Engel und Teufel

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03. Die leere Schublade.

Als die beiden Männer in das erste Zimmer zurücktraten, waren sie nicht wenig erstaunt, Miss Page zu sehen, die unter der Türe stand. Sie starrte die Tote an und schien die beiden Männer nicht zu bemerken.

„Wie kommen Sie hierher? Wer hat Sie, entgegen meinem ausdrücklichen Befehl, eintreten lassen?“ fragte Fenton, ärgerlich und erregt.

Sie ließ ihre Kapuze vom Kopfe fallen und sah den Frager lächelnd an, mit demselben gewinnenden Lächeln, mit dem sie versucht hatte, ihn vor dem Hause ihren Wünschen gefügig zu machen.

Damals hatte er widerstanden, doch dem abermaligen Versuch konnte er nicht standhalten.

„Ich bestand darauf, eingelassen zu werden“, sagte sie. „Machen Sie den Männern draußen keinen Vorwurf; sie wollten einer Dame gegenüber keine Gewalt anwenden“.

Ihre Stimme war nicht wohlklingend und sie wusste das; sie schlug daher den Ton an, der ihre Worte zu Herzen trug und sie siegte auch über den alten, wetterharten Amos Fenton.

„Na, na“, murmelte er, „das ist schlimme Neugierde, die Sie hierher führte. Legen Sie die besser ab; ehrenwerte Personen missverstehen dergleichen sehr leicht.“

„Danke“, entgegnete sie mit schelmischem Lächeln, das Falten auf Mr. Sutherlands Stirn brachte. Er schaute von ihr nach der Toten und sagte in vorwurfsvollem Tone:

„Ich verstehe Sie nicht, Miss Page. Wenn dieser Anblick Ihrer Koketterie keinen Zwang auferlegen kann, dann weiß ich nicht, was überhaupt diese in Schranken zu halten vermag! Was Ihre Neugierde betrifft, so ist selbige ebenso unpassend als unweiblich. Verlassen Sie dies Haus sofort, Miss Page! Und sollten Sie in den paar Stunden, die noch bis zum Frühstück dahingehen, Zeit finden, Ihre Koffer zu packen, würden Sie mich noch besonders verpflichten.“

„Schicken Sie mich nicht fort, ich bitte Sie!“ Es war dies ein Schrei aus innerstem Herzen, den sie jedenfalls gleich bedauerte, denn sie versuchte sofort diesen unvorsichtigen Selbstverrat durch Beugen ihres schönen Kopfes und durch Zurücktreten zu verwischen.

Weder Mr. Sutherland noch Amos Fenton schien das eine oder das andere bemerkt zu haben; hatten sie doch ihre Aufmerksamkeit wichtigeren Sachen zugewandt.

„Ihrer Kleidung nach zu urteilen“, sagte Mr. Sutherland, der die Tote wieder eingehend betrachtete, „scheint meine unglückliche Freundin vor dem Schlafengehen ermordet worden zu sein. Wenn Philemon –.“

„Entschuldigen Sie, meine Herren“, rief da der junge Mann, der in der Halle zurückgelassen worden war, „die junge Dame horcht, was Sie sagen. Sie steht noch oben auf der Treppe.“

„So ist es! So ist es!“ rief Fenton, dessen Galanterie bei der Zurechtweisung vonseiten seines Kameraden verschwunden war.

„Ich will ihr aber zeigen -.“

Als er zur Türe gekommen, war die junge Dame verschwunden und nur ein feines Parfüm erinnerte daran, dass sie kurz zuvor hier gestanden hatte.

„Eine merkwürdige Person“, murmelte der Polizist beim Zurückgehen.

Er kehrte indes sofort wieder um, da er in der unteren Halle Stimmen hörte.

„Der alte Mann ist wach!“ rief eine Stimme hinauf.

Sofort stiegen Fenton und Mr. Sutherland die Treppe hinab. Miss Page stand unter der Türe des Zimmers, in dem Philemon Webb saß. Als die beiden Männer näher kamen, machte sie eine halb ironische, halb abbittende Verbeugung und verließ das Haus.

Wie von einem Bann erlöst, atmeten die beiden Männer auf und besonders Mr. Sutherland war durch das Fortgehen der jungen Dame sichtbar erleichtert.

„Ich wünschte, der Doktor wäre hier“, sagte Fenton.

