Schein und Schuld

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Sechstes Kapitel.
Streiflichter.

Ich stieg die erste Treppe empor und schauderte beim Anblick der Wand des Bibliothekzimmers, die mir über und über mit rätselhaften Zeichen beschrieben schien; dann ging ich langsam weiter hinauf und dachte während dessen über so manches nach, ganz besonders über eine Warnung meiner Mutter, die sie mir vor langer Zeit gegeben hatte: »Mein Sohn, denke daran, daß eine Frau mit einem Geheimnis auf dem Herzen wohl ein sehr anziehendes Studium sein mag; aber eine getreue, eine befriedigende Lebensgefährtin kann sie niemals werden.«

Ohne Zweifel war dies ein sehr weiser Ausspruch, paßte jedoch gar nicht auf die augenblicklichen Verhältnisse; denn ich hegte ganz gewiß nicht die Absicht, mich für eine jener beiden Frauen zu interessieren. Aber trotz aller Anstrengung, den Gedanken an die mütterliche Warnung zu verscheuchen, verfolgte mich dieselbe, bis ich vor der Thüre stand, die mir bezeichnet worden war.

Ich blieb auf der Außenschwelle nur so lange stehen, bis ich mich für das Bevorstehende gesammelt hatte. Eben erhob ich die Hand, um die Klinke niederzudrücken, als ich von innen eine volle, klare Stimme vernahm, und die unheilkündenden Worte deutlich an mein Ohr schlugen: »Ich klage deine Hand nicht an, obwohl ich keine andere weiß, die dies gewollt oder gethan haben kann; aber dein Herz, deinen Kopf, deinen Willen, – die klage ich an, muß ich im geheimen wenigstens anklagen, und es ist gut, daß du es weißt.«

Wie vom Schlage getroffen, stolperte ich zurück. Guter Gott, welche Abgründe des Entsetzens und der Verderbtheit sollten sich da vor mir aufthun! Zusammenschauernd zögerte ich, als ich plötzlich eine Berührung meines Armes fühlte und, mich umwendend, Gryce erblickte, der, den Finger auf der Lippe, dicht neben mir stand, während nur noch ein Schatten von Erregung über sein ruhiges, fast mitleidiges Antlitz flog.

»Kommen Sie! – kommen Sie!« flüsterte er, »ich sehe, Sie fangen an zu begreifen, in was für eine Welt Sie eintreten wollen. Fassen Sie sich, und denken Sie daran, daß man unten wartet.«

»Aber wer ist es? Wer war es, der dort sprach?«

»Das werden wir bald erfahren,« antwortete er kurz, und ohne meinen bittenden Blick zu beachten, stieß er die Thüre weit auf.

Sogleich verbreitete sich der Zauber einer wundervollen Farbenpracht über mich; blaue Vorhänge, blaue Teppiche, blaue Tapeten, – es war, als schaue der azurne Himmel urplötzlich hinein in die Tiefen eines düsteren Kerkers.

Fast geblendet von dem unerwarteten Glanze, trat ich ungestüm vor, blieb aber sofort stehen, überwältigt von dem sich mir darbietenden Anblick.

In einem Armstuhl von reich gesticktem Atlas, von ihrer ruhenden Lage sich halb erhebend, erschien mir ein wundersames Frauenbild. Nach ihrer Haltung mußte sie es sein, die soeben eine furchtbare Beschuldigung ausgesprochen hatte, – schön, bleich, stolz, zart, sah sie wie eine Lilie aus, in ihrem gelbweißen Morgenüberwurf, der um die herrlich gebaute Gestalt in plastischem Faltenwurf flutete. Die reine Stirn war griechisch geschnitten und von blonden Flechten gekrönt; die eine bebende Hand hielt die Lehne des Stuhles umklammert, die andere war ausgestreckt und wies auf einen entfernteren Gegenstand im Zimmer, – die ganze Erscheinung war so prachtvoll, so überraschend, so außerordentlich, daß ich erstaunt den Atem anhielt und in jenem Moment wirklich zweifelte, ob ich ein lebendes Wesen erblickte oder eine jener berühmten Prophetinnen des Altertums, die in einer furchtbaren Gebärde die äußerste Entrüstung empörter Weiblichkeit ausdrückt.

