Schein und Schuld

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Viertes Kapitel.
Ein Schwur.

Jetzt wurde die Köchin des Hauses aufgerufen, eine stattliche, wohlgerundete Gestalt mit rotem, gutmütigem Gesicht.

Als sie mit großer Eilfertigkeit vortrat, prägten sich in ihren Zügen Neugier und Furcht aus, und es fiel den Anwesenden schwer, beim Anblick dieser komischen Person ein Lächeln zu unterdrücken.

»Ihr Name?« fragte der Coroner sofort.

»Katharine Malone, Herr.«

»Seit wie lange sind Sie in Herrn Leavenworths Diensten, Katharine?«

»Es sind gute zwölf Monate her, daß ich auf Herrn Wilsons Empfehlung in dieses Haus kam und –«

»Warum sind Sie aus dem Dienst der Frau Wilson getreten?«

»Sie entließ mich, weil sie nach Irland zurückging und –«

»Also seit einem Jahre befinden sie sich in der Familie des Ermordeten?«

»Jawohl, Herr.«

»Und sind gern in Ihrer Stellung. War Herr Leavenworth ein freundlicher Herr?«

»Ich habe niemals einen besseren gehabt. Fluch dem Schurken, der ihn tötete! Er war gütig und hochherzig, und oftmals habe ich zu Hannah gesagt –« Sie brach mit einem plötzlichen Schrecken ab und blickte auf das andere Gesinde hin, als habe sie unvorsichtigerweise etwas Dummes geredet.

Der Coroner bemerkte es und fragte rasch: »Hannah? – Wer ist Hannah?«

Die Köchin zuckte krampfhaft mit ihren dicken Fingern, machte eine Anstrengung, gleichgültig zu erscheinen, und antwortete dann dreist: »Hannah ist nur das Kammermädchen, Herr.«

»Aber ich sehe niemanden dieses Namens hier. Sie haben doch von keiner Hannah gesprochen, die zum Dienstpersonal des Hauses gehörte?« fügte der Coroner, zu Thomas gewandt, hinzu.

»Das allerdings nicht,« entgegnete der Gefragte mit einer Verbeugung und einem strafenden Seitenblick auf die rotbäckige Köchin. »Sie haben von mir nur wissen wollen, wer zur Zeit der Entdeckung des Mordes im Hause anwesend war, und das habe ich Ihnen mitgeteilt.«

»Ah, so!« bemerkte der Coroner spöttisch; dann kehrte er sich wieder der Köchin zu, die sich unterdessen in stummem Schrecken im Saale umgesehen hatte, und fragte: »Und wo ist Hannah jetzt?«

»Sie ist fort.«

»Seit wie langer Zeit?«

Die Köchin atmete schwer. »Seit gestern nacht.«

»Wie spät war es, als sie das Haus verließ?«

»Meiner Treu, Herr, das weiß ich nicht, – ich weiß überhaupt nichts davon.«

»Ist sie entlassen worden?«

»Nicht, daß ich wüßte, ihre Sachen sind noch hier.«

»Ah, ihre Sachen sind hier! Um welche Zeit vermißten Sie das Mädchen?«

»Ich habe sie gar nicht vermißt; sie war gestern abend hier, und heute morgen fehlt sie; daraus schließe ich, daß sie fortgegangen ist.«

»Hm,« meinte der Coroner, sich langsam im Zimmer umblickend, während jeder der Anwesenden aussah, als sei er plötzlich auf eine Thür gestoßen, die ihm bis dahin verborgen gewesen. »Wo pflegte das Mädchen zu schlafen?«

Die Köchin, welche unruhig mit ihrer Schürze gespielt hatte, blickte auf. »Wir alle schlafen im obersten Stock des Hauses.«

»In demselben Zimmer?«

»Jawohl, Herr,« lautete die zögernde Entgegnung.