"Ich sandte unsere n besten Reiter nach ihm, doch er ist irgendwo da draußen am Portchester Weg und es kann eine Stunde dauern, ehe er kommt.“

„Philemon!“ rief Mr. Sutherland, indem er die Hand seinem alten Freund auf die Schulter legte, "Philemon! Wo sind Deine Gäste? Du hast bis zum Morgen auf sie gewartet!“

Philemon schaute erstaunt auf die beiden Gedecke neben ihm und sagte, indem er mit dem Kopfe schüttelte:

„James und John werden stolz - oder sie haben es vergessen, sie haben es vergessen.“

James und John. Er meinte wohl die Zabels. Es gibt aber so viele Leute in der Stadt, die diese Vornamen trugen.

Wieder frug Mr. Sutherland:

„Philemon, wo ist Deine Frau? Ich sehe, es ist hier nicht für sie gedeckt.“

„Agatha ist nicht wohl, Agatha ist ärgerlich. Sie kümmert sich nicht um einen alten, kranken Mann, wie ich.“

„Agatha ist tot und Du weißt es!“ schrie der Polizist unüberlegter Weise.

„Wer hat sie ermordet? Sag, wer hat sie ermordet?“

Der plötzliche Schreck nahm dem Kranken den letzten Rest von klarer Besinnung. Mit dem gurgelnden Lachen, das Geistesschwachen eigen ist, erwiderte er:

„Die Mieze-Katze, es war die Mieze-Katze. Wer ist ermordet? Ich bin nicht ermordet. Lasst uns nach Jericho gehen.“

Mr. Sutherland nahm ihn unter dem Arm und geleitete ihn nach oben. Vielleicht würde der Anblick seiner toten Gattin ihn zur Besinnung bringen. Doch er schaute sie an, mit demselben starren Blick des Nichterkennens, mit dem er alles andere betrachtete.

„Ich kann dies Kaliko-Kleid nicht leiden“, sagte er nach einer Weile. „Sie kann erfordern, sich in Seide zu kleiden, doch sie will nicht. Agatha, wirst Du zu meinem Begräbnis dein Seidenkleid anziehen?“

Erschüttert, zog Mr. Sutherland den alten Mann hinweg und übergab ihn der Obhut eines Polizisten. Fentons Neugierde war erregt worden.

Er nahm Mr. Sutherland bei Seite und flüsterte:

„Was wollte der alte Mann damit sagen: sie kann erfordern, sich in Seide zu kleiden? Sind die Leute etwa nicht so arm, als sie scheinen?“

Ehe Mr. Sutherland antwortete, schloss er die Türe.

„Sie sind reich“, erklärte er sodann dem erstaunten Frager, „das heißt, sie waren reich; vielleicht wurden sie beraubt. Wenn dem so ist, dann war es sicher nicht Philemon, der sie tötete. Wie ich hörte, bewahrte Agatha ihr Geld in einem altmodischen Wandschrank auf - wie etwa dieser hier“, setzte er hinzu, auf eine Doppeltüre in der Wand über dem Kaminfeuer zeigend.

Fenton, der einen Schlüssel im Schloss bemerkte, ging sofort hin und öffnete die Türen. Erst sah er nichts, als einige Reihen Bücher.

Als er diese jedoch herabgenommen, bemerkte er dahinter zwei Schubladen.

„Sind sie verschlossen?“ fragte Mr. Sutherland.

„Eine ist verschlossen, die andere nicht.“

„Öffnen Sie die unverschlossene.“

Fenton tat so. „Sie ist leer“, sagte er.

Mr. Sutherland warf wiederum einen Blick nach der Toten. Die ebenmäßigen Züge, die seelische Ruhe, die auf ihnen lag, berührten ihn sonderbar.

„Ich weiß nicht, ward sie das Opfer ihres geistesschwachen Gatten oder eines ruchlosen Räubers. Sehen Sie doch, ob Sie den Schlüssel zu der anderen Schublade finden können.“

„Ich will es versuchen.“

„Vielleicht fangen Sie mit Suchen am besten bei der Toten an; der Schlüssel sollte sich in ihrer Tasche finden, wenn kein Dieb ihn weggenommen hat.“

„Er ist nicht in der Tasche.“

„Vielleicht hängt er an einer Schnur an ihrem Halse?“

„Nein. Da hängt wohl ein Medaillon, aber kein Schlüssel. Ein prachtvolles Medaillon, Mr. Sutherland, mit einer goldenen Haarlocke eines Kindes darin -.“

