Anhäufen, forschen, erhalten

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Sammlungspraxis: anhäufen, forschen, erhalten

Um das heterogene Quellenmaterial, die Protokolle, Berichte, Inventare, Räume, Dinge und so weiter, in Text zu verwandeln und damit zu einer Geschichte zu machen, bietet sich eine qualitative Analyse an. Der grosse Untersuchungszeitraum – mehr als ein Jahrhundert Sammlungstätigkeit – verlangt nach punktuellen statt flächendeckenden Detailstudien.114 Sie bilden die Basis für eine Erzählung, welche die grossen Linien der Sammlungsgeschichte herausarbeitet. In einem induktiven Verfahren, ausgehend von der analytisch-deskriptiven Erschliessung der Quellen, habe ich drei Leitbegriffe entwickelt, welche die Geschichte thematisch und chronologisch strukturieren: Entlang der drei Begriffe anhäufen, forschen, erhalten gliedere ich die Arbeit in drei Kapitel. Als Klammerbegriffe der Kapitel zeigen die drei verschiedenen Verben, dass die Schwerpunkte in der Sammlungspraxis des Schweizerischen Nationalmuseums sich während des 20. Jahrhunderts wesentlich veränderten und dass aus der Untersuchung der Praktiken nicht eine übergreifende Erzählung resultiert. Anhäufen steht für die 1900er- bis 1920er-Jahre, forschen umfasst die anschliessende Zeitspanne bis in die 1960er-Jahre, während erhalten die 1970er- bis 2000er-Jahre betrifft. Die Begriffe funktionieren als thematische Rahmen, wobei bisweilen die Erzählbogen auch in andere Jahrzehnte gespannt werden. Sie markieren die jeweils wichtigsten Sammlungspraktiken eines bestimmten Zeitraums, was nicht bedeutet, dass damals nicht auch andere Praktiken ausgeübt wurden. Nur standen sie nicht derart im Zentrum.


Abb. 5: Katalogbüro nach dem Umbau mit K. Jaggi und A. Siegrist-Ronzani, Schweizerisches Landesmuseum, Raum 421, 1995, SNM Dig. 28836. Der Raum sah praktisch gleich aus zur Zeit der Recherche.

Susan M.Pearce unterteilt die europäische Sammlungsgeschichte in zwei Phasen. Sie spricht von zwei aufeinander folgenden Wissenspraktiken: das «Classic Modernist Collecting» als die Zeit der Ordnung des Wissens und das «Collecting in a post-modernist world» als die Zeit der Kritik am Wahrheitsanspruch dieser Ordnungen und der Beschäftigung mit ihrer sozialen Konstruktion und ihren Wertungen.115 Für die Sammlungsgeschichte des Schweizerischen Landesmuseums trifft diese Periodisierung nicht zu, hier muss von drei Phasen gesprochen werden. Wie ich zeigen werde, gab es innerhalb der Zeitspanne «Moderne» eine weitere wesentliche Praxisänderung.116

Jeder Zeitraum (1900er- bis 1920er-Jahre, 1930er- bis 1960er-Jahre, 1970er- bis 2000er-Jahre) war geprägt von verschiedenartigen Tätigkeiten, die nebeneinander oder alternierend stattfanden und mehr oder weniger eng miteinander verbunden waren. Es gab innerhalb der Zeitspannen «robuste»117 Konstellationen und Beständigkeiten wie auch temporäre Problematisierungen, Brüche und Umbrüche in der Sammlungsgeschichte.118 Insgesamt lassen sich aber die verschiedenen Tätigkeiten in einen jeweils eigenen grösseren Praxiszusammenhang einordnen. Das wollen die drei Leitbegriffe markieren. Als Eckpunkte des gesamten Untersuchungszeitraums sind die Jahre 1899 und 2007 gesetzt. Die Zahlen sind jedoch als Richtdaten zu lesen; sie markieren weder einen zeitgenauen Beginn noch ein präzises Ende der Sammlungstätigkeit.119 1899 steht stellvertretend für den Zeitraum «nach der Eröffnung» (im Sommer 1898) des Schweizerischen Nationalmuseums. 2007 steht für die Zeit der letzten grundlegenden Umstrukturierungen und Neugewichtungen in der Sammlungstätigkeit am Schweizerischen Nationalmuseum. Damals wurde das Sammlungszentrum des Museums in Affoltern am Albis eröffnet und damit erstmals ein gemeinsamer Ort für die Lagerung, Restaurierung, Konservierung und Konservierungsforschung der Sammlung geschaffen.

