Engel und Teufel

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09. Ein Engel.

An diesem Tage sprach man in Sutherlandtown über nichts anderes, als über Agatha Webb.

Ihr Leben war kein sonniges gewesen. Sie und Philemon kamen vor etwa zwanzig Jahren von Portchester, um dem traurigen Andenken zu entfliehen, das sie mit jenem Platze verband.

In dem Kirchhofe zu Portchester standen sechs kleine Hügel, darunter der Beiden Kinder lagen. Trotz dieser erdrückenden Verluste - wie deutlich sie in den armen Eltern Zügen zu sehen waren - beteiligten sie sich eifrig am öffentlichen Leben des kleinen Städtchens und zählten zu den hervorragendsten Bürgern, bis Philemons Gesundheit zusammenbrach und Agatha sich ihm allein widmete.

Nur Gutes ward über Agatha Webb gesprochen, vom Portchester Green bis zu der Werft in Sutherlandtown.

Bei Pastor Brainerd hörte man Agathas Bescheidenheit und Einfachheit loben - seltene Tugenden unter den Frauen eines Seehafens.

„Für eine Frau von solcher Schönheit“ sagte der Pastor, „und ich glaube, ich darf ruhig behaupten, dass keine Frau edlere Züge hatte, zeigte sie eine merkwürdige Einfachheit in ihrer Kleidung. Kaliko zu Hause und Kaliko in der Kirche; und doch sah sie in diesen einfachen, dunkelen Kleidern vornehmer aus, als Mrs. Webster in Seide oder Mr. Parsons in ihrem Tausend-Dollars-Seehund-Pelz.“

„Ich meine“, warf die älteste Tochter ein, „sie hätte sich wohl etwas feiner kleiden können, statt mit ihrer Armut zu brüsten. Wenn einer wirklich zu arm ist, sich bessere Kleider zu kaufen - gut; man sagt sie besäßen mehr Geld, als jemand in der Stadt. Wer das viele Geld wohl erben wird?“

„Philemon natürlich. Er hat es auch jedenfalls verdienen helfen.“

„Ist es wahr, dass er seit ihrem Tode ganz den Verstand verloren hat?“ fragte ein Nachbar, der zu Besuch da war.

„So sagt man. Ich glaube, die Witwe Jones hat ihn zu sich genommen.“

„Glaubst Du“, fragte eine andere Tochter, „dass er Schuld an ihrem Tode hat? Einige sagen, er hätte sie ermordet, während andere erklären, es sei ein Fremder gewesen, ein alter Mann mit einem langen Bart.“

„Darüber wollen wir nicht sprechen“, unterbrach sie der Vater.

„Die Zeit wird es lehren, wer uns die gutherzigste und edelste Frau in diesem Teil des Landes raubte.“

„Wird die Zeit auch lehren, wer Batsy tötete?“ fragte die Jüngste.

„Mir tut sie herzlich leid. Sie war immer so freundlich, wenn sie mich sah.“

„Batsy war eine gute Seele“, sagte die Mutter. „Ich erinnere mich noch wie heute: als sie damals mit dem Wrack des schwedischen Schiffes eingebracht wurde, stritt Agatha und ich, wer sie haben sollte. Ich hatte nicht die Geduld, sie die englischen Namen aller Töpfe und Pfannen zu lehren und so überließ ich sie Agatha und bin froh, dass ich es tat; ich konnte ihr Geschwätz nie verstehen.“

„Ich verstand sie ausgezeichnet“, warf die Jüngste ein. „Sie gebrauchte schwedische Ausdrücke nur dann, wenn sie erregt war und ich regte sie nie auf.“

„Ob sie wohl auch den Boden unter Deinen Füßen angebetet hätte, wie sie es bei Agatha tat?“ fragte der Pastor seine Frau mit schelmischem Augenblinzeln.

„Dafür bin ich auch nicht die gutherzigste und edelste Frau in diesem Teile des Landes“, entgegnete diese und klapperte mit den Stricknadeln.

In Mr. Spragues Haus, auf der anderen Seite des Weges, erzählte der Amtmann Fischer alte Geschichten aus Portchesters frühen Tagen.

„Ich kannte Agatha, als sie noch ein junges Mädchen war“, sagte er. „Sie war die gebildetste und liebenswürdigste aller jungen Damen zwischen der Küste und Springfield. Damals kleidete sie sich nicht in Kaliko. Sie trug die besten Kleider, die ihr Vater kaufen konnte und der alte Jakob hatte Geld genug, sie herauszuputzen, wie keine andere der Stadt. Wie wir jungen Leute sie verehrten und wie weit wir gingen, um ein Lächeln von ihr zu erhaschen! Zwei von uns, John und James Zabel, sind ihrethalben noch heute ledig. Ich war nicht so mutig; ich heiratete und -.“

Etwas, das man ebenso gut als Lachen, wie als Seufzen aufnehmen konnte, vollendete den Satz.