»Fräulein Mary Leavenworth,« flüsterte die allgegenwärtige Stimme über meine Schulter.

»Ah – Mary Leavenworth!« wiederholte ich in Gedanken, und ein plötzliches Gefühl der Erleichterung überkam mich. Dieses herrliche Geschöpf war also nicht Eleonore, die ein Pistol laden, zielen und abfeuern konnte!

Ich wandte den Kopf um und folgte der Richtung jener emporgehobenen Hand, die jetzt wie zu Stein erstarrt war vor Schrecken darüber, sich mitten in einer entsetzlichen verhängnisvollen Enthüllung plötzlich unterbrochen zu sehen; ich erblickte –

Aber nein! Hier entsinkt mir die Feder. Eleonore muß von einer anderen Hand geschildert werden als von der meinigen. Ich könnte den halben Tag sitzen und über die feine Anmut, die bleiche Pracht, die Vollendung der Gestalt und der Züge schreiben, die Mary Leavenworth zum Wunder für alle diejenigen erheben, welche sie betrachten; aber Eleonore –! Berückend, schrecklich, großartig, leidenschaftlich that sich diese überirdische Erscheinung vor mir auf; sofort schwand die mondbeglänzte Lieblichkeit ihrer Cousine aus meinem Gedächtnis, und ich sah nur Eleonore, – nur Eleonore, jetzt und immerdar!

Als mein erster Blick auf sie fiel, stand sie neben einem kleinen Tisch, das Antlitz ihrer Cousine zugekehrt, die eine Hand gegen die Brust gepreßt, die andere auf den Tisch gestützt, in der Haltung einer kampfbereiten Gegnerin. Bevor jedoch das Angstgefühl, welches mich beim Anblick ihrer Schönheit durchzuckte, gewichen war, wandte sie das Haupt, und ihr Auge traf das meinige. Das ganze Entsetzen ihrer Lage hatte sie erfaßt, und anstatt eines stolzen Weibes, das bereit ist, die gräßliche Anschuldigung zurückzuweisen, sah ich – ach! ein zitterndes, geängstigtes Menschengeschöpf, welches sich bewußt war, daß ein Schwert über seinem Haupte hing, und das kein Wort der Verteidigung besaß, den Streich aufzuhalten.

Es war eine traurige Veränderung, eine herzzerreißende Offenbarung, und ich kehrte mich davon ab wie von einem Geständnis.

Da aber trat ihre Cousine, die zuerst ihre Selbstbeherrschung wiedergewonnen hatte, auf mich zu, streckte mir die Hand entgegen und fragte: »Nicht wahr, Sie sind Herr Raymond? – Wie gütig von Ihnen, zu kommen. Und Sie,« wandte sie sich an Gryce, »wollen uns gewiß ankündigen, daß man uns unten erwartet?«

Es war die Stimme, welche ich durch die Thüre gehört hatte, nur zu einem milden, anmutenden, fast schmeichelnden Ton moduliert.

Als ich schnell nach Gryce hinschaute, um mich zu vergewissern, welchen Eindruck die Szene auf ihn gemacht hatte, verbeugte er sich, leicht grüßend, vor der jungen Dame, und das Lächeln, mit welchem er ihrem Blick begegnete, war zugleich abbittend und beruhigend. Ihre Cousine sah er nicht an, obwohl ihre schuldbewußten Augen sich mit einer Frage auf ihn hefteten, die angstvoller erschien, als es ein Aufschrei gewesen wäre.

Da ich Gryce kannte, so fühlte ich, daß nichts schlimmer und bezeichnender war als jene durchsichtige Nichtbeachtung einer Person, welche das Gemach mit ihrer Angst und Pein anzufüllen schien. Von Mitleid ergriffen, vergaß ich, daß Mary Leavenworth gesprochen hatte, vergaß sogar ihre Anwesenheit, und indem ich mich umwandte, trat ich einen Schritt auf ihre Cousine zu.

Da fiel Gryces Hand auf meinen Arm und gebot ein Halt. »Fräulein Leavenworth spricht mit Ihnen,« sagte er.

Das brachte mich zur Besinnung. Ich wandte derjenigen, die mich so interessiert hatte, obwohl sie mich abstieß, den Rücken, stotterte der Schönen vor mir eine Entschuldigung, bot ihr meinen Arm und geleitete sie zur Thüre.