Die drei Kapitel beginnen jeweils mit der Erzählung über ein Ereignis, ein Dokument oder ein Sammlungsstück, das für die jeweilige Praxis exemplarisch ist. Ausgehend davon werden dann die verschiedenen Aspekte der Tätigkeiten ausgelotet und zueinander in Beziehung gesetzt.

Im Kapitel «Anhäufen» wird es um die Bedeutung der Objektmenge und den Umgang mit ihr in der Sammlungspraxis gehen. Die Erzählung setzt in den 1910er-Jahren ein, als die wachsende Sammlung im Schweizerischen Landesmuseum zum drängenden Problem wurde. Es war augenfällig zu wenig Platz für die Sammlung vorhanden. Daran entzündete sich unter den Vertretern der Politik und des Landesmuseums zum ersten Mal seit der Gründung des Museums eine heftige Debatte über Sinn und Zweck des Museums, und die Praktiken und Ziele des Sammelns am Nationalmuseum wurden grundsätzlich überdacht. Sollte das wichtigste Bestreben sein, möglichst viele Objekte zu erwerben? Noch während darüber diskutiert wurde, veränderte sich parallel dazu unter dem Druck der Menge die alltägliche Sammlungsarbeit; Sammlungsstücke wurden verkauft und weggegeben. Schliesslich wurde Ende der 1920er-Jahre entschieden, die Objekteingänge durch ein neues Auswahlverfahren zu drosseln. Die Entscheidung blieb in den folgenden Jahrzehnten verbindlich, und die Zeit des Anhäufens war vorbei.

Das darauffolgende Kapitel trägt den Titel «Forschen». Ende der 1930er-Jahre setzten am Schweizerischen Landesmuseum verschiedene Forschungstätigkeiten ein. Das neue Wissensbedürfnis war Ausdruck einer Unsicherheit und einer notwendigen Neuorientierung, die mit dem kulturellen und wirtschaftlichen Umbruch zu tun hatte, der das Museumswesen betraf. Der Kunstmarkt professionalisierte sich; neue Akteure traten auf, was das Bedürfnis bei der Museumsdirektion weckte, mehr über die Herkunft der Dinge zu erfahren, die in die Objektsammlung kamen, und dieses Wissen zu dokumentieren. Die Museumsangestellten zweifelten daran, dass ihre Forschungsbemühungen und kunstwissenschaftlichen Expertisen im neuen Marktumfeld genügen würden, um qualitativ wertvolle Objekte zu erkennen und zu erwerben. Hilfe versprachen sie sich von chemischen und physikalischen Verfahren, die eine neue Art der Materialanalyse möglich machten. Zu den kunsthistorischen Forschungsaktivitäten am Landesmuseum kamen nach dem Zweiten Weltkrieg naturwissenschaftliche hinzu, entsprechende Werkstätten, Ateliers und Labors wurden eingerichtet. Die neuen Forschungspraktiken am Schweizerischen Landesmuseum waren aber auch der Versuch, eine neue Legitimation für den staatlichen Museumsbetrieb zu finden. Das Landesmuseum erhielt Konkurrenz im Kulturgütererhalt durch die zahlreichen Gründungen von Regionalmuseen und die lokalen Bestrebungen des Heimatschutzes und der Denkmalpflege, und es stellte sich die Frage, ob ein staatliches Museum noch nötig war. Die Vertreter des Landesmuseums versuchten deswegen, in einem anderen Bereich national unentbehrlich zu werden und ihr Haus als führendes Forschungszentrum für Konservierungs- und Restaurierungsfragen zu etablieren.