„Wieso trug Philemon den Preis davon? Durch seine Schönheit?“

„Vielleicht - vielleicht war es Glück. Sein Mut War es nicht, das kann ich getrost behaupten. James Zabel hatte Mut und er hatte auch die besten Chancen; dann aber kam etwas vor - ich weiß heute noch nicht, was es war, doch soll es sehr ernster Natur gewesen sein - und das Verhältnis wurde abgebrochen. Später heiratete sie Philemon. Du siehst, ich kam gar nicht in Frage, trotzdem ich drei Jahre lang an nichts dachte, als an Agatha. Ich bewunderte ihren Geist; der war noch gewinnender, als ihre Schönheit und die war gewiss einnehmend. Sie regierte uns mit eiserner Faust und doch beteten wir sie alle an. Ich war überrascht, sie in den letzten Jahren so bescheiden zu sehen. Ich hätte nie geglaubt, dass sie sich mit einem Backsteinhaus begnügen könnte und mit einem Manne, der halb verrückt ist. Und doch hat kein Mensch sie je klagen hören. Die Art, wie sie ihr Unglück trug, machte sie noch verehrungswerter als damals die Schönheit, die alle jungen Leute von Portchester zu ihren Füßen brachte.“

„Vielleicht war es der Verlust ihrer Kinder, der sie solch einfachem Leben zuführte. Eine Mutter kann nicht sechs Kindern nacheinander die Augen schließen, ohne des Lebens Ernst in sich aufzunehmen.“

„Gewiss, sie und Philemon hatten viel Unglück. Aber, wie gesagt, sie war das schönste Mädchen weit und breit. So schöne sieht man heute gar nicht mehr.“

In einem kleinen Häuschen am Hügel nährte eine Mutter ihr Kind, während sie von Agatha Webb sprach.

„Ich werde im Leben die Nacht nicht vergessen, in der mein erstes Kind krank ward“, erzählte sie.

„Ich war eben erst vom Bett aufgestanden und hatte damals auch keine näheren Nachbarn, als jetzt; ich war ganz allein am Hügel - Alec war auf See. Ich war damals noch zu jung, um etwas von Kinderkrankheiten zu verstehen, doch empfand ich, dass ich Hilfe haben müsste, ehe es Morgen ward, sonst würde mein Kind sterben. Ich konnte kaum durch das Zimmer gehen, doch ich schlang mein Kopftuch um, nahm mein Kindchen in die Arme und öffnete die Türe. Klatschender Regen schlug mir ins Gesicht. Draußen fegte ein Sturm - und ich hatte es nicht bemerkt; die Sorgen um mein Kind nahmen mich ganz gefangen. Ich konnte unmöglich durch den Regen gehen. Ich war so schwach, ich sank in die Knie und war völlig durchnässt, ehe ich mich aufraffen und ins Zimmer zurück wanken konnte. Das Kind fing an zu jammern - mir ward es dunkel vor den Augen - da hörte ich eine starke, wohlklingende Stimme draußen rufen: „Kann ich im Hause hier bleiben, bis sich der Sturm gelegt hat? Ich kann in der Dunkelheit meinen Weg nicht finden.“ Ich blickte auf und sah unter der Tür eine Frau stehen, die mich mit Engelsaugen anschaute. Ich kannte sie damals noch nicht, doch war ihr Gesicht ein solches, das Trost selbst dem bedrängtesten Herzen bringen musste. Ich hielt ihr mein Kind entgegen und schrie: „Mein Kind stirbt! Ich wollte zum Doktor laufen, doch meine Knie tragen mich nicht. Helfen Sie mir! Sie sind selbst Mutter und ich -.“

Ich musste ohnmächtig geworden sein. Als ich erwachte, lag ich am warmen Ofen und als ich die Augen aufschlug, sah ich ihr engelgleiches Gesicht über mich gebeugt. Sie war so bleich, wie das Linnen, das ich um meines Kindes Hals gebunden und ihr Busen hob und senkte sich schnell – war es aus Schreck oder Mitleid, dachte ich.

„Ich wünschte, Sie hätten eine Andere, die Ihnen helfen könnte“, sagte sie.