Wir können das später betrachten; jetzt wollen wir erst den Schlüssel suchen.“

„Herr des Himmels!“

„Was ist es?“

„Sie hat den Schlüssel in der Hand - in der Hand, auf der sie liegt!“

„Ah! Das ist wichtig, Fenton!“

„Sehr wichtig!“

„Bleiben Sie hier, Fenton. Lassen Sie keinen Menschen diesen Schlüssel wegnehmen, bis der Untersuchungsrichter hier war und dies selbst gesehen hat!“

„Ich werde hier bleiben!“

„Inzwischen will ich diese Bücher wieder an ihren Platz stellen.“

Er war kaum damit fertig, als eine andere Person im Hause erschien: Pastor Crane.

04. Die volle Schublade.

Der Neuangekommene hatte wichtiges zu erzählen. Zu früher Morgenstunde, vom Krankenbette eines seiner Pfarrkinder kommend, war er an diesem Hause vorübergegangen.

Als er eben die Türe passierte, lief ein Mann in höchster Erregung aus dem Hause; in der Hand hielt er etwas glänzendes und obgleich er ihn - den Pastor - fast umgerannt hatte, blieb er doch nicht stehen, um sich zu entschuldigen, sondern eilte mit unsicheren Schritten dahin.

Daraus schloss der Pastor, dass der Fremde alt war. Außerdem sah er auch die Spitzen eines weißen langen Vollbartes über die Schultern flattern; das Gesicht konnte er nicht sehen.

Philemons Gesicht ist glatt rasiert. Um genauere Zeitangabe gefragt, sagte der Pastor, dass es ungefähr um Mitternacht gewesen sein muss, denn halb ein Uhr befand er sich wieder in seinem Hause.

„Haben Sie im Vorübergehen nach den Fenstern gesehen?“ fragte Fenton.

„Ich erinnere mich, dass beide beleuchtet waren.“

„Waren die Jalousien herabgelassen?“

„Ich glaube nicht, sonst wäre mir das aufgefallen.“

„Wie waren die Jalousien, als Sie heute Morgen ins Haus kamen?“ fragte Mr. Sutherland den Polizisten.

„Genauso, wie Sie sie jetzt sehen; es ward nichts im Hause berührt. Beide Jalousien waren herabgelassen, die eine über ein offenes Fenster.“

„Diese Begegnung mit dem Unbekannten ist von größter Wichtigkeit, Herr Pastor.“

„Ich wünsche, ich hätte sein Gesicht gesehen“

„Was mag wohl der glitzernde Gegenstand gewesen sein, den Sie in seiner Hand sahen?“

 

„Ich möchte keine Meinung darüber äußern; ich sah den Mann nur eine flüchtige Sekunde.“

„Kann es ein Messer oder ein altmodischer Dolch gewesen sein?“

„Arme, arme Agatha! Das gerade sie, die das Geld so verachtete, das Opfer eines habgierigen Mörders werden musste! Ein glückloses Leben und ein glückloses Ende - Fenton, ich werde mein Leben lang um Agatha Webb trauern.“

„Und doch scheint es, als ob sie endlich Ruhe gefunden habe“, sagte der Pastor. „Ich sah sie im Leben nie so seelisch zufrieden.“

Dann, Mr. Sutherland bei Seite ziehend, fragte er:

„Was sagten Sie eben von Geld? Hat sie wirklich, entgegen allem Anschein, über ein größeres Vermögen verfügt? Ich frage deshalb, weil sie, trotz ihrer einfachen Kleidung und ihrer einfachen Lebensweise, stets mehr für die Kirche gab, als irgendeiner ihrer Nachbarn. Außerdem bekam ich von Zeit zu Zeit anonym größere Beträge zugesandt, stets für arme, kranke Kinder bestimmt, die -.“

„Ja, ja, die kamen von ihr, ohne Zweifel von ihr. Sie waren nicht arm, obwohl ich nie wusste, wie reich sie war, bis in letzter Zeit. Sie zogen offenbar vor, einfach zu leben und da sie keine Kinder am Leben haben.“

„Man sagte mir, sie begruben sechs Kinder.“

„So sagen die Leute von Portchester. Jedenfalls hatten sie kein Verlangen nach weltlichen Genüssen und gaben sich auch nie solchen hin.“

„Philemon hat wohl seit Jahren nach nichts mehr verlangt?“

„O, er lebt gerne gut und hatte auch immer, was sein Herz verlangte. Agatha schlug ihm nie etwas ab.“

„Weshalb denken Sie, dass Geld die Ursache ihres gewaltsamen Todes gewesen ist?“

„Sie hatte eine größere Summe im Hause und es gibt viele hier herum, die das wussten.“

„Ist das Geld nicht mehr im Hause?'