«Erhalten» ist der Leitbegriff des anschliessenden Kapitels. Es geht darin sowohl um das Erhalten der Materialität der Sammlungsstücke in den 1960er-Jahren und in den 2000er-Jahren als auch um das dynamische Erhalten von historischem Wissen über die Objekte, das in den Jahrzehnten dazwischen, in den 1970er- bis 1990er-Jahren wichtig wurde.120 In den 1960er-Jahren hatten sich die Mitarbeitenden des Museums hauptsächlich um den Erhalt der Materialität der Objekte gekümmert. Sie versuchten, die klimatischen Bedingungen in den Ausstellungs- und Aufbewahrungsräumen für die Sammlungsstücke zu optimieren und die Objekte mit Konservierungsmitteln so zu behandeln, dass ihr Alterungsprozess verlangsamt wurde. Ab den 1970er-Jahren kam es zu einer grundlegenden Neuausrichtung der Erhaltungspraxis: Nicht mehr die Materialität eines Objekts sollte erhalten werden, sondern historisches Wissen. Der Erhalt von Wissen bedeutete, es zu vermitteln, weiterzugeben und zu teilen. Statt der Konservierungsmittel wurde die Wissensvermittlung relevant. Als wichtigstes Vermittlungsformat des Museums wurden die Ausstellungen angesehen. In den folgenden Jahrzehnten galten alle Anstrengungen der Ausstellungstätigkeit, während die übrigen Praktiken (Erwerben, Inventarisieren und Konservieren), die jahrzehntelang derart wichtig waren, zweitrangig wurden. Erst Anfang der 2000er-Jahre wurde der Materialitätserhalt wieder bedeutsamer, jedoch nicht in gleicher Art und Weise wie in den 1960er-Jahren.

Zum Schluss fasse ich meine Arbeit zusammen anhand der Sammlungspraktiken rund um die Postkutsche, und auch die «Weisse Masse in Glasbehälter» wird nochmals in Erscheinung treten.

Anhäufen

Platzprobleme um 1910

1908, zehn Jahre nach der Eröffnung des Schweizerischen Landesmuseums, befanden sich schätzungsweise 40 000 Objekte in seiner Sammlung.1 Was war in den ersten Jahrzehnten gesammelt worden? Einen repräsentativen Eindruck davon gibt der Auszug aus einer Liste der Geschenke und Ankäufe von 1909. Solche Listen wurden in den Jahresberichten des Museums publiziert (Abb. 6).2

Die Listen beginnen üblicherweise mit den Schenkungen, gefolgt von den Ankäufen und den «[a]nderweitige[n] Vermehrungen der Sammlungen».3 Die erworbenen Objekte stammen aus dem Zeitraum der Ur- und Frühgeschichte bis zum 19. Jahrhundert. Die Sammlungsstücke wurden im Handel, auf Auktionen und direkt von Privatpersonen erworben. Mehrheitlich stammten sie aus den Haushalten der städtischen und ländlichen Oberschicht des Kantons Zürich.4 Auch die zahlreichen Gegenständen, die dem Museum ab dem Eröffnungsdatum geschenkt oder in Form von Legaten vermacht wurden, stammten viele aus Zürich.5 Zur Erwerbung von ur- und frühgeschichtlichen Objekten wurden auch museumseigene Ausgrabungen durchgeführt.6

 

Die Objekteingänge entsprachen nicht vollumfänglich den Wunschvorstellungen der Museumsbehörden. Manche begehrte Stücke waren auf dem Markt nur schwer erhältlich (etwa gotische Möbel).7 Andere wurden dem Museum ungewollt zum Geschenk gemacht. Sie abzulehnen, fiel dem Museumsdirektor, Heinrich Angst, schwer. Er nehme auch «unbedeutende Geschenke» an, meinte Angst, weil er die Sympathien der Leute für die Institution nicht schmälern wolle.8 Grundstock der Sammlung waren die seit 1884 staatlich erworbenen Stücke und die Sammlungsbestände der Stadt Zürich. Als künftiger Sitz des neuen Museums hatte die Stadt Zürich sich verpflichtet, diesem ihre Sammlungen zu überlassen.9 Mit Baubeginn (1892) begannen die neu ernannte Landesmuseumskommission und der Museumsdirektor mit der Erwerbung weiterer Objekte.10 Erstaunlicherweise existierte aber überhaupt kein präzises Sammlungsprogramm, das Auskunft darüber gegeben hätte, welche Objektarten die Sammlung des Schweizerischen Landesmuseums enthalten sollte. Lediglich eine allgemeine Formel im Bundesbeschluss von 1890 bot Orientierung:

«GESCHENKE: Herr Dr. Hans Frey, Seminarlehrer in Küsnacht: Spiritusapparat für ein chemisches Laboratorium, um 1860. Herr H. Furrer-Fleckenstein in Zürich: Blechsschachtel [sic!] und zwei Tabakspfeifen mit Wappen Orelli, um 1850. […] Herr Robert Gast in Zürich III: Messingener Fingerring, ausgegraben. Frau Stadtrat Landolt-Mousson in Zürich: Drei Paar Seidenstrümpfe, Anfangs des 19. Jahrhunderts. […]11

Ankäufe: Vorgeschichtliche, römische und frühmittelalterliche Gegenstände[:] Drei Steinbeile, Lanzenspitze von Feuerstein, zwei Messer, Spachtel und Plättchen von Hirschhorn, Rest eines Holzgerätes, Gefässcherben [sic!] mit Verzierungen, Gefässhenkel, eine Dolchklinge von stark kupferhaltiger Bronze und eine solche von fast reinem Kupfer; Ergebnis der Ausgrabungen der Pfahlbaues Obermeilen. […] MITTELALTER (BIS ZUM JAHRE 1500)[:] Holzfiguren: Christus am Kreuz in langärmeligem Gewande 13. Jahrhundert, aus der Umgebung von Uznach. – Christus am Kreuz, mit langem Lendentuch, 14. Jahrhundert, aus dem Gasterland. – Johannes Evangelist, Ende des 15. Jahrhunderts, von Büttikon, Kt. Aargau. […] 16. JAHRHUNDERT[:] Truhe von Arvenholz mit flachgeschnitztem Rankenwerk, 1589; Graubunden [sic!]. – Bemaltes Kästchen von Buchenholz mit Darstellung der zwei Botschafter aus Kanaan, Mitte des 16. Jahrhunderts, Kanton Luzern. Glasgemälde, Allianzscheibe des Jost Schmid (von Uri) und Vemia von Erlach 1545. […] Schweizerdolch in kupfervergoldeter Scheide mit Darstellungen aus der Geschichte Simsons. […] 17. JAHRHUNDERT[:] Tisch von Nussbaumholz mit drehbaren Seitenträgern; aus Bremgarten. – Geschnitzte Truhe von Nussbaumholz, datiert 1630; italienische Arbeit aus dem Kanton Uri. – Geschnitzter Lehnstuhl mit gestickten Polsterüberzügen und Blumen- und Früchtemuster. […] 18. JAHRHUNDERT[:] Silberne Schildfigur vom Landvogteistabe Neunkirch, 1764, Kt. Schaffhausen. – 16 Garnituren und Teile solcher von Silberfiligran von Freiämter Midern – 13 Bügeleisen mit durchbrochenen und gravierten Messingmänteln, Kt. Neuchâtel. – Zwei Messingpetschafte und ein bronzener Siegelring aus dem Kanton Zürich – Bauernfingerring. […] 19. JAHRHUNDERT[:] Ölgemälde, Brustbild des Hauptmanns Joh. Müller im Ersten französischen Schweizergarde-Regiment um 1817, und sieben Aktenstücke und Militärzeugnisse für den genannten Offizier, 1810–1826. – Bonbonnière von Schildkrot mit Miniaturbild einer Dame in Empirekostüm, angeblich ein Fräulein Escher von Luchs. […]»12

Abb. 6: Jahresbericht zuhanden des Departements des Innern der Schweizerischen Eidgenossenschaft, erstattet im Namen der Eidgenössischen Kommission für das Landesmuseum und der Direktion, 1909, Abschrift verschiedener Auszüge aus S. 28–39, Retro.Seals.