„Kinder sterben in meinen Armen und welken an meiner Brust. Ich darf Ihr Kind nicht anrühren, so gerne ich auch möchte! Doch zeigen Sie mir sein Gesicht; vielleicht kann ich Ihnen sagen, was Sie tun sollen.“

Ich zeigte ihr des Kindes Gesicht. Sie beugte sich über das Kleine, zitternd, bleich, so zitternd und so bleich, wie ich selbst.

„Das Kind ist sehr krank“, sagte sie; „doch wenn Sie tun wollen, was ich Ihnen sage, können Sie es vielleicht retten.“

Dann gab sie mir Anweisungen, was ich tun sollte und half mir, soviel sie konnte. Doch sie legte keinen Finger an das Kind, obwohl - ich konnte es deutlich merken - sie ihr Herzblut darum gegeben hätte, es gesunden zu sehen. Und es ward gesund!

Nach etwa einer Stunde schlief es ruhig und friedlich und die schreckliche Sorge war von meinem Herzen genommen - und von dem ihren. Als der Sturm aufhörte und sie gehen konnte, küsste sie mich; doch der Blick, mit dem sie mich anschaute, sprach inniger, als Küsse -.

Der liebe Gott hat sicher das Gute vergessen, dass sie an mir getan hat, als er sie so schrecklich morden ließ.“

Bei Pastor Crane sprach man von dem Ausdruck seelischer Ruhe, der auf der Toten Zügen lag.

„Ich kannte sie seit dreißig Jahren“, erklärte der Pastor, „und sah nie zuvor solch vollkommenen Frieden auf ihren Zügen. Es ist dies erstaunlich, wenn man die näheren Umstände in Betracht zieht, Glauben Sie, dass sie des Lebens Kampf so überdrüssig gewesen sein kann, dass sie den Tod als Erlösung betrachtete, selbst einen gewaltsamen Tod?“

Ein junger Rechtsanwalt, der gerade von New York angekommen war, antwortete:

„Ich sah die Frau nie, von der Sie reden und weiß auch über die näheren Umstände ihres Todes nur das, was ich von Ihnen hörte. Doch aus den sich so auffallend widersprechenden Tatsachen, ihr Ausdruck und der gewaltsame Tod, schließe ich, dass etwas mehr hinter dem Verbrechen steckt, als bis jetzt gefunden wurde.“

„Mehr? Es liegt ein ganz einfacher Raubmord vor. Natürlich weiß man noch nicht, wer der Mörder ist, doch man kennt unzweifelhaft das Motiv und das war ihr Geld. Das ist vollkommen klar!“

 

„Wollen Sie eine Wette eingehen, dass dies nicht alles ist?“

„Sie vergessen den Rock, den ich trage“, entgegnete der Pastor.

„Das ist wahr“, sagte der andere lächelnd. „Ich wollte auch nur damit andeuten, wie stark meine Überzeugung ist, dass es sich hier um mehr handelt, als um ein einfaches Verbrechen.“

In Portchester saßen zwei Frauen zusammen.

„Agatha war bei mir zum Tee“, erzählte die eine, „als ihre Schwester Sairey gerannt kam, mit der Nachricht, ihr Kind sei krank. Das war Agathas erstes Kind, weißt Du.“

„Gewiss, war ich doch dabei, als das Kind geboren ward“, entgegnete die andere. „Ich sah nie solche Freude, als da ihr der Doktor sagte, das Kind lebe. Ich weiß eigentlich nicht, weshalb sie erwartete, dass das Kind tot wäre, doch sie dachte so und ihre Freude war umso größer, als sie es leben sah.“

„Nun, lange hat sie nicht Freude dran gehabt. Der arme Junge starb bald. Doch ich wollte ja von dem Abend erzählen, als sie zuerst hörte, der Junge sei krank. Philemon hatte gerade einen guten Witz erzählt und wir alle lachten. Da trat Sairey herein.

Ich sehe Agatha noch. „Mein Baby!“ schrie sie und sprang auf, noch ehe ihre Schwester ein Wort gesprochen hatte, „mein Baby ist krank!“

Und obwohl die Schwester ihr sagte, der Junge krächze nur etwas, sei aber nicht krank, warf sie Philemon einen Blick zu, unter dem dieser ebenso erblasste, als Agatha beim Eintreten ihrer Schwester. Eine Woche darauf starb das Kindchen und nie kehrte der alte Frohsinn, das alte Glück wieder bei ihnen ein. Ein zweites Kind kam - und starb; ein drittes, viertes und so oft, bis sechs kleine, unschuldige Kinder nebeneinander begraben lagen.“

„Ich weiß es; und es war traurig genug, wo sie doch Beide Kinder so herzlich gern haben. Ja, des Herrn Wege sind dunkel. Jetzt ist auch sie dahin gegangen, und Philemon-?“

„Wird ihr auch bald folgen“, vollendete die andere. „Der kann nicht ohne Agatha leben.“

Der alte Totengräber von Sutherlandtown, der eben die sechs kleinen Gräber im Kirchhof zu Portchester gesehen hatte, wohin er gesandt worden war, um eine Stelle für die arme Mutter auszusuchen, sprach mit seiner Frau über das Gesehene.