Sogleich milderte sich der Ausdruck in dem blassen, stolzen Antlitz Mary Leavenworths fast bis zu einem Lächeln, – und ich habe niemals ein Weib gesehen, das so lächeln konnte und gelächelt hat wie Mary Leavenworth. Sie schaute mich mit offener, rührender Bitte an und murmelte: »Sie sind sehr gütig; ich fühle das Bedürfnis einer Stütze, der Anlaß ist gar zu schrecklich, und meine Cousine dort,« – dabei sprach eine innere Unruhe aus ihren Augen – »ist heute so seltsam.«

»Wo,« dachte ich bei mir, »ist die gewaltige, entrüstete Prophetin mit dem unbeschreiblichen Zorn und der stolzen Drohung in Miene und Haltung, wie ich sie beim ersten Betreten ihres Zimmers erblickte? Versucht sie jetzt etwa, uns von unserem Argwohn abzuleiten, oder ist es möglich, daß sie sich so sehr selbst täuscht, um zu glauben, die furchtbare Anklage, die wir in jenem kritischen Moment hörten, habe keinen Eindruck auf uns gemacht?«

Bald aber nahm Eleonore Leavenworth, die sich auf den Arm des Detektivs lehnte, meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Auch sie hatte mittlerweile ihre Selbstbeherrschung wiedererlangt, wenn auch nicht so vollständig wie ihre Cousine; ihr Fuß wankte, als sie zu gehen versuchte, und die auf Gryces Arm ruhende Hand zitterte wie Espenlaub.

»Wollte Gott, ich hätte dieses Haus nie betreten!« sagte ich zu mir, und doch war ich merkwürdigerweise auch wieder dankbar, daß gerade ich und kein anderer in dieses Geheimnis eingedrungen war und jene schwerwiegende Aeußerung gehört hatte. Nicht etwa, daß meine Seele die geringste Nachsicht gegen jene Schuld empfunden hätte; niemals war mir das Verbrechen so schwarz entgegengetreten, niemals waren mir Rache, Selbstsucht, Haß, Habgier abscheulicher erschienen, und doch, – aber wer vermag es, seine Gefühle in solchen Momenten zu zergliedern?

Genug, indem ich die schwankenden Schritte des einen Mädchens stützte, während mein Interesse sich zu dem andern hingezogen fühlte, stieg ich die Treppe des Leavenworthschen Hauses hinab und betrat wieder den Saal, in welchem die gefürchteten Inquisitoren des Gesetzes ungeduldig unseres Erscheinens harrten.

Als ich die Schwelle überschritt und die gespannten Gesichter derer erblickte, die ich vor kurzer Zeit verlassen hatte, kam es mir vor, als seien Jahre dazwischen verflossen. So viel kann ein Menschenherz in der kleinen Spanne weniger, hochbedeutsamer Minuten erfahren.

Siebentes Kapitel.
Mary Leavenworth.

Wer hätte nicht schon die Wirkung des Sonnenlichtes beobachtet, welches hinter einer schweren, schwarzen Wolkenmasse plötzlich über die Erde hereinbricht? So ungefähr war der Eindruck, den die beiden schönen Damen bei ihrem Eintritt in den Saal hervorriefen. Sie hätten in jeder Versammlung die bewundernden Blicke aller Anwesenden auf sich gelenkt; in einem weit höheren Grade mußte dies hier geschehen, inmitten dieser furchtbaren Tragödie und unter Männern solchen Schlages!

 

Ich führte meine zitternde Gefährtin nach der entlegensten Ecke, die ich auffinden konnte, und sah mich dann nach ihrer Cousine um, – doch Fräulein Eleonore, so schwach sie mir oben in ihrem Zimmer erschienen war, zeigte jetzt weder Zaudern noch Verlegenheit. Auf den Arm des Detektivs gestützt, trat sie vor und betrachtete einen Augenblick die sich vor ihr entfaltende Szene, dann verneigte sie sich vor dem Coroner mit einer Anmut und Herablassung, welche diesen sofort auf denselben Fuß mit einem höflich geduldeten Eindringling in dieses vornehme Haus zu stellen schien, nahm einen Lehnstuhl ein, den ihr die Dienerinnen eilig herbeibrachten, und entwickelte überhaupt eine Unbefangenheit und Würde, welche mehr an die Triumphe einer Dame im Salon als an das Benehmen einer Schuldbewußten vor dem Untersuchungsrichter erinnerten.

Es war dies offenbar ein Theatercoup; aber er verfehlte seine Wirkung nicht. Sofort verstummte das Geflüster, die lästigen Blicke senkten sich, und auf den Gesichtern aller Anwesenden zeigte sich etwas wie ein erzwungener Respekt.

Selbst ich, der ich doch noch den Eindruck ihres vorherigen, gänzlich verschiedenen Benehmens empfand, hatte ein Gefühl der Erleichterung. Desto unangenehmer überraschte es mich, als ich das Auge der neben mir sitzenden Dame mit einem fragenden Ausdruck auf ihre Cousine gerichtet sah, der mich keineswegs ermutigte.

Da ich die Wirkung dieses Blickes auf die Umgebung fürchtete, ergriff ich Mary Leavenworths Hand, die, krampfhaft geballt, über die Lehne des Stuhles hing, und wollte sie eben ermahnen, vorsichtig zu sein, als ihr Name, der vom Coroner ausgesprochen wurde, sie aus ihrer Versunkenheit erweckte. Schnell wandte sie das Auge von ihrer Cousine, erhob den Blick zur Jury, und ich sah denselben so kühn und entrüstet aufleuchten wie bei unserer ersten Begegnung. Doch dieser Blitz erlosch wieder, und mit dem Ausdruck großer Bescheidenheit machte sie sich bereit, der Aufforderung des Coroners nachzukommen und die wenigen einleitenden Fragen zu beantworten.

Niemand vermag sich die Angst, die ich in diesem Moment fühlte, auszumalen. Freilich sah sie jetzt sanft aus; aber ich hatte es erfahren, daß sie eines gewaltigen Zornausbruches fähig war. Würde sie wohl jetzt ihren Verdacht wiederholen? – haßte sie ihre Cousine ebenso sehr, wie sie ihr mißtraute? – würde sie es wagen, in dieser Versammlung und vor der Welt zu behaupten, was sie in der Zurückgezogenheit ihres eigenen Gemaches und vor den Ohren der einzigen Person geäußert hatte, welche es betraf?

Ihr Antlitz verriet mir nichts von ihrer Absicht, und in meiner Angst schaute ich noch einmal nach Eleonore hin. Diese befand sich in einer Furcht und Aufregung, die ich leicht begriff; bei dem ersten Anzeichen, daß ihre Cousine sprechen wollte, war sie entsetzt zurückgewichen, und jetzt saß sie so da, daß man ihr Gesicht nicht erblicken konnte; aber ihre Hände hatten die Blässe des Todes.

Mary Leavenworths Zeugnis war kurz. Nach einigen Fragen, die sich meist auf ihre Stellung im Hause und ihr Verhältnis zu dem Ermordeten bezogen, wurde sie aufgefordert zu erzählen, was sie von dem Morde selbst und seiner Entdeckung durch ihre Cousine und die Dienerschaft wußte.

Indem sie ihre Stirn erhob, die noch kein Schatten einer Sorge oder eines Kummers getrübt zu haben schien, und ihre Stimme ertönen ließ, die, obwohl leise und sanft, dennoch mit Glockenton durch den Saal klang, entgegnete sie: »Sie legen mir da eine Frage vor, meine Herren, die ich aus eigener Anschauung nicht beantworten kann; von dem Morde und seiner Entdeckung weiß ich nichts, als was mir von andern berichtet worden ist.«

Mein Herz hüpfte vor Freude und Erleichterung; ich sah Eleonores Hände von ihrer Stirn niederfallen, während ein Hoffnungsschimmer über ihr Gesicht glitt und wieder erlosch wie ein Sonnenstrahl, der über Marmor flieht.

»So sonderbar es Ihnen erscheinen mag,« fuhr Mary ernst fort, und wieder verdüsterte ein Schatten ihr Antlitz, »ich habe das Zimmer noch nicht betreten, in welchem mein Onkel liegt; mein Gefühl gebot mir, zu meiden, was so entsetzlich und herzzerreißend ist; aber Eleonore ist dort gewesen und kann Ihnen sagen –«

»Wir werden Fräulein Eleonore später verhören,« unterbrach sie der Coroner freundlich; offenbar hatte die Anmut und Eleganz des reizenden Mädchens auch auf ihn ihren Eindruck nicht verfehlt. »Was wir wissen wollen, ist, was Sie gesehen haben. Sie behaupten, daß Sie uns nichts davon erzählen können, was in jenem Zimmer zur Zeit der Entdeckung vorging?«

»Nein, mein Herr!«

»Nur, was sich in der Halle ereignete?«

»In der Halle hat sich nichts ereignet,« bemerkte sie unschuldig.

»Ging nicht die Dienerschaft durch die Halle, und kam Ihre Cousine nicht von dort her, nachdem sie sich von der Ohnmacht, welche sie bei dem ersten Anblick Ihres Onkels überwältigt, erholt hatte?«

Mary Leavenworths Veilchenaugen öffneten sich verwundert. »Gewiß!« sagte sie. »aber dabei ist doch nichts Auffallendes!«

»Aber Sie entsinnen sich noch, wie Ihre Cousine aus dem Zimmer in die Halle trat?«

»Jawohl, mein Herr.«

»Mit einem Papier in der Hand?«

»Papier?« fragte sie, wandte sich dann plötzlich um und schaute ihre Cousine an. »Hattest du ein Papier, Eleonore?«

Es war ein Moment der höchsten Spannung. Eleonore Leavenworth, die bei der ersten Erwähnung des Wortes ›Papier‹ merklich zusammengezuckt war, stand bei dieser naiven Frage auf, öffnete die Lippen und war im Begriff zu sprechen, als der Coroner, der Gerichtsordnung gemäß, mit Entschiedenheit die Hand erhob und sprach: »Wir brauchen Ihre Cousine vorläufig noch nicht zu verhören, aber lassen Sie uns wissen, was Sie selbst beobachtet haben.«

Sofort sank Eleonore Leavenworth auf ihren Sitz zurück; auf jeder ihrer Wangen brannte ein dunkelroter Fleck: durch die Versammlung ging ein leises Murmeln, welches die Enttäuschung derjenigen zeigte, denen mehr an der Befriedigung ihrer Neugier als an der Beobachtung der gerichtlichen Form lag.

Nachdem die Ruhe vollständig wiederhergestellt war, wiederholte der Coroner seine Frage: »Bitte, sagen Sie mir, ob Sie dergleichen in ihrer Hand sahen.«

»Ich – nein. Ich habe nichts gesehen!«

Als sie dann über die Ereignisse der vergangenen Nacht verhört wurde, zeigte sie sich außer stande, irgendwie neues Licht über das Dunkel zu verbreiten. Sie räumte ein, daß ihr Onkel beim Essen vielleicht etwas verschlossen gewesen sei, aber nicht mehr als jemand, der sich nicht ganz wohl fühle, oder den eine alltägliche Sorge drücke. Später hatte sie den Verstorbenen nicht wiedergesehen; die letzte Erinnerung, welche sie von ihm hatte, war die, als er oben am Familientisch saß.

Es lag etwas so Rührendes, so Wehmütiges und doch so Ungezwungenes in ihrem einfachen Bericht, daß sich in den Mienen aller Anwesenden ein Ausdruck der Sympathie zeigte; nur Eleonore blieb regungslos.

»Stand Ihr Onkel mit irgend jemandem auf schlechtem Fuße? Hatte er Wertpapiere oder Geldsummen in seinem Besitz verborgen?«

Auf alle diese Fragen antwortete sie in gleicher Weise verneinend.

»Hat Ihr Onkel in letzter Zeit einen Fremden empfangen oder während der letzten Wochen einen Brief erhalten, der Licht auf dieses Geheimnis werfen könnte?«

Mit einem leichten Zögern in der Stimme entgegnete sie: »Soviel ich weiß, – nein!« Hier warf sie einen verstohlenen Blick auf Eleonores Gesicht, und in demselben mußte sie etwas Beruhigendes gelesen haben; denn sie beeilte sich hinzuzufügen: »Ich glaube sogar, ich kann noch weiter gehen und mit einem bestimmten Nein antworten; mein Oheim pflegte mir zu vertrauen, und ich würde es wissen, wenn ihm etwas von Bedeutung begegnet wäre.«