«[Das Landesmuseum] ist bestimmt, bedeutsame vaterländische Alterthümer geschichtlicher und kunstgewerblicher Natur aufzunehmen und planmässig geordnet aufzubewahren.»13

Unter den Sammlungsverantwortlichen herrschte Konsens darüber, was unter «vaterländisch» zu verstehen war. Sie qualifizierten damit alle Objekte, die innerhalb des staatlichen Grenzverlaufs der Schweiz (Ende des 19. Jahrhunderts) hergestellt worden waren, wie auch Objektgruppen, die in engerem Bezug zu den Landesbewohnerinnen und -bewohnern standen, beispielsweise die Uniformen von schweizerischen Söldnern oder ausländische Porzellan- und Fayencenstücke, die in zahlreichen Haushaltungen in der Schweiz in Gebrauch waren.14 – Was ein «bedeutsames» Objekt sei, darüber sollte es Anfang des 20. Jahrhunderts noch zum Streit kommen.

Die Botschaft des Bundesrats von 1889 enthielt zusätzlich noch die Angabe zum Zeitraum, aus dem die Objekte stammen sollten, und zwar «von vorgeschichtlicher Zeit bis zum Ende des 18. Jahrhunderts».15 Auf diese Zeitspanne rekurrierten die Sammlungsverantwortlichen später immer wieder. Gleichzeitig unterliefen sie sie aber auch ständig. Bereits 1892 wurde beschlossen, «schweizerisch[e] Uniformen des In- und Auslandes […], ausnahmsweise auch des 19. Jahrhunderts»16 zu sammeln, mit der Begründung, es sei sehr schwierig, gut erhaltene Stücke aus früheren Jahrhunderten zu bekommen.17 Unter den Geschenken befanden sich ebenfalls zahlreiche Objekte des 19. Jahrhunderts, wie die obige Liste illustriert.

Die Museumsbehörden bauten den Grundstock der Sammlung aus und erwarben, was ihrer Meinung nach in «künstlerischer, historischer oder dekorativer Hinsicht begehrenswert»18 war. Zusätzlich sammelten sie in den ersten Jahren auch Objekte, denen sie keinen künstlerischen oder geschichtlichen Wert zusprachen, die sie aber als wertvolle Zeugen der Alltagskultur (insbesondere der ländlich-bäuerlichen) beurteilten: sogenannter Bauernschmuck, Haushaltgeräte, Militäruniformen und so weiter. Diese Objekte figurierten unter dem Begriff «kulturhistorische Altertümer».19 In Zusammenhang mit der räumlichen Ausgestaltung des Museumsgebäudes kamen als weitere besondere Objektgruppe die «dekorative[n] Einrichtungsgegenstände»20 und «bauliche[n] Altertümer»21 hinzu: Kamine, Flachschnitzereien, geschnitzte Balken, Türen und so weiter.22 Sie waren als verbindendes Element zwischen Sammlungsstücken und Museumsarchitektur gedacht. Gemäss dem ersten Museumsdirektor, Heinrich Angst, sollten sie nicht nur als «malerische und lehrreiche Sammlungsobjekte»23 dienen, sondern auch einen «unendlich bessern Rahmen und Hintergrund für die Altertümer selbst» abgeben, als es «moderne architektonische Gebilde»24 seiner Meinung nach konnten. Insgesamt gab es in der Sammlung des Schweizerischen Landesmuseums am meisten ur- und frühgeschichtliche Objekte sowie Kunsthandwerk und Waffen aus der Zeit des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit.25

Der gesetzliche Auftrag des Landesmuseums lautete, Altertümer «planmässig geordnet aufzubewahren».26 Das war alles andere als einfach. Konnte der Direktor 1895 noch verkünden, es habe im Museumsbau genügend Platz, um auch weniger wertvolle Geschenke auszustellen, 27 so war die Situation drei Jahre später eine ganz andere. Es gab nicht ausreichend Platz, um die stetig wachsende Objektmenge ausstellen zu können.28 Daher wurden vor der Eröffnung kurzfristig für die Museumsverwaltung vorgesehene Räume in Ausstellungsräume umfunktioniert, vor allem im zweiten Stock des Museums, der gar nicht dafür vorgesehen war. Zusätzlich wurden in den Korridoren Sammlungsstücke aufgestellt.29 Obwohl die Direktion sich nach eigenen Angaben bemühte, «jede Ecke in dem Gebäude auszunützen», 30 mussten grössere Bestände unausgestellt bleiben und in den Dachräumen und im Keller eingelagert werden.31

Wie die räumliche Situation in den Ausstellungsräumen um 1898 ausgesehen hatte und wie die ersten Sammlungspräsentation, damit haben sich François de Capitani und Chantal Lafontant Vallotton ausführlich beschäftigt.32 François de Capitani beschreibt die Sammlungspräsentation als einen chronologisch strukturierten Rundgang, verteilt auf zwei Stockwerke. Als Ausgangspunkt hätten die sogenannten Pfahlbau-Sammlungen gedient, die für ein über die Sprachregionen und Konfessionen verbindendes Geschichtsbild gestanden seien, während als historischer Höhepunkt Waffen zur Darstellung der Heldentaten des 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts (ohne innerschweizerische Gründungsmythen) entsprechend der neuen vorreformatorischen Geschichtsschreibung ausgestellt worden seien. Als kultureller Höhepunkt sei die kunstgewerbliche Produktion der frühen Neuzeit, verstanden als utopischer Gegenraum zur Industriegesellschaft der Gegenwart mit ihren sozialen Konflikten, präsentiert worden. De Capitani sieht die Ausstellung im Landesmuseum als räumliche Verwirklichung eines kulturgeschichtlichen Programms, das ganz der Geschichtsschreibung am Ausgang des 19. Jahrhunderts entsprochen habe, oszillierend zwischen nationaler Heldengeschichte und Kunstgeschichte.33

Gemäss den vorliegenden Plänen gelangten die ersten Museumsbesucherinnen und -besucher vom Eingang aus über einen langen Korridor zuerst in den Saal mit der prähistorischen Sammlung (Abb. 7 und 8). Der zweite, viel kleinere Saal war mit römischen Objekten ausgestattet, es folgte die «Zeit der Völkerwanderung», 34 und im vierten Saal begann die Präsentation der mittelalterlichen Objekte. Von hier aus folgten sich vom Parterre in den ersten Stock abwechslungsweise die zwei Raumtypen «Ausstellungsraum»35 (vgl. Abb. 9) und «Zimmer»36 des 15. bis 17. Jahrhunderts (vgl. Abb. 11). Die Ausstellungsräume enthielten einzelne «Gattungen von Altertümern», 37 also Sachgruppen wie Holzskulpturen, Zürcher Porzellan, Keramik oder Schlitten. Die Zimmer setzten sich aus originalen, kopierten, restaurierten und rekonstruierten Architekturfragmenten zusammen, die in den Museumsbau eingepasst worden waren. Sie waren bestückt mit Möbeln aus derselben Zeit, aber unterschiedlichen Gegenden der Schweiz. Auch die Ausstellungsräume waren mit zeitlich passenden Täfern und Tapeten sowie Glasgemälden und Möbeln ausgestattet und sollten so «den Reiz ansprechender Interieurs» bekommen und nicht den «Eindruck langweiliger toter Sammlungssäle»38 erwecken, wie argumentiert wurde.

Auf ihrem Rundgang gelangten die Besucherinnen und Besucher schliesslich im Obergeschoss in den 50. Saal, die 700 Quadratmeter grosse Waffenhalle, auch Ruhmeshalle genannt, wo die zürcherischen Zeughausbestände präsentiert wurden (Abb. 10). Zum Museumsausgang/-eingang kehrte man durch die Uniformenausstellung, einen Korridor mit Glasmalereien entlang und die Treppe hinunter zurück in das Erdgeschoss.