„Ich habe fast mein ganzes Leben in Kirchhöfen verbracht“, sagte er; als ich aber die sechs kleinen Hügel sah und die Grabschriften darüber las, traten mir doch die Tränen in die Augen. Denke Dir nur, auf dem ersten kleinen Stein standen diese Worte:

Stephen

Sohn von Philemon und Agatha Webb,

starb im Alter von sechs Wochen.

Gott sei mir Sünder gnädig!

Was soll das nun bedeuten? Hast Du im Leben so eine Grabschrift gesehen?“

„Nein“, entgegnete die alte Frau. „Vielleicht war sie eine von den Calvinisten, die glauben, Kinder, die nicht getauft sind, kommen nicht in den Himmel.“

„Ihre Kinder waren aber getauft, einige sogar, ehe sie selbst noch außer Bett war, sagte man mir.“

„Gott sei mir Sünder gnädig.“ Ist das eine Grabschrift für ein kleines, unschuldiges Wesen? Merkwürdig, höchst merkwürdig.“

„Was stand über dem Grab des Kindes, das der Blitz in ihren Armen erschlug?“

Und er war nicht für diese Welt

und Gott nahm ihn zu sich.

Farmer Waite hatte nur Weniges zu sagen: „Sie kam zu mir, als Sissy die Blattern hatte. Sie war die einzige Person, die sich zu mir ins Haus getraute. Mehr als das: als Sissy gesund geworden ist und ich den Doktor zahlen wollte, sagte der mir, die Rechnung wäre schon beglichen. Damals wusste ich nicht, wer so viel Liebe für seine Nebenmenschen hatte und so viel Geld besaß; heute weiß ich es.“

Viele edle Taten der letzten zwanzig Jahre, deren Urheber man bis heute nicht gekannt hatte, kamen an diesem Tage ans Licht.

Unter anderem die Erziehung eines gewissen jungen Mannes, der heute Pastor ist.

Auch Herzensangelegenheiten spielten eine Rolle. Ein junges Mädchen, das äußerst feinfühlend war und ihre Eltern mehr fürchtete, als liebte, war mit einem jungen Manne verlobt worden, den sie nicht leiden mochte.

Obwohl Jedermann ihr Elend sah, wagte es doch Niemand, für sie ein Wort zu den Eltern zu sprechen. Da hörte Agatha die Geschichte. Sie riet dem Mädchen - obwohl es kaum vierzehn Tage vor der Hochzeit war - den jungen Mann aufzugeben und als diese ihr erklärte, es fehle ihr hierzu der Mut, sprach Agatha selbst mit dem jungen Mann.

Die Hochzeit fand nicht statt, der junge Mann verließ die Stadt - des Mädchens Dankbarkeit aber kannte keine Grenzen.

Man erzählte sich zahllose Geschichten von ihrem Mut, mit dem sie für die Schwachen eintrat und für alle, auf deren Seite das Recht war. Die Frauen sprachen von ihrem Takt, ihrem Mitgefühl und der liebenden Sorgfalt, mit der sie Verirrte auf den rechten Weg zurückwies.

Mr. Halliday und Mr. Sutherland sprachen über Agatha Webbs geistige Fähigkeiten. Sie besaß einen solch ausgeprägten Charakter und ein solch einfaches Wesen, dass Wenige den edlen Geist berücksichtigten, der all ihrem Tun zu Grunde lag.

Die beiden Herren indes wussten diesen Geist voll zu würdigen und es war im Verlauf ihres Gespräches, dass eine Stimme Frederick, der still zugehört hatte, anredete:

„Du scheinst die einzige Person in der ganzen Stadt zu sein, die nichts über Agatha Webb zu sagen weiß. Hast Du nie mit ihr gesprochen? Es wäre doch kaum denkbar, dass Du Aug in Aug ihr gegenüber gestanden hast und nichts von ihrem Einfluss zu sagen wüsstest.“

Es war Agnes Halliday, welche so gesprochen hatte. Sie war mit ihrem Vater herübergekommen, um mit Mr. Sutherland zu plaudern. Sie war eine von Fredericks Spielkameradinnen gewesen, doch eine, der er sich nie angeschlossen hatte und die ihn nicht leiden konnte.