»Ist Hannah in der verwichenen Nacht hinaufgekommen?«

»Gewiß.«

»Um welche Stunde?«

»Wir gingen alle um zehn Uhr zu Bett; ich hörte die Stunde schlagen.«

»Haben Sie in ihrem Aeußeren irgend etwas Ungewöhnliches entdeckt?«

»Sie litt an Zahnschmerzen!«

»So! – an Zahnschmerzen! – Erzählen Sie mir alles, was Sie wissen.«

»Aber sie hat es ganz gewiß nicht gethan!« versicherte die Köchin, in Thränen und Schluchzen ausbrechend, »glauben Sie es mir, Hannah ist ein gutes Mädchen und so ehrlich wie eine. Auf die Bibel will ich es schwören, daß sie niemals die Hand auf die Thürklinke seines Zimmers gelegt hat; sie ging nur deshalb hinab, um sich einige Tropfen von Fräulein Eleonore auszubitten.«

»Schon gut!« unterbrach sie der Coroner, »es fällt mir ja gar nicht ein, Hannah anzuklagen. Ich habe Sie nur danach gefragt, was Hannah that, nachdem Sie Ihr Zimmer aufgesucht hatten. Sie ging die Treppe hinab, sagen Sie; geschah dies lange Zeit nachher, nachdem Sie sich zur Ruhe begeben hatten?«

»Darüber vermag ich Ihnen wirklich keine Auskunft zu geben; aber Molly erzählt –«

»Was Molly erzählt, geht uns hier nichts an. Sie haben sie nicht hinabgehen sehen?«

»Nein, Herr.«

»Auch nicht zurückkommen?«

»Nein, Herr.«

»Auch heute morgen nicht?«

»Wie hätte ich das können? Sie war ja fort.«

»Aber gestern abend haben Sie bemerkt, daß sie an Zahnschmerz zu leiden schien?«

»Ja, Herr.«

»Gut. Jetzt erzählen Sie mir, wie und wann Sie von dem Tode des Herrn Leavenworth erfuhren.«

Ihre Antworten auf diese Frage waren so breit und enthielten so wenig Neues, daß der Coroner schon im Begriff war, das Verhör mit ihr abzubrechen, als einer der Geschworenen sich erinnerte, daß die Köchin gesagt hatte, sie habe Fräulein Eleonore wenige Minuten, nachdem der Ermordete in das anstoßende Zimmer gebracht worden war, aus der Bibliothek treten sehen. Er fragte, ob ihre Herrin in jenem Augenblick etwas in der Hand gehalten habe.

»Ich weiß es nicht, Herr. – Meiner Treu!« rief sie plötzlich aus, »ich glaube, sie hatte ein Stück Papier in der Hand. Jawohl! Jetzt entsinne ich mich auch sehr deutlich, daß sie dasselbe in die Tasche schob.«

Als nächste Zeugin folgte Molly, das Zimmermädchen. Molly O'Flanagan war ein rotwangiges, schwarzhaariges, flinkes Mädchen von etwa 18 Jahren, die unter gewöhnlichen Umständen auf jede Frage eine Antwort gewußt hätte; aber zuweilen schüchtert die Furcht selbst das unerschrockenste Herz ein, und Molly bot, wie sie jetzt vor dem Coroner stand, keineswegs einen mutigen Anblick dar. Ihre von Natur roten Backen erblaßten bei dem ersten an sie gerichteten Wort, und der Kopf sank ihr zaghaft auf die Brust.

Soviel sie wußte, war Hannah ein ungebildetes Mädchen von irländischer Abkunft, das vom Lande gekommen war, um als Zofe und Näherin bei den Damen Leavenworth einzutreten. Sie hatte schon einige Zeit vor Molly in der Familie gedient, und, obwohl von Natur sehr schweigsam, besonders hinsichtlich ihrer Vergangenheit, hatte sie es doch verstanden, sich bei allen Mitgliedern des Haushalts beliebt zu machen. Im übrigen war sie »melancholisch und träumerisch wie eine Lady,« meinte Molly.