„Das werden wir später erfahren.“

In diesem Augenblicke kam der Untersuchungsrichter Dr. Talbot an. Er war ein Mann von wenig Worten und noch weniger Fühlen. Umso mehr überraschten seine ersten Worte:

„Wer ist die junge Dame, die da draußen steht, die einzige Frauensperson unter den Neugierigen?“

Mr. Sutherland ging schnell an das Fenster, bog die Jalousie zur Seite und erwiderte dann:

„Das ist Miss Page, die Nichte meiner Haushälterin. Sie folgte mir hierher und wir konnten sie kaum aus dem Zimmer hier bringen, wohin sie mir, entgegen meinem ausdrücklichen Wunsche, gefolgt war. Ich begreife nicht, was sie an dem Mord interessieren kann.“

„Sehen Sie nur, wie sie dasteht!“ rief Fenton. „Sie scheint noch verrückter als Philemon zu sein.“

Ihr Benehmen gab vielleicht Veranlassung zu dieser Bemerkung. Inmitten des kleinen Gartens, von der erregten Menge durch den hohen Bretterzaun getrennt, stand sie, hoch aufgerichtet, unbeweglich, gespannt horchend. Ihre Kapuze hatte sie wieder über den Kopf gezogen und so glich sie eher einer grauen Statue, als einem lebenden, atmenden Wesen. Ihr Blick, den Beobachtern zugerichtet, machte diese erschauern.

„Ein merkwürdiges Mädchen“, sagte der Pastor.

„Und eine, die ich weder in Schutz nehme, noch begreife“, fügte Mr. Sutherland hinzu. „Ich zeigte ihr soeben meinen Unmut über ihr Eindringen, indem ich sie aus meinen Diensten entließ.“

Der Untersuchungsrichter warf ihm einen schnellen Blick zu, öffnete den Mund zum Sprechen, schien seine Absicht jedoch sofort zu ändern und wandte sich der Toten zu.

„Wir haben eine traurige Pflicht vor uns“, sagte er.

Die Untersuchung, die er nunmehr vornahm, brachte zwei Tatsachen zu Tage. Erstens: dass alle Türen des Hauses unverschlossen gewesen sind und zweitens, dass der Polizist mit den Ersten ins Haus getreten ist und so versichern konnte, dass, außer Batsys Entfernung vom Fenster nach dem Bette, nichts im Hause berührt worden war.

Als er dann die Tote besichtigte, fand er den Schlüssel in ihrer Hand.

„Wozu gehört dieser Schlüssel?“ fragte er.

Man zeigte ihm die Schubladen im Wandschrank.

„Die eine ist leer“, sagte Mr. Sutherland. „Wenn die andere ebenfalls leer ist, dann liegt ein Raubmord vor. Der Schlüssel, den sie in der Hand hält, sollte beide Schubladen öffnen.“

„Dann wollen wir sofort nachsehen. Es ist von höchster Wichtigkeit, zu wissen, ob nur ein Mord vorliegt oder ein Raubmord.“

Darauf nahm er den Schlüssel aus der Toten Hand und gab ihn Fenton, der sofort die Schublade aufschloss und sie, mit ihrem ganzen Inhalt, auf den Tisch stellte.

„Hier drin ist kein Geld“, sagte er.

„Aber Papiere, die so gut sind, als Geld“, bemerkte der Richter. „Sehen Sie hier: Hypothekenbriefe und viele gute Staatspapiere. Es scheint, sie war reicher, als jemand von uns wusste.“

Mr. Sutherland schaute mit enttäuschter Miene in die nun leere Schublade.