Er wusste dies ebenso gut, als jeder andere in der Stadt und wandte er sich ihr daher nur zögernd zu, als er antwortete:

„Ich erinnere mich nur einer einzigen Begegnung -.“

Er stockte; sein Blick wanderte aus dem Fenster in den Garten, wo Amabel stand und Blumen pflückte. Sie hatte jedenfalls Miss Hallidays Bemerkung gehört und warf Frederick einen bezeichnenden Blick zu.

„Ich erinnere mich nur einer einzigen Begegnung mit Mrs. Webb“, wiederholte dieser, indem er sich gewaltsam fasste, „von der ich erzählen kann. Vor vielen Jahren als ich noch ein Junge war, spielte ich mit anderen Knaben auf der Wiese. Wir hatten Streit über einen Ball bekommen, ich war ärgerlich und fluchte gottsträflich. Plötzlich sah ich Mrs. Webb vor mir stehen. Sie trug ein einfaches Kleid, wie gewöhnlich und einen Korb am Arm. Doch ihr Gesicht strahlte solche Hoheit aus, dass ich nicht wusste, sollte ich meinen Kopf in den Falten ihres Kleides bergen oder meiner ersten Eingebung folgen und davon laufen.

Sie bemerkte meine Scham und, mich am Kinn fassend, hob sie meinen Kopf zu sich empor und sagte:

„Kleiner Junge, ich habe schon sechs Kinder begraben, alle jünger als Du, und lebe nun mit meinem Manne ganz mutterseelenallein. Wie oft, wie oft habe ich gewünscht, dass nur eins der lieben Kleinen am Leben wäre. Doch hätte mich der liebe Gott vor die Wahl gestellt, sie jung und unschuldig sterben zu sehen oder aufgewachsen, sie so fluchen zu hören, wie Du es eben getan hast, ich hätte Gott gebeten, sie von mir zu nehmen - wie er es getan hat. Du hast eine - Mutter! Breche ihr nicht das Herz, indem Du den Namen Gottes missbrauchst, den sie verehrt -.“

Dann küsste sie mich auf die Stirn und - so merkwürdig es auch scheinen mag - so viel Torheiten, soviel Unrecht ich auch seither begangen habe, von jenem Tage an bis zu dieser Stunde kam kein Fluch mehr über meine Lippen - und ich danke dem Schöpfer dafür.“

Es lag so viel Wahrheit, soviel tiefes, ehrliches Empfinden in seiner Stimme, dass ihn alle erstaunt ansahen; hatte doch niemand solches Fühlen in ihm erwartet.

Selbst Miss Halliday vergaß ihre üblichen Spöttereien und so herrschte tiefe, ernste Stille - die plötzlich durch ein schrilles, spöttisches Lachen unterbrochen ward -. Es kam von Amabel, die draußen im Garten sich einen Strauß frischer Blumen gepflückt hatte.

10. Detektiv Knapp kommt an.

In einem kleinen Zimmer des Gerichtshofes saßen inzwischen drei Männer zusammen: Dr. Talbot, Mr. Fenton und ein Rechtsanwalt namens Harvey.

Es war der letztere, der sprach und von Mrs. Webb erzählte. Harvey war bekannt als ein überaus tüchtiger Anwalt, von tadellosem Ruf.

Wenn er sprach, sprach er gut, doch zog er es meist vor, zuzuhören. Er wusste Geheimnisse zu bewahren, wie kein anderer. Er war dreimal verheiratet gewesen; böse Zungen behaupteten, dass er so das Schweigen gelernt habe. Um seinen Tisch saßen noch heute dreizehn Kinder.

