beispiele oder Rollenmodelle für schwule Väter gibt, denen sie hätten folgen können, und weil viele Probleme damit haben, ihre Identität mit der Figur des eindeutig heterosexuellen Vaters in Einklang zu bringen. Hinzu kommt noch, dass die Ankündigung eines schwulen Mannes, er werde Vater, nicht unbedingt Begeisterungsstürme auslöst, wie sie heterosexuelle Paare erwarten können.

Aber der schwule Vater hat im Vergleich zum heterosexuellen bei Identitätsfragen einen großen Vorteil: Seine Rolle wird weniger durch das Geschlecht bestimmt. In der heterosexuellen Beziehung ist gesellschaftlich festgelegt, dass es eine Mutter und einen Vater gibt und dass diese Rolle und alle damit verbundenen Aspekte durch das Geschlecht definiert werden. In einer schwulen Elternbeziehung sind die Grenzen zwischen den Rollen hingegen fließender, nicht das Geschlecht gibt den Ausschlag, sondern wer welche Rolle übernimmt, kann danach entschieden werden, wer was gut kann oder gern tut. In Großbritannien gibt es bislang nur sehr wenige schwule Väter, und diejenigen, mit denen ich Interviews geführt habe, nutzen diese Flexibilität, um ihre Rollen zu entwickeln. Für Simon und seinen Ehemann Calum hat das bedeutet, einem traditionellen heterosexuellen Modell zu folgen, bei dem Calum als Hauptverdiener in Vollzeit arbeitet und Simon mit Begeisterung die »Mutterrolle«, wie er sagt, übernommen hat: