Einer meiner Söhne

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Ja.

Aber in dieser Zustimmung lag ein eigentümliches Mißtrauen verborgen.

Die ohnehin peinliche Lage, worin ich mich in dem fremden Hause befand, wurde durch die kühle Abweisung des jungen Doktors nicht angenehmer. Ich sah mich nach dem Coroner um und bemerkte diesen in ernstem Gespräch mit dem alten Hatson, der zum Umfallen erschöpft zu sein schien. Im selben Augenblick hörte ich zwei Schlüssel rasseln; zwei Türen wurden gleichzeitig geschlossen. So war der Speisesaal gegen Unberufene geschützt; die Schlüssel wurden dem Coroner eingehändigt.

Fräulein Meredith, die in eins der anstoßenden Zimmer gebracht worden war, erholte sich langsam von ihrer Ohnmacht. Ich konnte dies dem Gesicht und der Haltung Alfreds ansehen, der in der offenen Tür jenes Zimmers stand und die Augen unverwandt auf ihr Gesicht geheftet hielt. Ich war mit dem jungen Doktor ganz allein in der Halle, und da dieser es vorzog, in seinem Schweigen zu verharren, so konnte ich vollkommen deutlich die Erzählung anhören, die der alte Diener dem Coroner vortrug.

Ich habe, sagte er, wie gewöhnlich bei Tische aufgewartet, Herr, und die Flasche, die Herrn Gillespie vorgesetzt wurde, habe ich mit meiner eigenen Hand entkorkt. Die jungen Herren haben mit dieser Flasche gar nichts zu tun gehabt; sie haben sie nicht mal angerührt, denn keiner von ihnen schien Lust zum Trinken zu haben. Herr George sagte, er hätte Kopfweh, und Herr Leighton – na, der rührt ja überhaupt keinen Portwein oder andere geistige Getränke an. Herr Alfred sagte nichts, er machte nur einfach 'ne abweisende Handbewegung, als ich das Glas präsentierte. So trank also der alte Herr allein. Er schien sich nicht recht glücklich zu fühlen, Herr, und darüber war Fräulein Meredith so aufgeregt. Es tat ihr immer weh, wenn Herr Gillespie mit ihren Vettern nicht zufrieden zu sein schien.

Und wo ist die Portweinflasche und das Glas, woraus Herr Gillespie bei Tische trank?

O Herr – Sie müssen mich entschuldigen – aber – aber – ich trank selber den Rest, der noch in der Flasche war. Er sagte oftmals, wenn er gerade gut aufgelegt war: »Die können Sie austrinken, Hatson!« Heute abend sagte er das allerdings nicht, aber ich erkühnte mich, an die anderen Male zu denken, wo er's gesagt hatte. Sie müssen wissen, ich bin seit zwanzig Jahren bei der Familie. Ich war ein junger Mann, als Herr Gillespie mich in seinen Dienst nahm, und in den langen Jahren hatten wir beide uns gegenseitig aneinander gewöhnt. Das Glas, Herr, das habe ich ausgewaschen – schon vor langer Zeit. Bis neun Uhr war er ja auch ganz gesund und munter.

Das heißt also, bis er das Glas Sherry getrunken hatte?

Jawohl.

Das Sie ihm ebenfalls brachten?

Nein, Herr. Ich nahm die Flasche aus dem Büffetschrank, und Herr Leighton ging damit nach der Hinterstube. Er klingelte nach mir vom Speisezimmer aus, und als ich heraufkam, verlangte er seines Vaters Sherryflasche, und ich gab sie ihm. Dann ging er wieder nach unten.

Und diese Flasche ist nicht gefunden worden?

Ich habe sie nicht mehr gesehen, Herr. Vielleicht hat ein anderer sie gesehen. Sie war nicht ganz voll. Herr Gillespie hatte bereits vorher ein paar Gläser daraus getrunken.

Sie haben mir noch nicht gesagt, woher Sie das Glas hatten, aus welchem Herr Gillespie den Sherry trank.

Ebenfalls aus dem Büffet. Es steht immer eine Anzahl Gläser unten im Schrank, Herr.

Holten Sie das Glas da heraus?

Wahrscheinlich, Herr.

Nahmen Sie das erste beste, das Ihnen in die Finger kam, und gaben Sie dieses Herrn Leighton?

Ich glaube, ja.

War das Zimmer hell oder dunkel? Konnten Sie klar und deutlich sehen, was Sie in die Hand kriegten, oder hatten Sie umherzutasten, um das Glas zu finden?

Soweit ich mich erinnere, war der Speisesaal nicht gerade allzu hell. Es brannte nur eine einzige Gasflamme, und das Zimmer ist groß. Aber ich sah die Gläser ziemlich deutlich. Ich weiß eben, wohin ich zu greifen habe, Herr!

Schön. Dann haben Sie wohl bemerkt, ob das von Ihnen herausgenommene Glas rein war oder nicht?

Die Gläser sind stets rein. Ich setze meine Brille auf, wenn ich sie ausspüle.

Der alte Diener schien ganz entrüstet zu sein.

Ja, ja – gewiß, bemerkte der Coroner. Sie müssen also eine Brille tragen?

Wenn ich die Gläser reinige! Jawohl, Herr!

Der Coroner stellte keine weiteren Fragen. Wahrscheinlich fürchtete er, diese könnten so aufgefaßt werden, als ob er einen bestimmten Verdacht der Schuld auf Leighton lenken wollte. Uebrigens hätte er auch keine Zeit mehr dazu gehabt, denn in diesem Augenblick erschien Fräulein Meredith auf der Schwelle des Zimmers, in welches man sie getragen hatte. Da stand sie und ließ einen heißen und unruhigen Blick, den Alfred vergebens auf sich zu lenken bemüht war, durch die Halle schweifen.

Claire! Wo ist Claire? fragte sie. Ich möchte sie zu Bett bringen.

Hier ist sie, sagte Leighton, aus dem Salon kommend. Das Kind lag fest schlafend an seiner Brust. Nimm sie, Hope, und gib acht, daß du sie nicht aufweckst. Bringe sie lieber so in ihren Kleidern zu Bett, daß sie nicht noch mal erschrickt.

Hope streckte ihre Arme aus. Ihr Aussehen beunruhigte mich aufs höchste, und auch der Doktor sagte:

Fräulein Meredith ist noch nicht imstande, das Kind die Treppe hinaufzutragen.

Aber die Kleine lag bereits an ihrem Busen, und Hope sagte, indem sie ihren Kopf zurückbog, damit Leighton sein Kind küssen könnte:

Ich kann sie tragen!

Wirklich? fragte Alfred.

Ganz gewiß! erwiderte sie und schlang krampfhaft ihre Arme um das Kind.

Laß mich mit dir gehen! bat er. Doch sein Auge begegnete dem des Coroners, und er setzte schnell hinzu: Das heißt, wenn du Hilfe nötig zu haben glaubst.

Dies war augenscheinlich nicht der Fall, denn im nächsten Augenblick sah ich ihre schwankende Gestalt allein die Treppe hinaufgehen. Von Georges Stirn war die finstere Wolke, die sich darauf zu bilden begonnen hatte, wieder verschwunden, und nur Alfreds Züge sahen verstört aus. Dann aber zog der Coroner die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich, indem er ernsten Tones zu den vor ihm stehenden drei jungen Leuten sagte:

Als Herrn Gillespies Söhne werden Sie gewiß die Notwendigkeit einsehen, daß ich sofort einen Versuch mache, Gewißheit über die Frage zu erlangen, wie und wann Ihr Vater das Gift zu sich nahm, das allem Anschein nach seinem wertvollen Leben, ein Ende gemacht hat.

Und als niemand antwortete, fuhr er ruhig fort:

Es fehlt eine Flasche; die Flasche Sherry, woraus er einige Zeit nach dem Abendessen ein Glas zu sich nahm. Wollen Sie mich ermächtigen, das Haus zu durchsuchen, bis ich diese Flasche gefunden habe? Es ist ja erst eine so kurze Zeit seitdem verstrichen; die Flasche muß noch zu erreichen sein.

Ich kann Ihnen sagen, wo sie ist, versetzte einer der Brüder. Ich bekam Durst auf ein Glas Wein. Es waren Freunde bei mir oben; darum ging ich hinunter und nahm die erste beste Flasche mit. Sie werden sie oben in meinem Zimmer finden. Wir haben alle davon getrunken; in dem Wein kann also kein Gift gewesen sein.

Es war George, der diese Worte sprach, und jetzt wurde mir klar, warum er vorhin mehreremal die Lippen bewegt hatte, um etwas zu sagen.

Der Coroner schien sich erleichtert zu fühlen; indessen machte er eine Bewegung, die in merkwürdiger Weise einem Wink glich, in der Richtung auf den Hintergrund der Halle zu. Dies wunderte mich, denn ich hatte geglaubt, daß die Halle menschenleer sei, seitdem die Dienerschaft hinausgeschickt war. Daß es ein Wink war, erschien mir zweifellos, obgleich er dabei ruhig sagte:

Sie und Ihre Freunde tranken davon? Sehr gut; das beseitigt einen Zweifel.

Er schwieg und wartete, wie es schien, auf einen Bescheid, den ein Mann, dessen Schritt wir jetzt in der Halle hörten, ihm bringen mußte.

Die Schritte näherten sich, und auf einmal kam von der Dienerschaftstreppe her ein junger Mann mit einer Flasche in der Hand. Offenbar war er allen Bewohnern des Hauses ebenso fremd, wie ich selber wenige Stunden zuvor. Ruhig nahm der Coroner ihm die Flasche ab, ruhig und ohne den geringsten Versuch, die Anwesenheit des in so dramatischer Weise von ihm plötzlich auf die Szene gebrachten Fremdlings zu entschuldigen oder auch nur zu erklären, hielt er sie George Gillespie hin und fragte:

Ist dies die Flasche, die Sie meinen?

Der junge Herr nickte bejahend.

Der Coroner hielt die Flasche gegen das Licht. Es waren nur noch ein paar Tropfen darin. Diese prüfte er mit Nase und Zunge. Dann sagte er:

Sie haben recht. Der Inhalt dieser Flasche ist allem Anschein nach rein. Damit gab er sie dem Mann zurück, der sie sofort hinwegtrug.

Leighton schien Lust zu haben, sich zu erkundigen, was das für ein fremder Mann sei. Aber er schwieg. Es schien auch kaum nötig zu sein. Die selbstbewußte Haltung des Mannes, der scharfe Blick, womit er uns alle musterte, dies alles sprach dafür, daß das längst Befürchtete eingetreten war: die Kunde von dem Ereignis war nach draußen gedrungen, und ein Geheimpolizist hatte das Haus betreten.

Der Coroner Frisbie bemerkte sehr wohl den peinlichen Eindruck, den der Anblick des unwillkommenen Eindringlings auf die stolzen drei Brüder machte; aber er kümmerte sich nicht darum und fuhr ruhig fort, an George die Fragen zu richten, die sich von selber aus seiner Aussage ergaben:

Sie waren also kurz vor Ihres Vaters Tod in dieser Etage – vielleicht sogar unmittelbar vor dem Augenblick, wo er den Trank zu sich nahm, der seinem Leben ein so unglückliches Ende setzte?

Ich war vor ungefähr einer Stunde in dieser Etage – jawohl, Herr Coroner!

 

Sahen Sie dabei Ihren Vater oder sonst jemand?

Nein. Um die Wahrheit zu gestehen – ich wollte mich nicht gerne sehen lassen. Es war noch ein bißchen früh am Abend, um in Gesellschaft Wein zu trinken. Deshalb nahm ich einfach die Flasche vom Büffet und ging damit auf mein Zimmer zurück.

Und die Gläser?

Oh – Gläser habe ich stets in genügender Menge in meinem Zimmer.

Der Coroner strich sich das Kinn. Offenbar fand er sich einem schwierigen Problem gegenüber.

Kein Gift in dieser Flasche, sagte er nachdenklich. Kein Gift in der Flasche, die der alte Hatson leertrank und ebensowenig – soweit wir in diesem Augenblick darüber urteilen können – in dem Chloralfläschchen, das wir auf dem Kaminsims des Arbeitszimmers fanden. Aber Ihr Vater ist an Blausäure gestorben! Kann nicht einer von Ihnen mir zu Hilfe kommen und angeben, wie das wohl zusammenhängen mag? Das könnte uns unnötige Mühen ersparen – und dem Hause vielleicht einigen Skandal.

Diesen Appell konnten Gillespies Söhne nicht gut unbeachtet lassen. Sie erbleichten alle drei unter dem forschenden Blick, womit der Coroner seine Worte begleitete, aber keiner von ihnen sprach, bis zuletzt das Schweigen unerträglich wurde. Endlich raffte Leighton sich gewaltsam auf und bemerkte:

Mein Vater war ein stolzer Mann. Wenn er beschloss ... wenn er beschlossen haben sollte, sich auf so traurige Weise seinen Sorgen zu entziehen, so hätte er es gewiß so eingerichtet, daß keine Spur zurückblieb, wodurch ein Makel auf unser Haus fallen konnte. Hätte er diesen Schritt getan, so würde er gehofft haben, daß man seinen plötzlichen Tod einer Nachwirkung seiner letzten Krankheit zuschriebe. Dies ist ohne Zweifel der Grund, weshalb Sie die Phiole, die das Gift enthielt, nicht aufzufinden vermögen.