„Vor etwa fünfzehn Jahren“, erzählte Harvey, „kam Philemon zu mir und übergab mir eine Summe Geldes, die er für seine Frau angelegt wissen wollte. Er hatte das Geld bei einer kleinen Spekulation verdient und wollte es für seine Frau anlegen, ohne dass diese oder die Nachbarn etwas davon erführen. Ich fertigte die nötigen Papiere aus, die er voll Freude unterzeichnete und legte das Geld nach reiflicher Überlegung in einem Unternehmen in Boston an, das mir gut erschien. Es war dies der beste Zug, den ich je im Leben machte. Nach einem Jahre hatte sich das Kapital verdoppelt und nach fünf Jahren war es - mit den Zinsen - so angelaufen, dass wir - Philemon und ich - beschlossen, ihr zu sagen, wie reich sie sei und ihre Dispositionen zu erwarten, was mit dem Geld geschehen sollte. Ich hoffte, sie würde nun ihre Lebensweise ändern, die mir nicht im Einklang schien mit ihrem Einkommen und ihren geistigen Fähigkeiten; es ward mir indes bald klar, dass ich Agatha falsch beurteilte. Als sie hörte, wie reich sie war, schaute sie uns erst erschrocken an; dann warf sie sich in Philemons Arme und weinte bitterlich, während der arme Mensch so verwirrt dastand, als habe er ihr Nachricht von einem großen Verlust statt von seinem großen Gewinn gebracht. Sie dachte wohl an ihre toten Kinder und was sie nun für dieselben tun könnte, wären dieselben am Leben. Doch sie sprach nicht davon. Nachdem die erste Erregung vorüber, sagte sie zu Philemon: „Du wolltest mich glücklich machen, Philemon, und Du sollst Dich nicht getäuscht haben. Wir wollen das Geld benutzen, den Armen der Stadt zu helfen.“ Er sah auf ihr einfaches kardinalfarbenes Kalikokleid und sagte bescheiden: „Denkst Du nicht, wir sollten uns nun etwas besser kleiden und dass Du vielleicht ein seidenes Band an Deinem schönen Hals tragen könntest?“ Sie antwortete nicht, sondern schaute ihn nur an, mit einem Blicke, aus dem ihre ganze Seele sprach. „Agatha hat Recht“, sagte daraufhin Philemon zu mir, „wir brauchen keinen Luxus. Ich kann wirklich nicht begreifen, wie ich so was sagen konnte.“ Das war vor zehn Jahren und ihr Vermögen wuchs immer mehr an. Ich wusste damals nicht - und weiß es heute noch nicht - weshalb sie ihr Glück so geheim gehalten wissen wollte. Doch da es ihr ausdrücklicher Wunsch war, habe ich denselben natürlich respektiert. Das Geld, das offenbar die indirekte Ursache ihres Todes gewesen ist, waren die Zinsen, die ich ihr vorgestern überbracht hatte. Es waren eintausend Dollars in nagelneuen Scheinen, teils fünf, teils zehn, auch einige Zwanzig-Dollars-Scheine waren dabei und ich darf wohl behaupten, dass kein anderes neues Geld in solchem Betrage in der Stadt war.“

„Zeigen Sie allen Geschäftsleuten der Stadt an, genau aufzupassen, wer mit neuem Gelde bezahlt“, sagte Dr. Talbot zu Fenton.

„Neue zehn oder zwanzig Dollars-Noten zirkulieren hier nicht jeden Tag. Was nun ihr Testament betrifft, hast Du das auch aufgesetzt, Harvey?“

„Nein, ich wusste nicht einmal, dass sie ein solches gemacht hatte. Ich machte sie oft auf eine solche Notwendigkeit aufmerksam, doch hat sie es immer zu verschieben gewusst. Nun, scheint es, hat sie doch ein Testament gemacht und zwar in Boston. Sie dachte vermutlich, sie könnte ihrem alten Freunde nicht zu viele Geheimnisse anvertrauen.“

„Dann weißt Du nicht, wem sie ihr Geld hinterlassen hat?“

„So wenig als Du.“

Der Eintritt eines jungen Mannes, einen Zwicker auf der Nase, unterbrach das Gespräch. Sofort standen alle erwartungsvoll auf.

„Nun?“ fragte Dr. Talbot.

„Nichts Neues“, erwiderte der Angekommene. Die ältere Frau starb an Blutverlust, infolge einer Wunde, die ihr mittels eines kleinen, dreischneidigen Dolches beigebracht worden war, während die jüngere an Apoplexie starb, veranlasst durch einen plötzlichen großen Schrecken.“

 

„Gut. Ich freue mich, dass meine Annahme sich als richtig erwiesen hat. Blutverlust? Was? Demnach war der Tod kein plötzlicher?“

„Nein.“

„Sonderbar!“ sagten die beiden anderen.

„Sie lebte und rief doch nicht um Hilfe!“

„Wahrscheinlich hat niemand sie gehört“, warf der Arzt ein, der aus einer anderen Stadt war.

„Oder wenn jemand sie hörte, so war dies nur Philemon“, bemerkte der Polizist.

„Jedenfalls veranlasste ihn etwas, nach oben zu gehen.“

„Ich bin noch nicht so fest überzeugt, dass Philemon nicht der Mörder ist“, sagte der Untersuchungsrichter, „trotzdem das Geld nirgendwo im Hause gefunden ward. Wie anders lässt sich sonst seine Ruhe erklären, mit der er die Nachsicht ihres Todes anhörte? Hätte ein Fremder sie getötet, Agatha Webb hätte sich sicher gewehrt. Man merkt im Zimmer aber nichts von einem Kampfe.“

„Sie hätte sich jedenfalls auch gegen Philemon gewehrt, hätte sie die Kraft und die Möglichkeit besessen. Mir scheint, sie ward im Schlaf überfallen.“

„Ah. Und nicht am Tische stehend? Wie kamen dann die Blutstropfen dahin?“

„Vielleicht von den Fingern des Mörders.“

„Philemons Hände waren nicht blutig.“

„Nein, er wischte sie an seinem Ärmel ab.“

„Wenn er es war, der den Dolch gegen sie zückte, wo ist der Dolch? Er müsste doch irgendwo im Hause gefunden werden.“

„Vielleicht hat er ihn im Garten vergraben. Geisteskranke kommen oft auf merkwürdig verschlagene Gedanken.“

„Wenn Sie den Dolch innerhalb des Zaunes finden können, will ich Ihnen Recht geben. Einstweilen glaube ich nicht an Ihre Theorie. Meine Ansicht vielmehr ist -.“

„Würden Sie die Güte haben, mit Ihrer Ansicht zurückzuhalten, bis ich die meinige formuliert habe“, unterbrach den Sprecher eine Stimme von außen.

Alle wandten sich um. Unter der Türe stand ein Mann mit glattgestrichenen schwarzen Haaren und ausdruckslosen Zügen. Hinter ihm kam Abel, Schirm und Reisetasche in der Hand.

„Der Detektiv von Boston“, rief Abel.

Dr. Talbot begrüßte ihn.

„Knapp ist mein Name“, begann der Detektiv. „Ich habe bereits mein Abendessen eingenommen und bin bereit, meine Arbeit sofort zu beginnen. Ich habe die Zeitungen gelesen und bin über alles orientiert, was bis jetzt offiziell bekannt ist. Ich möchte nur noch die Tatsachen wissen, die seither festgestellt wurden - Tatsachen, verstehen Sie, keine Theorien. Ich lasse mich nie durch anderer Leute Theorien beeinflussen.“

Dr. Talbot, dem die Art und Weise dieses Mannes, seine Wichtigtuerei und Selbstüberhebung nicht zusagte, wies ihn an Mr. Fenton, der ihm alles mitteilte, was er und seine Leute bisher festgestellt hatten. Als er geendet, nahm Mr. Knapp seinen Hut und wandte sich der Türe zu.

„Ich werde zuerst nach dem Hause gehen und sehen, was ich selbst feststellen kann. Darf ich bitten, allein gehen zu dürfen?“ setzte er hinzu, als er Fenton sich erheben sah.

„Abel kann ja sehen, dass mir der Zutritt gestattet wird.“

„Zeigen Sie mir Ihre Ausweis-Papiere“, sagte der Untersuchungsrichter.

Dies geschah.

„Die scheinen in Ordnung zu sein und ich nehme an, Sie sind ein Mann, der sein Geschäft versteht. Sie können allein gehen, wenn Sie es vorziehen, bringen Sie aber Ihre Folgerungen, die Sie aus Ihrer Untersuchung ziehen, hierher, damit wir sie eventuell - korrigieren können.“

„Gewiss werde ich zurückkommen“, entgegnete Knapp ruhig.

Dann ging er, einen nichts weniger als guten Eindruck hinterlassend.

„Ich begreife Carson nicht“, rief der Anwalt, „dass er uns einen solchen Menschen herschickt! Konnte er nicht merken, dass der Fall eines Mannes von ungewöhnlicher Tüchtigkeit und Urteilskraft bedarf?“

„Oh, der Mann ist vielleicht sehr tüchtig; er hat nur solch unangenehmes Wesen. Ich kann derartige Fischnaturen nicht leiden.“

„Wer ist das?“ unterbrach er sich plötzlich, als er ein Klopfen an der Türe hörte.

„Ah, Loton! Was will der hier?“

Der Ankömmling fuhr bei Dr. Talbots Stimme merklich zusammen. Er war schwächlich, nervös und auf das Äußerste erregt.