Da dies eine seltsame Gewohnheit ist für ein Mädchen in solcher Stellung, so bemühte man sich, Näheres hierüber aus der Zeugin herauszulocken. Molly jedoch schüttelte den Kopf und beschränkte sich auf die gegebene Aussage, indem sie hinzufügte, daß die Vermißte des Nachts öfter aufzustehen und sich ans Fenster zu setzen pflegte. Bezüglich der Ereignisse des vergangenen Abends gab sie an, Hannah habe zwei Tage oder länger ein geschwollenes Gesicht gehabt, und ihre Schmerzen seien in der verflossenen Nacht so heftig geworden, daß sie aufgestanden sei und sich vollständig angezogen habe. Hier wurde Molly scharf befragt, ob sich Hannah wirklich ganz angekleidet, und sie bestand darauf, daß dies von Kopf bis zu Fuß geschehen sei; dann hätte sie eine Kerze angezündet und ihre Absicht kund gegeben, zu Fräulein Eleonore hinunterzugehen.

»Warum zu Fräulein Eleonore?« fragte einer der Geschworenen.

»Weil diese es war, welche etwaige Arzneien an die Dienstboten verabfolgte.«

Auf weitere Fragen erklärte das Mädchen, es sei dies alles, was sie wisse; Hannah sei nicht zurückgekommen, noch habe sie sich zur Frühstücksstunde im Hause eingefunden.

»Sie sagten, daß sie eine Kerze mit hinunter genommen hätte,« forschte der Coroner, »steckte dieselbe in einem Leuchter?«

»Nein, Herr!«

»Warum nahm sie überhaupt eine Kerze; brannte Herr Leavenworth nicht Gas in den Korridoren?«

»Gewiß; aber wir löschen das Licht aus, wenn wir zu Bett gehen, und Hannah fürchtet sich im Dunkeln.«

»Wenn sie eine Kerze nahm, so muß dieselbe doch irgendwo im Hause liegen geblieben sein; hat jemand eine solche gefunden?«

»Ich erinnere mich nicht.«

»Ist es diese?« rief eine Stimme über meine Schultern hinweg.

Es war Gryce, der eine halbverbrannte Paraffin-Kerze emporhielt.

»Gewiß; aber mein Gott, wo haben Sie den Stumpf gefunden?«

»Auf dem Rasen des Hofes, auf dem halben Wege von der Küche nach der Straße,« antwortete er ruhig.

Unter den Anwesenden entstand eine allgemeine Aufregung. Endlich hatte man doch eine Spur, etwas, das jenen geheimnisvollen Mord mit der Außenwelt zu verbinden schien. Sofort wurde die Hinterthür der Hauptgegenstand des Interesses; die im Hof aufgefundene Kerze lieferte den Beweis, daß Hannah, bald nachdem sie aus dem Zimmer gegangen, das Haus verlassen haben mußte, und zwar durch die Hinterthür, welche nur wenige Schritte von dem auf die Querstraße gehenden Eisengitter entfernt war.

Als Thomas indessen wieder aufgerufen ward, wiederholte er seine Versicherung, daß nicht nur die Hinterthür, sondern auch alle unteren Fenster des Hauses, als er sie um 6 Uhr des Morgens besichtigt habe, fest verschlossen gewesen seien. Hieraus ergab sich der zwingende Schluß, daß jemand sie hinter dem Mädchen zugemacht und verriegelt hatte.

Wer war aber dieser Jemand? das drängte sich jetzt als ernste, brennende Frage in den Vordergrund.

Fünftes Kapitel.
Die Aussage des Sachverständigen.