Nach Hannah gefragt, stellte sie derselben das beste Zeugnis aus; sie hatte keine Ahnung, was jene zu ihrem seltsamen Verschwinden veranlaßt hätte, ebensowenig vermochte sie sich vorzustellen, auf welche Weise das Mädchen mit dem Verbrechen in Verbindung stehen könne. Nach Marys Wissen hatte sie niemals einen Liebhaber besessen, noch Besuche empfangen. Als sie zum Schluß gefragt wurde, wann sie zum letztenmal Herrn Leavenworths Pistol gesehen habe, erwiderte sie, daß es ihr nur einmal zu Gesicht gekommen sei, und zwar an dem Tage, an welchem der Verstorbene es gekauft habe. Uebrigens sei Eleonore und nicht sie mit der Oberaufsicht über die Gemächer des Onkels betraut gewesen.

Bei dieser letzten Behauptung fiel mir auf, daß Eleonore einen scharfen, prüfenden Blick auf die Sprecherin warf.

Jetzt richtete einer der Geschworenen an die junge Dame eine Frage. »Hat Ihr Oheim jemals ein Testament aufgesetzt?«

Sofort horchte jeder der Anwesenden auf, und auch Mary konnte ein leichtes Erröten beleidigten Stolzes nicht unterdrücken. Doch ihre Antwort war fest und ohne ein Zeichen des Gekränktseins. »Ja, mein Herr,« erwiderte sie einfach.

»Mehr als eins?«

»Ich habe stets nur von einem einzigen gehört.«

»Sind Sie mit dem Wortlaut dieser letztwilligen Verfügung bekannt?«

»Er machte aus seinen Absichten gegen niemand ein Geheimnis.«

»Vielleicht können Sie mir dann sagen, wer von seinem Tode den größten Vorteil hat?« forschte der Geschworene, sie durch sein Augenglas betrachtend.

Die Roheit dieser Frage war so verletzend, daß sie nicht ungeahndet bleiben durfte; es war kein Mensch im ganzen Saale, der seine Mißbilligung darüber nicht offen gezeigt hätte.

Doch Mary Leavenworth richtete sich stolz auf, sah dem unverschämten Inquirenten ruhig ins Gesicht und beschränkte sich darauf, zu entgegnen: »Wer am meisten dadurch verliert, das will ich Ihnen sagen: es sind die beiden Kinder, die er aus Hilflosigkeit und Not rettete, die jungen Mädchen, die er mit seiner Liebe und seinem Schutz umgab, so oft ihre Unselbständigkeit der Liebe und des Schutzes bedurfte, und die, selbst als die Kindheit weit hinter ihnen lag, sich stets auf seine Leitung und seinen Rat verließen. Für sie ist sein Tod ein Verlust, mit dem verglichen alle übrigen Verluste unbedeutend sind.«

Es war dies eine edle Antwort auf eine Frage, wie sie nur einer niedrigen Gesinnung entspringen konnte, und der Geschworene zog sich beschämt und gedemütigt zurück.

Jetzt erhob sich ein anderes Mitglied der Jury, das einen ungleich würdigeren Eindruck machte, und fragte mit ernster, eindringlicher Stimme: »Fräulein Leavenworth, der Menschenverstand kann nun einmal nicht umhin, sich Vermutungen zu bilden und Schlüsse zu ziehen. Hegen Sie irgend einen, wenn auch unbestimmten Verdacht bezüglich der Persönlichkeit des Mörders Ihres Oheims?«

Es war ein entsetzlicher Moment nicht nur für mich, sondern auch für eine andere Person. Würde ihr der Mut sinken, würde sie ihrem Entschluß, die Cousine zu schützen, auch trotz der Mahnung von Pflicht und Recht treu bleiben? Ich wagte nicht, es zu hoffen.

Mary Leavenworth erhob sich, schaute dem Richter und der Jury ruhig ins Angesicht und erwiderte mit klarer und scharfer Betonung: »Nein! Ich hege keinen Verdacht, noch habe ich Grund zu einem solchen. Der Mörder meines Onkels ist mir nicht nur gänzlich unbekannt, sondern ich habe auch nicht die leiseste Ahnung davon, wer der Thäter sein mag.«

Es war als ob eine drückende Schwüle aus dem Saal wich. Während alles aufatmete, trat Mary Leavenworth beiseite, und Eleonore wurde auf den Zeugenstand gerufen.