„Ich bitte tausendmal um Entschuldigung“, begann er, „dass ich mir die Freiheit nehme, hierher zu kommen. Ich unterbreche eine Gesellschaft nicht gerne, doch ich habe Ihnen etwas zu sagen, das vielleicht wichtig für Sie ist, obwohl es nicht sehr bedeutend ist -.“

„Betrifft es den Mord?“ fragte der Untersuchungsrichter, wobei er seine Stimme dämpfte; er kannte Loton und wusste, dass er ihn freundlich behandeln müsse, sollte er nicht gänzlich verschüchtert werden.

„Den Mord? Bewahre mich der Himmel! Ich würde nie wagen, etwas über den Mord zu sagen! Es betrifft das Geld, welches - das heißt, es betrifft Geld im Allgemeinen. Es ist - es ist etwas merkwürdig und - die Sache ging mir schon den ganzen Tag im Kopf herum - soll ich es Ihnen erzählen, meine Herren? Es passierte gestern Abend, das heißt, spät in der Nacht, so spät, dass ich schon lange im Bette lag und bereits vier Stunden schnarchte, wie meine Frau sagt -.“

„Was für Geld? Neues Geld? Nagelneue Banknoten?“ fragte Fenton erregt.

Loton, der an der Straße, die nach dem Hügel führt, ein kleines Spezereigeschäft hat, trippelte nervös von einem Fuß auf den anderen und fuhr dann fort:

„Es war neues Geld - ich dachte gleich so, als ich es im Dunkeln anfasste - nagelneues Geld, meine Herren und zwar eine -. Doch das merkwürdigste kommt noch, ich hatte fest geschlafen und träumte von meiner Sally, als sie selber mich aufweckte und sagte, es klopfte Jemand an der Türe. „Geh hinaus“, flüsterte Sally und sieh, was der Mann will.“ Ich war zwar ärgerlich über diese Störung - ich träumte so schön von Sally - aber Pflicht ist Pflicht und so ging ich hinab - es war stockfinster. „Draußen klopfte es immer noch. „Was ist los?“ schrie ich. „Wer ist draußen und was wollen Sie?“ „Machen Sie auf!“ rief eine schwache zitternde Stimme, „ich will etwas zu Essen kaufen! Um Gottes Willen, machen Sie auf!“ „Die Stimme klang so kläglich - und ich öffnete die Türe. „Sie müssen recht hungrig sein“, begann ich, doch er ließ mich nicht ausreden. „Brot!“ keuchte er atemlos, wie ein Mann, der weit und schnell gelaufen ist, „geben Sie mir was zu essen, einerlei, was es ist! Schnell, nur schnell! Hier ist Geld!“ Dabei schob er mir eine Note in die Hand, die so steif war, dass sie knitterte. „Schnell, um Gottes Willen, schnell! Das Geld zahlt für alles! Ich komme am Morgen und hole mir, was ich herauszubekommen habe.“ „Wer sind Sie?“ rief ich. „Sind Sie der blinde Willy? Oder -?“ „Brot - Brot!“ war seine einzige Antwort. „Ich konnte dies Wimmern nach Brot nicht länger mit anhören, griff im Dunkeln nach einem Laib und gab ihm denselben. „Da!“ rief ich. „Jetzt sagen Sie mir, wer Sie sind, ober wie Sie heißen?“ „Er murmelte etwas Unverständliches - es mag wohl ein Dank gewesen sein - ging aus der Türe und lief schnell dem Hügel zu.“

„Und das Geld? Wie ist es mit dem Geld?“ fragte der Untersuchungsrichter.

„Kam er am Morgen für sein Geld?“

„Nein. Ich legte das Geld in der Nacht in den Zahltisch; ich dachte, es wäre eine Dollar-Note. Als ich aber heute Morgen nachschaute, war es ein Zwanziger, ja, meine Herren, ein nagelneuer Zwanziger!“

Der Untersuchungsrichter und der Polizist sahen sich erstaunt an.

„Wo ist das Geld? Haben Sie es mitgebracht?“ fragte der erstere.

„Ich habe es hier. Ich will niemanden Unrecht tun - doch als ich hörte, dass Mrs. Webb - Gott hab sie selig - letzte Nacht um Geldes Willen ermordet worden war, brannte mir die Note wie Feuer in der Tasche. Hier ist sie. Ich wollte, ich hätte die Türe nicht geöffnet und den alten Mann stehen lassen, bis es Morgen war.“

Es war wirklich eine nagelneue Note, die Dr. Talbot entgegen nahm.

„Weshalb nennen Sie den Kunden alt?“ fragte Fenton. „Ich dachte, es war so dunkel, dass Sie ihn nicht sehen konnten?“

„Nein, ich konnte sein Gesicht nicht sehen. Trotzdem bin ich sicher, dass er alt war - es kann gar nicht anders möglich sein.“

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