Inmitten der allgemeinen Spannung, welche sich der Anwesenden bemächtigt hatte, erklang der helle Ton der Hausglocke. Sofort richteten sich aller Augen auf die Thür, diese öffnete sich langsam, und der Polizist, der vor etwa einer Stunde in so geheimnisvoller Weise vom Coroner fortgesandt worden war, trat in Begleitung eines jungen Mannes ein, dessen schlanke Gestalt, intelligentes Auge und Vertrauen erweckendes Aussehen ihn als das erscheinen ließen, was er auch in der That war, den Vertrauensmann und Sachverständigen eines bedeutenden kaufmännischen Geschäftes.

 

Ohne das geringste Zeichen von Verlegenheit, obwohl jedes Auge im Saal mit lebhafter Neugierde auf ihn geheftet war, trat er auf den Coroner zu und machte ihm eine leichte Verbeugung. »Sie haben nach Bohn und Comp. geschickt, mein Herr,« begann er.

Sofort gab sich unter den Versammelten eine starke Aufregung kund; Bohn und Comp. war ein wohlbekanntes Pistolen- und Munitionsgeschäft am Broadway.

»Jawohl, mein Herr,« antwortete der Coroner; »hier ist eine Kugel, die wir gern von Ihnen untersucht haben möchten. Sie sind mit allem, was Ihr Warenlager betrifft, vollständig bekannt?«

Der junge Mann warf ihm nur einen bedeutsamen Blick zu, nahm die ihm dargereichte Kugel und wog sie nachlässig in der Hand.

»Können Sie uns wohl sagen, welcher Fabrik das Pistol entstammt, aus dem jene Kugel abgeschossen worden ist?«

Der junge Mann rollte das Geschoß langsam zwischen Daumen und Zeigefinger und legte es dann wieder auf den Tisch. »Es ist eine Kugel Nummer 30,« erklärte er, »und wird gewöhnlich mit dem kleinen Revolver zusammen in der Fabrik von Smith und Wesson verkauft.«

»Ein kleiner Revolver!« erwiderte der Hausmeister, von seinem Sitz aufspringend; »der Herr pflegt in seinem Bureau ein kleines Pistol aufzubewahren; ich habe es oft genug gesehen, und wir alle kennen es.«

Wieder entstand eine allgemeine Aufregung, besonders unter dem Dienstpersonal. »So ist es!« hörte ich eine Stimme rufen, »ich hab' es selbst einmal gesehen, als der Herr es reinigte.« Es war die Köchin, welche diese Worte sprach.

»In seinem Bureau?« fragte der Coroner.

»Jawohl, am Kopfende seines Bettes.«

Sogleich wurde ein Polizist zur Untersuchung des Bureaus abgeschickt. Nach wenigen Minuten kehrte er mit einem kleinen Revolver zurück, den er auf den Tisch des Coroners niederlegte.

Sofort war jedermann auf den Füßen, um die Schußwaffe zu betrachten; doch der Coroner überreichte dieselbe dem Sachverständigen mit der Frage, ob der Revolver aus der von ihm bezeichnten Fabrik stamme.

»Gewiß, er ist von Smith und Wesson!« antwortete dieser ohne Zögern, »Sie können sich selbst davon überzeugen.«

»Wo fanden Sie den Revolver?« fragte der Coroner den Polizisten.

»In der obersten Schublade eines Toilettentisches am Kopfende von Herrn Leavenworths Bett; der Revolver lag in einem mit Sammet ausgeschlagenen Kasten zugleich mit einer Schachtel Patronen, von denen ich hier eine Probe mitgebracht habe,« erwiderte der Mann und legte die letztere neben die Kugel.

»War das Schubfach verschlossen?«

»Jawohl; aber den Schlüssel hatte man nicht herausgezogen.«

Die Spannung erreichte jetzt ihren Höhepunkt, und von allen Lippen erklang es durch das Gemach: »Ist der Revolver geladen?«

Der Coroner runzelte die Stirn und bemerkte mit Würde: »Ich selbst wollte diese Frage thun; aber zuvörderst muß ich dringend um Ruhe bitten.«

Sogleich trat eine allgemeine Stille ein, jedermann interessierte sich zu sehr für die Frage, als daß er seine Neugier nicht so bald als möglich hätte befriedigen wollen.

»Nun, mein Herr,« rief der Coroner.

Der Sachverständige nahm den Cylinder heraus und hielt ihn empor. »Die Waffe hat sieben Kammern und alle sind geladen,« versetzte er.

Ein Murmeln der Enttäuschung folgte dieser Versicherung.

»Aber,« fügte der junge Mann nach kurzer Prüfung des Cylinders hinzu, »nicht alle sind gleich lange geladen gewesen. Eine Kugel ist vor kurzem aus einer der Kammern abgeschossen worden.«

»Woher wissen Sie das?« fragte einer der Geschworenen.

»Woher ich das weiß?« entgegnete er, »wollen Sie die Güte haben, den Zustand des Revolvers zu untersuchen,« fügte er hinzu, indem er jenem Herrn die Waffe übergab. »Blicken Sie zuerst in den Lauf, er ist rein und glänzend, und Sie finden keine Spur davon, daß ihn vor kurzem eine Kugel durchflogen hätte; das kommt aber daher, weil er seitdem gereinigt worden ist. Nun prüfen Sie jedoch den Cylinder. Was sehen Sie dort?«

»Ich bemerke einen schwachen Schmutzstreifen an einer der Kammern.«

»Jener schwache Schmutzstreifen am Rande einer der Kammern ist das verräterische Zeichen, meine Herren; eine abgeschossene Kugel läßt immer etwas Schmutz hinter sich zurück. Derjenige, welcher aus diesem Rohr gefeuert hat, wußte das; er reinigte den Lauf, vergaß aber den Cylinder.« Nach diesen Worten trat der junge Mann zur Seite und kreuzte die Arme.

»Der Tausend!« ließ sich eine derbe, kräftige Stimme vernehmen, »das ist wirklich wunderbar!« Sie gehörte einem Landmann an, der soeben von der Straße her eingetreten war und staunend in der Thür stand.

Es war eine ungeschickte, aber nicht unwillkommene Unterbrechung; ein flüsterndes Lachen ging durch den Saal, und jedermann schien freier zu atmen.

Nachdem die Ruhe wieder hergestellt war, wurde der Polizist aufgefordert, die Stellung des Toilettentisches und seine Entfernung vom Tisch im Bibliothekzimmer genau anzugeben.

»Der Bibliothektisch steht in dem einen Zimmer, der Toilettentisch in einem andern. Um ersteres von letzterem aus zu erreichen, wäre man gezwungen, Herrn Leavenworths Schlafgemach in diagonaler Richtung zu durchschreiten, dann durch den Korridor, welcher die beiden Stuben trennt, zu gehen, und –«

»Warten Sie einen Augenblick. Wie steht dieser Tisch zu der Thür, die vom Schlafzimmer in die Halle führt?«

»Man könnte durch jene Thür gehen, direkt um das Fußende des Bettes auf den Toilettentisch zuschreiten, sich in den Besitz des Revolvers setzen und die Hälfte des Weges bis zum Gange zurücklegen, ohne von einer Person gesehen zu werden, die im Bibliothekzimmer sitzt oder steht.«

»Heilige Jungfrau!« rief die erschreckte Köchin aus, indem sie sich die Schürze über den Kopf warf, als wolle sie eine schreckliche Vision nicht sehen. »Hannah hätte so etwas niemals thun können.«

Doch Gryce legte seine schwere Hand auf die Frau und drückte sie auf ihren Sitz zurück, sie mit erstaunlicher Geschicklichkeit zugleich tadelnd und beruhigend.

»Ich bitte um Verzeihung,« entschuldigte sich die Köchin den Anwesenden gegenüber; »aber Hannah hat das ganz gewiß nicht gethan, – ganz gewiß nicht!«

Nachdem der Gehilfe aus der Bohnschen Waffenhandlung entlassen worden war, nahmen die Versammelten die Gelegenheit wahr, ihre Plätze und Stellungen ein wenig zu wechseln, dann wurde Harwell wieder aufgerufen. Derselbe erhob sich mit offenbarem Widerstreben; die soeben erfolgte Aussage mußte entweder seine Ansicht von dem Verbrechen geändert oder einen ihm unangenehmen Verdacht bestätigt haben.

»Herr Harwell,« hob der Coroner an, »man hat uns von dem Vorhandensein eines, Herrn Leavenworth gehörigen Revolvers erzählt, und als wir darnach suchten, haben wir ihn in seinem Zimmer entdeckt; wußten Sie etwas von dem Besitz dieser Waffe?«

»Gewiß.«

»War diese Thatsache im Hause allgemein bekannt?«

»Es scheint so.«

»Wie kommt das? Hatte der Verstorbene die Angewohnheit, den Revolver umherliegen zu lassen, daß jedermann die Waffe sehen konnte?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen; ich vermag Ihnen nur mitzuteilen, auf welche Weise ich selbst davon Kenntnis erhielt.«

»Gut, so erzählen Sie.«

»Wir hatten einst ein Gespräch über Feuerwaffen. Ich verstehe etwas davon und habe immer ein Taschenpistol bei mir geführt; als ich dies meinem Prinzipal gegenüber äußerte, stand er auf, holte das seinige aus dem Schubfach und zeigte es mir.«

»Wie lange ist das her?«

»Einige Monate.«

»Er besaß das Pistol also längere Zeit?«

»Jawohl!«

»War dies die einzige Gelegenheit, bei der Sie die Waffe gesehen haben?«

»Nein,« antwortete der Sekretär zögernd, »ich habe sie seitdem noch einmal gesehen.«

»Wann?«

»Vor etwa drei Wochen.«

»Unter welchen Umständen?«

Der Sekretär ließ den Kopf sinken, und ein seltsamer Ausdruck machte sich plötzlich auf seinem Gesicht bemerkbar; er preßte die Hände zusammen, indem er dem Coroner fest ins Antlitz schaute, und sein halb geschlossener Blick hatte etwas wie eine Bitte. »Meine Herren,« fragte er nach kurzem Zaudern, »wollen Sie mir nicht die Antwort hierauf erlassen?«

»Es ist unmöglich,« versetzte der Coroner.

Harwells Miene wurde noch blasser und flehender. »Ich muß den Namen einer Dame nennen,« sagte er stockend.

»Wir sind sehr gespannt darauf,« erwiderte der Coroner.

Der junge Mann richtete sich entschlossen auf und rief: »Fräulein Eleonore Leavenworth!«

Bei diesem auf solche Weise ausgestoßenen Namen zuckte jedermann zusammen, nur Gryce nicht, der ruhig seine Fingerspitzen mit einander berührte, als ginge ihn die ganze Sache gar nichts an.

»Sicherlich ist es gegen die Regeln des Anstandes und der Achtung, welche wir alle für jene Dame empfinden, wenn wir ihren Namen in diese Verhandlung hineinziehen,« fuhr Harwell eifrig fort; als aber der Coroner darauf bestand, daß er seine Aussage vervollständige, kreuzte er die Arme, – was bei ihm das Zeichen eines endgültigen Entschlusses zu sein schien, – und begann in leisem gezwungenem Ton: »Es ist weiter nichts als dies, meine Herren: Vor drei Wochen hatte ich eines Nachmittags Gelegenheit, zu ungewöhnlicher Stunde das Bibliothekzimmer zu betreten. Als ich von dem Kaminsims mir ein Federmesser nehmen wollte, das ich aus Vergeßlichkeit am Morgen dort hatte liegen lassen, vernahm ich in dem anstoßenden Gemach ein Geräusch. Da ich wußte, daß Herr Leavenworth nicht zu Hause war, und glaubte, die Damen seien mit ihm gegangen, nahm ich mir die Freiheit, einmal nachzuschauen, und erblickte zu meinem Erstaunen Fräulein Eleonore neben dem Bette ihres Onkels, diesen Revolver in der Hand haltend. Bestürzt über meinen Vorwitz, wollte ich mich unbemerkt zurückziehen; als ich jedoch den Fuß auf die Thürschwelle setzte, wandte sich die Dame um, bemerkte mich und rief mich bei Namen. Ich trat auf sie zu, und sie bat mich, ihr den Revolver zu erklären. Um dies zu thun, meine Herren, war ich genötigt, die Waffe in die Hand zu nehmen, und das war die zweite und letzte Gelegenheit, bei welcher ich Herrn Leavenworths Revolver sah und berührte.« Nach diesen Worten ließ der Zeuge das Haupt sinken und wartete in unbeschreiblicher Aufregung auf die nächste Frage.

»Sie bat Sie, ihr die Waffe zu erklären; was wollte sie damit sagen?«

»Ich meine,« entgegnete er zögernd und sich mühsam zu anscheinender Ruhe zwingend, »wie man sie laden, wie man zielen und abfeuern müsse.«

Ein Schein wie das Aufleuchten eines plötzlichen Blitzes zuckte über die Gesichter aller Anwesenden, selbst der Coroner verriet Zeichen der Bewegung und starrte auf die gebeugte Gestalt und das blasse Antlitz des vor ihm stehenden Mannes mit einem eigentümlichen Blick bestürzten Mitleids, der seine Wirkung nicht verfehlen konnte, weder auf den jungen Mann selbst, noch auf alle, die ihn sahen.

»Herr Harwell,« fragte er endlich, »haben Sie Ihrer Aussage noch etwas hinzuzufügen?«

Der Sekretär schüttelte traurig den Kopf.

»Gryce,« flüsterte ich, indem ich ihn beim Arm ergriff und zu mir niederzog, »versichern Sie mir, ich bitte Sie darum,« – aber er ließ mich nicht ausreden. »Der Coroner ist im Begriff, die jungen Damen vorzuladen,« unterbrach er mich schnell, »wenn Sie Ihre Pflicht gegen dieselben erfüllen wollen, so halten Sie sich bereit; – das ist alles.«

Meine Pflicht erfüllen! Diese einfachen Worte brachten mich schnell zur Besinnung. Woran hatte ich nur in aller Welt gedacht? Sofort schwand vor meinen Augen die Gegenwart mit ihrem Zweifel und ihrem Entsetzen wie ein düsterer Schleier, und ich sah nur das rührende Bild der lieblichen Nichten, die sich in tiefem Schmerz zu den irdischen Ueberresten desjenigen hinabbeugten, der ihnen so teuer wie ein Vater gewesen war.

Als darauf nach Eleonore und Mary Leavenworth verlangt wurde, trat ich vor, erklärte, daß ich als Freund der Familie, – eine Lüge, die man mir hoffentlich verzeihen wird, – um die Erlaubnis bitten möchte, die jungen Damen aufsuchen und sie herunterbegleiten zu dürfen.

 

Sofort richteten sich ein Dutzend Augen auf mich, und ich fühlte eine Verlegenheit wie sie jemand überkommt, der durch eine unerwartete Aeußerung oder Handlung die Aufmerksamkeit einer ganzen Versammlung auf sich gelenkt hat.

Mein Wunsch wurde indessen ohne weiteres gewährt; eine Sekunde später befand ich mich, vor Aufregung glühend und mit klopfendem Herzen, in der Halle, während mir Gryces Worte in die Ohren klangen: »Dritte Etage, Hinterzimmer, erste Thür am Kopf der Treppe; die jungen Damen erwarten Sie.«