Hm, hm. Ihr Vater hatte also Sorgen?

Die Antwort lautete überraschend:

Mein Vater hatte drei Söhne – und mit keinem von diesen konnte er ganz zufrieden sein. Ist das nicht wahr, George? Ist es nicht so, Alfred?

Die beiden Brüder wurden dunkelrot, wagten aber nicht zu widersprechen.

Du hast dich aber doch mit Vater immer ziemlich gut gestanden, sagte George schließlich in mürrischem Ton.

Ein Schatten überzog Leightons Gesicht, und er murmelte, indem er mit tieftrauriger Miene sich abseits wandte:

Ich kann nicht vergessen, daß wir eine Stunde vor seinem Tode einen Wortwechsel miteinander hatten.

Inzwischen war ich zu einem festen Entschluß gekommen. Ich trat von meinem Platz im Hintergrund der Halle, wo ich mit dem jungen Doktor gestanden hatte, auf die Gruppe zu und sagte ruhig aber fest:

Meine Herren, ich habe gewartet, um klar meine Pflicht ersehen zu können. Ich bin Ihnen ein Fremder – trotzdem aber habe ich Ursache zu glauben, daß der Schlüssel zu diesem Rätsel, das Ihres Vaters Tod umgibt, sich in meinen Händen befindet. Wollen Sie mir, ehe ich mich deutlicher ausspreche, erlauben, Ihnen eine einzige Frage zu stellen?

Die drei jungen Gillespies sahen mich überrascht an; nicht weniger erstaunt war auch der Coroner, der wahrscheinlich der Meinung gewesen war, schon beim ersten Verhör von mir alles erfahren zu haben, was ich selber wußte.

Die Frage, die ich an Sie zu richten wünsche, fuhr ich fort, wird Ihnen seltsam und einem so ernsten Anlaß nicht angemessen erscheinen. Aber ich bitte Sie, mir Ihr Vertrauen zu schenken und mir eine offene und unumwundene Antwort zu geben. Besaß Herr Gillespie schauspielerische Begabung? Hatte er ein gewisses mimisches Talent, oder, um mich ganz klar und deutlich auszudrücken: war er imstande, nach Belieben seinen Gesichtszügen einen bestimmten Ausdruck zu verleihen?

Meine Frage erregte Erstaunen, aber keinen Widerspruch.

Vater war ein talentvoller Mann, sagte Alfred halb ärgerlich. Ich habe Claire oft über seine Geschichten lachen hören, und sie sagte immer, es wäre, wie wenn er kleine Theaterstücke vor ihr spielte. Aber uns eine solche Frage bei so trauriger Veranlassung zu stellen – das ist eigentümlich, wenn nicht gar unpassend, Herr Cleveland!

Ich hatte Ihnen vorher gesagt, daß meine Frage Ihnen seltsam erscheinen würde, versetzte ich. Dann wandte ich mich an den Coroner und fuhr fort:

Herr Doktor Frisbie, ich muß um Ihre Nachsicht bitten. Als ich von Herrn Gillespies kleiner Enkelin gerufen, dieses Haus betrat, fand ich den alten Herrn nicht nur unter großen körperlichen, sondern unter ebenso großen seelischen Schmerzen leidend. Er wünschte – aber dieser Ausdruck ist viel zu schwach – er begehrte in höchster Erregung die Erfüllung eines Wunsches. Doch seine Zunge versagte ihm bereits den Dienst, und er konnte nicht sagen, worin diese Sehnsucht bestand. Endlich, nach mehreren vergeblichen Anstrengungen gelang es ihm, mir begreiflich zu machen, daß ich ihm ein Papier abnehmen sollte, welches er in seiner zusammengekrampften Hand hielt. Ich tat es, und er bedeutete mir, dieses bereits zusammengefaltete Papier in einen von den Briefumschlägen zu stecken, die auf dem Schreibtisch vor uns lagen. Ich sah keinen Grund, ihm seine Wünsche nicht zu erfüllen, und handelte demgemäß nach seinen Anweisungen. Darauf fragte ich ihn nach Namen und Adresse der Person, für die er diese Mitteilung bestimmte. Mittlerweile waren aber seine Kräfte soweit gesunken, daß er den Namen nicht mehr hervorbringen konnte. Er äußerte nur noch in abgerissenen Lauten: »Keinem ... keinem anderen Menschen ... nur ...« Er brachte den Satz nicht mehr zu Ende. Aber, meine Herren, während ich hier wartete, habe ich durch eigenes Nachdenken den Schluß des Satzes herausgefunden, den Ihr Vater zu sprechen beabsichtigte. Es lag ihm offenbar ungeheuer viel daran, daß der Brief nicht in die falschen Hände käme. Das konnte ich dem flehenden Ausdruck seines bereits vom Todeskampf verzerrten Gesichts ansehen. Deshalb habe ich den Brief bei mir behalten, habe kein Wort davon gesagt und ihn selbst seinen leiblichen Söhnen nicht ausgehändigt, obwohl diese an und für sich gewiß ein höheres Anrecht darauf besitzen als ich, der ich ja in diesem Hause ein Fremder bin. Aber seitdem ich Fräulein Meredith gesehen, und vor allem seitdem ich gehört habe, wie Sie sie mit dem Namen Hope Hoffnung. anredeten – seitdem habe ich die feste Ueberzeugung gewonnen, daß die letzte von Herrn Gillespies Hand herrührende schriftliche Mitteilung für sie bestimmt war. Denn als ich in meiner Ratlosigkeit in ihn drang, er möchte mir irgendein Zeichen machen, woraus ich schließen könnte, ob der Brief für seinen Arzt, seinen Anwalt oder für irgendeinen Angehörigen seines Hauses bestimmt wäre, – da richtete er sich empor, und sein Antlitz nahm einen eigentümlichen Ausdruck an, während er es nach oben richtete. Kurz, ich muß jetzt annehmen, daß er damit versuchen wollte, den Namen, den er nicht mehr aussprechen konnte, mimisch darzustellen. Meine Herren, ich habe Ihnen seine Haltung beschrieben. Auf welchen von den Ihnen geläufigen Namen paßt sie am besten?

Hope! antworteten alle gleichzeitig.

Das war auch meine Meinung.

Damit wandte ich mich an den Coroner Frisbie und setzte noch hinzu:

Ich habe gehört, daß die junge Dame ihres Onkels Vertraute gewesen ist. Wollen Sie mir erlauben, diesen Umschlag an Fräulein Meredith zu übergeben? Ich bin der festen Ueberzeugung, daß ich damit den von Herrn Gillespie erhaltenen letzten Auftrag erfülle.

Meinen Worten folgte ein Schweigen, das von keiner Bewegung unterbrochen wurde. Dann antwortete der Coroner nur:

Ja – wenn es in meiner Gegenwart geschieht.

Ich wandte mich wieder an die jungen Gillespies und sagte:

Ich bitte Sie, entschuldigen Sie mein Verhalten mit der Lage, worin ich mich befinde, und lassen Sie Fräulein Meredith holen. Ich fühle mich verpflichtet, den Brief in ihre Hände zu legen. Wenn ich damit Ihres Vaters letzten Wunsch falsch auslege, so handle ich wenigstens unter Ihren Augen und aus Beweggründen, die nicht falsch gedeutet werden können. Ich kenne ja Ihre Familie nicht näher und weiß daher niemanden, der ein näheres Anrecht auf den Empfang des Briefes hätte als Fräulein Meredith. Oder wissen Sie jemanden?

Niemand versuchte mir etwas zu entgegnen.

Doktor Bennett war bereits hinaufgegangen, um Hope Meredith herbeizuholen.

Sechstes Kapitel.

Während wir auf die junge Dame warteten, prüfte ich die drei Gillespies mit kritischerem Blick, als es mir bisher möglich gewesen war. Das Ergebnis war folgendes: George erschien mir als der aufrichtigste, Leighton als der geistig bedeutendste, Alfred als der unruhigste, der in Liebe und Haß unberechenbar war. Sie waren alle aufgeregt und fühlten sich augenblicklich tief gedemütigt; aber wenn sie auch die gleichen Gefühle hatten, so brachte dies sie äußerlich nicht einander näher; im Gegenteil, jeder schien sich mit seinen eigenen Gedanken zu beschäftigen und von den Brüdern fernzuhalten. Eine längere Beobachtung brachte mich zu dem Urteil, daß Leighton wohl ein interessanter Charakter sein möchte, um so interessanter vielleicht, als er nicht leicht zu ergründen wäre. Alfred mußte stark in seiner Liebe, aber auch gefährlich in seinem Haß sein. Und George war offenbar ein herzensguter Junge, wenn man seinen Rechten nicht zu nahe trat und seine Gemütlichkeit nicht mißbrauchte. Von mir schienen sie alle drei kaum Notiz zu nehmen. Ich war für sie einfach ein Bindeglied zwischen ihrem toten Vater und dem Brief, den ich Fräulein Meredith zu übergeben hatte.

Der Coroner war sichtlich aufgeregt, aber wohl nur in der gespannten Erwartung des Erscheinens der Dame und der Verlesung des Briefes, der wir alle entgegensahen.

Fräulein Meredith kam früher, als wir erwartet hatten. Als ihre leichten Schritte sich auf der Treppe vernehmen ließen, ging mit uns allen eine Wandlung vor. Zusammengesunkene Gestalten richteten sich auf, gefurchte Stirnen glätteten sich. Nur Leighton blieb sich völlig gleich, und daher kam es wohl, daß ihm ihr erster ängstlicher Blick galt, als ihr bewußt wurde, daß der Coroner sie in einer ganz bestimmten Absicht zu sich entboten hatte.

Ich begreife nicht, was man heute nacht noch von mir wissen will, sagte sie, und ihre Stimme klang vor Aufregung so gepreßt, daß sie kaum verständlich war. Ich bin kaum imstande zu sprechen. Aber der Doktor sagte, ich müßte herunterkommen. Warum konnte man mich nicht bei Claire oben lassen?

Das ging nicht an, liebe Hope. Der Herr hier, der, wie du weißt, unserem Vater in seinen letzten Augenblicken beistand, sagt, er habe einen Brief oder eine Mitteilung, die von dem Sterbenden ganz gewiß nur für dich bestimmt worden sei. Hältst du es für wahrscheinlich, daß mein Vater etwas Derartiges für dich hinterlassen haben kann? Siehst du einen Grund, weshalb seine letzten Gedanken nicht seinen Söhnen, sondern dir könnten gegolten haben? Antworte – wir werden uns nicht wundern, wenn du ja sagst.

Sie hatte versucht, sich aufrecht zu erhalten, ohne den von Leighton ihr angebotenen Arm anzunehmen. Aber sie hatte ihre Kräfte überschätzt. Sie mußte sich an ihn anklammern; dann wandte sie sich mit ängstlichem Gesicht zu uns und sagte in kaum hörbarem Flüsterton:

Es ist möglich. Ich habe ihm in letzter Zeit viel bei seinen Schreibereien geholfen. Muß ich den Brief hier lesen?

In ihrer Frage und besonders in deren Betonung lag eine Bitte, beinahe ein Flehen. Aber dies rührte den Coroner nicht, obgleich er offenbar dem Mädchen freundlich gesinnt war. In kurzem, beinahe schroffem Ton antwortete er mit einem befehlenden:

Ja, Fräulein – hier!

Sie hatte diese Antwort wohl nicht erwartet. Flehend wanderten ihre Augen von einem zum anderen, bis sie endlich wieder auf des Coroners Gesicht hafteten.

Ich kann nicht! rief sie aus. Schonen Sie meiner! Ich glaube, ich bin nicht bei voller Besinnung. Alles dreht sich vor meinen Augen – ich kann nicht sehen – erlauben Sie, daß ich den Brief dort im Hellen lese – ich bin ein nervöses, schwaches Mädchen.

Sie hatte Leighton losgelassen und war abseits getreten. Den verschlossenen Briefumschlag hielt sie in ihrer zitternden Hand, ihre Augen wanderten von George zu Alfred und schienen um Beistand zu flehen, den doch die jungen Leute ihr nicht gewähren konnten.

Ich sollte doch wohl eigentlich das Recht haben, die letzten Worte eines so heiß geliebten Verwandten zu lesen, ohne dabei von den Augen von – Fremden beobachtet zu werden, erklärte sie endlich mit einem nur schwach gelungenen Versuch, eine hochfahrende Miene anzunehmen.

War diese Spitze für mich bestimmt? Ich glaubte es nicht, doch konnte ich nicht gut anders, als mich zurückziehen, und ich hatte beinahe die Tür erreicht, als ich den Coroner sagen hörte:

 

Wenn die Worte, die Sie finden werden, sich nur auf Ihre eigenen Angelegenheiten beziehen, Fräulein Meredith, so können Sie sie für sich behalten. Wenn Sie aber in irgend einer Weise mit den Interessen des Schreibers in Verbindung stehen, so werden Sie selbst den Wunsch hegen, seine Worte laut zu lesen, denn die Art und Veranlassung seines Todes sind ein Geheimnis, dessen unverzügliche Aufklärung Ihnen ebenso nahe am Herzen liegen muß wie den übrigen Gliedern des Hauses Gillespie.

Oeffnen Sie ihn! rief sie plötzlich, und damit drückte sie dem Arzt, der sich inzwischen ebenfalls wieder eingefunden hatte, den Brief in die Hand. Und möge Gott ...

Sie vollendete ihren Ausruf nicht. Allen Anwesenden den Rücken zukehrend, wartete sie, daß Doktor Bennett den geheimnisvollen Brief vorlese.

Es war mir unmöglich, in einem so kritischen Augenblick fortzugehen. Meine Blicke hingen an dem Arzte; ich sah ihn das von mir so sorgfältig verschlossene Papier aus dem Umschlag hervorziehen. Er sah es an, drehte es um, sah es wieder an und machte dabei ein so maßlos erstauntes Gesicht, daß wir alle in die höchste Aufregung gerieten und uns um ihn herumdrängten, um Aufklärung von ihm zu erhalten.

Diese Aufklärung war einfach genug.

Das Papier, das mir so viele Gewissensschmerzen verursacht, das das junge Mädchen nicht hatte lesen wollen, wie wenn etwas unaussprechlich Furchtbares dahinter lauerte – es war vollkommen leer.

Nicht der geringste Schriftzug stand auf der glatten weißen Oberfläche dieses Papieres.

Siebtes Kapitel.

Das ist überraschend! Verstehen Sie es, Fräulein Meredith? Kein einziges Wort steht darauf – das Blatt ist vollständig leer! rief der Arzt aus.

Sie drehte sich um, starrte dem alten Doktor ins Gesicht und brach in ein krampfhaftes Lachen aus.

Leer, sagen Sie? Wie viele Umstände um ein Nichts! Kein Wort, kein einziges Wort? Bitte, lassen Sie mich sehen! Ich glaubte ganz bestimmt, es würde ein letzter Auftrag für mich darin stehen!

Wie seltsam war ihr Benehmen verändert! Einen Augenblick zuvor stand sie als ein zu Tode geängstigtes Weib vor uns, das kaum sprechen konnte – jetzt ließ sie mit einer fieberhaften Hast ihre Worte hervorsprudeln. Sie war nicht wieder zu erkennen. Der Coroner bemerkte nichts von der Erleichterung, die sie zweifelsohne in ihrem Gemüt empfand, oder er tat jedenfalls so, als sähe er nichts, und reichte ihr stillschweigend den Papierstreifen hin. Die drei Brüder waren beiseite getreten und besprachen sich im Flüstertone; es war während meiner Anwesenheit in diesem Hause das erstemal, daß ich sie vertraulich zusammen sprechen sah. Ich selber wußte nicht recht, wie ich mich weiter verhalten sollte. Meine Lage war nur noch peinlicher geworden; man konnte von mir denken, ich hätte gewußt, daß auf dem Papier nichts geschrieben stand; und in welches Licht mußte mich eine solche Mutmaßung setzen! Ich bat die drei Gillespies und das junge Mädchen um Verzeihung; Meredith schüttelte aber nur ungläubig den Kopf und ließ das Papier auf den Fußboden fallen. Ich stammelte einige Worte, um mein Verhalten zu erklären.

Ganz gewiß, sagte ich, werden Sie keine große Meinung von meiner Intelligenz haben; Sie werden vielleicht sogar bezweifeln, daß mich nur der ernstliche Wunsch leitete, mich Ihnen nützlich zu erweisen. Ich schloß aus Herrn Gillespies Bewegungen und besonders aus seinem Mienenspiel, womit er sie begleitete, daß er mir eine Mitteilung von nicht geringer Bedeutung anvertraut habe, und daß diese Mitteilung für Fräulein Meredith bestimmt sei.

Zu meinem Bedauern achtete niemand von den Hauptbeteiligten auf meine Erklärung. Das Mädchen war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, da sie kaum ihre Freude über die neue Wendung der Dinge verbergen konnte; die jungen Gillespies aber bemühten sich offenbar mit der Beantwortung der für sie so wichtigen Frage, ob ihre Lage sich verbessert habe. Es war ein leeres Blatt Papier zum Vorschein gekommen, während ein jeder erwartet hatte, daß der rätselhafte Brief nicht nur Worte, sondern sogar sehr wichtige Worte enthalten würde. Welche Bedeutung konnte dies für die unter dem Verdacht eines so furchtbaren Verbrechens Stehenden haben? An ihrer Stelle nahm Doktor Bennett das Wort und sagte noch:

Niemand kann an Ihren guten Absichten zweifeln, Herr Cleveland. Fräulein Meredith wird die erste sein, dies anzuerkennen, sobald sie nur erst wieder ganz zu sich selbst gekommen ist. Sie haben Ihren Auftrag so erfüllt, wie Ihr Gewissen es Ihnen befahl. Daß Sie nicht alle Ihre Hoffnungen verwirklicht sehen, dafür können Sie nichts. Als Rechtskundiger werden Sie die Sache beurteilen, wie sie ist, und als Mensch werden Sie entschuldigen, daß die unerwartete Wendung auf die Angehörigen des Ermordeten, wie es scheint, einen übertriebenen Eindruck gemacht hat.

In diesen Worten, so freundlich sie waren, lag doch zugleich auch ein deutlicher Wink, daß ich nunmehr gehen könnte. Ich verstand ihn natürlich und ging – oder vielmehr, ich wäre gegangen, wenn nicht Fräulein Meredith, deren Aufmerksamkeit durch das Wort »Rechtskundiger« erregt sein mußte, mir einen Blick zugeworfen hätte, der mich veranlaßte, sofort wieder stehen zu bleiben.

Halt! rief sie. Ich möchte mit dem jungen Herrn sprechen. Lassen Sie ihn noch nicht gehen!

Mit diesen Worten trat sie an mich heran und sah mir mit einem weiblich-verschämten und doch zugleich vertrauensvollen Blick ins Gesicht.

Her zu uns, Hope! hörte ich Leighton mit gebieterischer Stimme sagen.

Eine dunkle Röte überflog das Gesicht des jungen Mädchens; offenbar wurde es ihr schwer, der Aufforderung eines so nahen Verwandten nicht zu entsprechen. Aber sie blieb vor mir stehen und sprach:

Ich brauche einen Freund – jemanden, der mir bei einer Aufgabe, deren Erfüllung ohne fremde Hilfe vielleicht zu schwer sein würde, zur Seite stehen will. An meine Vettern kann ich mich um diese Hilfe nicht wenden. Sie stehen in zu naher Beziehung zu den Sorgen, die das traurige Ereignis über uns alle gebracht hat. Auch wird es mir leichter, mich an einen Fremden zu wenden – an jemanden, der kein persönliches Interesse an mir nimmt, wie es Doktor Bennett tun würde; an einen Rechtskundigen – denn gerade einen solchen habe ich vielleicht nötig. Wollen Sie mir also mit Ihrem Rat zur Seite stehen, mein Herr? Ich würde wohl nicht leicht einen anderen finden, der so aufrichtig denkt und handelt, wie Sie es augenscheinlich tun!

Hope! Hope!

Die Stimme klang noch gebieterischer als vorhin; Leighton tat sogar einen Schritt auf sie zu. Sie schwankte augenscheinlich; dann aber fuhr sie flüsternd, doch in festem Tone fort:

Sie werden nicht gehen, bevor ich noch einmal mit Ihnen gesprochen habe – Sie werden nicht gehen!

Nein, ich bleibe! antwortete ich, und damit legte ich meinen Hut wieder weg, den ich bereits in die Hand genommen hatte.

Im nächsten Augenblick bemerkten wir beide, warum sie in so befehlshaberischer Weise zurückgerufen worden war.

In der Gruppe der Herren war eine Veränderung vorgegangen. An der Stelle, wo soeben noch der Coroner gestanden war, sahen wir einen älteren Herrn, dem eine große Welterfahrung an jedem Zuge seines verwitterten, aber nicht unfreundlichen Gesichtes anzusehen war. Er hielt ein halbes Dutzend Briefbogen in der Hand und machte Fräulein Meredith eine Verbeugung; dann sah er sie mit einem ermutigenden Lächeln an und sagte:

Mein Name ist Gryce Sprich Grais. Fräulein, Detektiv Gryce. Bitte um Entschuldigung, daß ich Sie belästigen muß; legen Sie nicht zu viel Gewicht auf meine Anwesenheit hier! Ich muß nur ein paar Fragen stellen, da der Herr Coroner soeben an den Fernsprecher gerufen wurde. Ich bedarf einiger Aufklärungen, die ich zum Teil von Ihnen erhalten kann. Wie ich höre, machten Sie gewöhnlich für Ihren Oheim die Schreibmaschinenarbeiten?