„Wie ich fürchtete“, sagte er. „Man hat sie ihres Bargeldes beraubt. Es befand sich dies zweifellos in der anderen Schublade.“

„Wie kann sie dann den Schlüssel in der Hand halten?“

„Das ist eines der Geheimnisse dieses Falles. Dieser Mord ist nicht so einfach; es dünkt mir vielmehr, als ob wir viele Überraschungen zu gewärtigen hätten.“

„So zum Beispiel: Batsys Tod.“

„O ja, Batsy! Ich vergaß ganz, dass sie auch tot aufgefunden ward.“

„Und ohne jede Wunde, Herr Richter.“

„Sie war herzkrank, der Schreck hat sie wohl getötet.“

„Ihr Gesichtsausdruck scheint diese Annahme zu bestätigen.“

„Lassen Sie mal sehen. So scheint es in der Tat! Es muss jedoch eine Sektion vorgenommen werden, dies zu bestätigen.“

„Ehe wir weiter gehen, möchte ich erklären, wieso ich weiß, dass Agatha Bargeld im Hause hatte“, sagte Mr. Sutherland, als sie ins andere Zimmer zurückgingen.

„Vorgestern, als ich mit meiner Familie zu Tische saß, kam Judy, die alte Klatschbase, in das Zimmer. Wäre Mrs. Sutherland am Leben, hätte sie es nicht gewagt, zur Essenszeit einzudringen; doch so, da Niemand die Honneurs des Hauses vertritt, kam sie einfach ins Zimmer gelaufen und kramte ihre Neuigkeiten aus.

Sie kam eben von Mrs. Webb. Mrs. Webb habe Geld, viel Geld im Hause; sie habe es gesehen; sie sei, wie gewöhnlich, ohne anzuklopfen ins Haus gegangen; da sie Agatha oben hörte, ging sie hinauf; die Türe stand offen und sie schaute hinein; Agatha ging eben durchs Zimmer, Papiergeld in der Hand, viel Geld; sie legte die Scheine in eine Schublade hinter den Büchern im Wandschrank und sagte: „Eintausend Dollars! Das ist zu viel Geld, im Hause zu behalten“; sie - Judy - sei derselben Meinung; sie habe Angst bekommen und sei geräuschlos davon gerannt, den Nachbarn zu erzählen, was sie gehört und gesehen habe.

Glücklicherweise war ich der Erste, den sie an jenem Morgen traf, doch bin ich überzeugt, dass sie, trotz meiner ausdrücklichen Verwarnung, ihre Neuigkeit noch bei mindestens einem halben Dutzend anderer ausgekramt hat.“

„War die junge Dame dort unten zugegen, als Judy dies erzählte?“ fragte der Untersuchungsrichter.

Mr. Sutherland sann nach.

„Vielleicht - ich erinnere mich nicht mehr genau. Frederick saß mit mir am Tische, während meine Haushälterin den Kaffee eingoss. Ich glaube kaum, dass Miss Page zugegen war; sie steht nicht so früh auf - sie ist in letzter Zeit ziemlich „vornehm“ geworden.“

„Sollte es möglich sein, dass er so blind ist und nicht sieht, dass sein Sohn Frederick dieses Mädchen heiraten will?“ flüsterte Pastor Crane dem Polizisten ins Ohr.

Dieser zog als Antwort die Schultern in die Höhe. Mr. Sutherland war ein Mann, freundlich gegen Jedermann, aber desto unergründlicher.

05. Eine Spur im Grase.

Als der Untersuchungsrichter, gefolgt von Mr. Sutherland, aus der Türe trat, bot sich den beiden ein merkwürdiger Anblick dar. Miss Page stand noch immer unbeweglich auf derselben Stelle und schaute die Kommenden unverwandt an.

Als sie in ihrer Nähe waren, zog sie die rechte Hand aus dem Umhange hervor, deutete auf das Gras zu ihren Füßen und sagte ruhig:

„Sehen Sie dies?“

Die beiden Männer beeilten ihre Schritte, beugten sich nieder und betrachteten angelegentlich die bezeichnete Stelle.

„Was sehen Sie da?“ fragte Mr. Sutherland, der ohne Gläser in der Nähe nicht mehr gut sehen konnte.

„Blut“, entgegnete der Richter, einen Grashalm abpflückend und ihn genau betrachtend.

„Blut!“ wiederholte Miss Page, mit einem so bezeichnenden Blick, dass Mr. Sutherland sie verwirrt anschaute, eine Empfindung, die er sich nicht erklären konnte.

„Wie konnten Sie diese kaum sichtbaren Flecken bemerken?“ fragte der Richter.

„Kaum sichtbar? Es ist das einzige, was ich in dem ganzen Garten sehe!“

Und mit einer Verbeugung, die nicht ohne Spott war, ging sie dem Tore zu.

„Ein unbegreifliches Mädchen“, sagte der Untersuchungsrichter.

„Aber sie hat recht, was diese Flecken anbetrifft. Abel“, rief er den Mann an, der an der Türe stand, „bringen Sie eine leere Kiste oder ein Fass und decken Sie diese Stelle hier zu. Ich will nicht, dass Jemand das Gras hier zertritt.“

Abel ging, den Auftrag auszuführen und kam eben an das Tor, als Miss Page dies zu öffnen im Begriffe war.

„Wollen Sie mir, bitte, helfen“, sagte sie. „Ich kann nicht durch diese Menschenmenge kommen.“

„Nicht?“ rief eine Stimme von außen. „Gehen Sie heraus, während ich hineingehe und Sie finden einen Weg offen.“

Da sie die Stimme des Sprechers nicht erkannte, zögerte sie; doch da das Tor sich eben bewegte, presste sie gegen dasselbe und stand im nächsten Augenblicke dem Eintretenden gegenüber.

„Ah, Sie sind es“, murmelte der, sie durchdringend anschauend.

„Ich kenne Sie nicht!“ entgegnete sie naserümpfend und schlüpfte aus dem Tore, ehe er Zeit zum Erwidern fand. Er schnalzte mit den Fingern der rechten Hand und winkte lächelnd Abel zu, der erstaunt diesem Zwiegespräch zugehört hatte.

„Schmiegsam, wie ’ne Weide, he?“ sagte der Angekommene.

„Nun, ich habe schon oft Pfeifen aus Weiden geschnitten und - wie kommst Du zu dem?“, brach er plötzlich ab und deutete auf eine seltene Blume, die halb welk aus Abels Knopfloch hing.

„Das? Oh, ich hab sie im Haus gefunden; sie lag auf dem Boden, fast unter Batsys Röcken. Merkwürdige Blume, was? Wunder, woher sie sie hatte.“

Der Andere ward sofort äußerst erregt. Seine grünen Augen leuchteten sonderbar.

„War das, ehe die junge Hexe, die Du eben hinausgelassen hast, ins Haus kam?“ fragte er.

„Oh ja, ehe überhaupt Jemand auf den Hügel kam. Was soll die junge Dame mit einer Blume zu tun haben, die Batsy fallen ließ?“

„Sie? Nichts. Nur möchte ich Dir raten - und Du weißt, ich habe Dir noch immer gut geraten - nimm das Ding aus Deinem Knopfloch. Stecke die Blume in ein Kuvert und bewahre sie gut auf und wenn sie Dir nicht eines Tages abverlangt wird, um eine wichtige Rolle zu spielen, dann darfst Du mich einen Esel heißen und vergessen, dass wir Spielkameraden gewesen sind.“

Abel lächelte, nahm aber die Blume aus dem Knopfloch und schickte sich an, das Gras zu bedecken, wie Dr. Talbot ihm aufgetragen hatte.

Der Andere stellte sich ans Tor, dem der Untersuchungsrichter und Mr. Sutherland sich eben näherten und machte Miene, sie anzureden.

Es war der Musiker Sweetwater, den wir Mr. Sutherlands Haus betreten sahen, als der letzte der Diener es verlassen hatte.

„Dr. Talbot“, redete er den Untersuchungsrichter an, der nun vor ihm stand.

„Sie haben oft versprochen, mir zu erlauben, meine Fähigkeit als Detektiv zu beweisen, sobald sich einmal Gelegenheit hierzu böte. Denken Sie nicht, dass die Zeit hierzu nunmehr gekommen ist?“

„Ah, Sweetwater! Ich glaube, der Fall ist zu verwickelt für den ersten Versuch eines unerfahrenen Mannes. Ich muss jedenfalls einen Experten von Boston kommen lassen. Ein anderes Mal, Sweetwater, wenn die Komplikationen nicht so ernster Natur sind.“

Der junge Mann erblasste und wandte sich zum Gehen.

„Darf ich wenigstens hier herum bleiben?“ fragte er, mit bittender Gebärde.

„Gewiss. Fenton findet schon Arbeit - und für sechs andere“, setzte er hinzu. „Gehen Sie ins Haus und sagen Sie ihm, ich hätte Sie geschickt.“

„Besten Dank“, rief Sweetwater und sein betrübtes Gesicht klärte sich auf. „Jetzt werde ich zuerst ausfindig machen, wie die Blume ins Haus gekommen ist“, murmelte er.