Ganz so streng chronologisch war die Raumabfolge nicht: Auf die historischen Zimmer und Sammlungsräume aus dem 17. und 18. Jahrhundert (Raum 43–48) kamen die «Volks- und Bürgertrachten» des 17. bis 19. Jahrhundert, gefolgt von der Waffenhalle mit Objekten aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert.39 Zudem gab es Objektgruppen, die sich nicht in die von de Capitani beschriebenen drei Themenfelder (Pfahlbauer, Kunst und Krieg im Spätmittelalter und der Frühneuzeit) und in die Chronologie einfügen liessen. Erwerbungen mussten kurzfristig in improvisierten Ausstellungsräumen untergebracht werden. Beispielsweise wurde die «überraschend schnell angewachsene Uniformen-Sammlung»40 in dem zum Ausstellungssaal umfunktionierten Sitzungszimmer der Landesmuseumskommission aufgestellt.41

Nach der Eröffnung des Museums wurden auch noch im dritten Stock Räume für die Ausstellung ausgebaut und hier die ländlichen Trachten präsentiert sowie im zugehörigen Treppenhaus und Vorraum Möbel und Gegenstände aus dem 18. Jahrhundert.42 Um Raum für mehr Objekte zu gewinnen, wurden die Skulpturen dichter aufgestellt.43 Und weil in den Sammlungssälen kein Platz mehr vorhanden war, wurden auch in die historischen Zimmer weitere Sammlungsstücke und Vitrinen mit Objekten hineingezwängt, obwohl es laut der Direktion «dem Charakter und der einheitlichen Stimmung eines alten Wohnraumes»44 widersprochen hat. Ein Beispiel dafür war die Ratsstube aus Mellingen, wo die Direktion 1906 als ungeliebtes Provisorium «voluminös[e] und sperrig[e]»45 Stücke wie gotische Schränke und Truhen hineinstellte (Abb. 12).

 

Mit der Sammlung des Bundes war es anders gekommen, als man sich vorgestellt hatte: Die Menge der Objekte, die in die Sammlung Eingang fanden, war grösser als angenommen. Manifest wurde dies in den Räumen des Museumsgebäudes, das zur Aufbewahrung der Sammlung errichtet worden war. Bereits im ersten Jahrzehnt waren Objekte auch in den Kellerräumen des Museums provisorisch eingelagert worden und ab 1903 mehr und mehr auch im Dachgeschoss. Ja sie wurden regelrecht aufgestapelt: In die Türme des Landesmuseums, die bisher nur als Architekturschmuck funktioniert hatten und innen hohl waren, wurden Böden und Treppen eingezogen und im Hauptturm beispielsweise die unausgestellten Trachten und Uniformen eingelagert.46 Zehn Jahre nach der Eröffnung des Museums waren zwei Drittel der Sammlung nicht ausgestellt.47 Das war für die Verantwortlichen ein unhaltbarer Zustand. Der Nachfolger von Heinrich Angst, Hans Lehmann, rechnete 1906 vor, dass gegenwärtig 4624 Quadratmeter Ausstellungsfläche zur Verfügung stünden. Rund 3200 Quadratmeter mehr wären nötig. Daher sei ein Erweiterungsbau unabdingbar.48

Auch Bundesbern blieb der Zustand nicht verborgen: Die Bundesorgane kamen in erster Linie bei der Finanzkontrolle mit dem Betrieb des Schweizerischen Landesmuseums in Kontakt. Eine Sektion der Finanzdelegation der Eidgenössischen Räte suchte das Museum jeweils auf, um die Kassenrevisionen vorzunehmen und die Buchhaltung zu kontrollieren. 1910 blieb es nicht beim üblichen Protokoll. Der Präsident der Finanzdelegation der eidgenössischen Räte, Arthur Eugster, verfasste einen Brief an das Departement des Innern (EDI), der über die gewöhnliche Finanzanalyse hinausging.49 Arthur Eugster schrieb:


Abb. 7: Plan Erdgeschoss, in: Hans Lehmann: Offizieller Führer durch das Schweiz. Landesmuseum, 2. vermehrte Auflage, Zürich 1900, SNM Scan.


Abb. 8: Plan erste Etage, in: Hans Lehmann: Offizieller Führer durch das Schweiz. Landesmuseum, 2. vermehrte Auflage, Zürich 1900, SNM Scan.


Abb. 9: Winterthurer Keramik, Eckraum Nr. 48, Schweizerisches Landesmuseum Zürich, ohne Jahr, SNM, Dig. 28842.


Abb. 10: Ruhmeshalle, Raum 50, Schweizerisches Landesmuseum Zürich, Fotograf: E.Link, Aufnahme vor 1918, SNM Dig. 28851.


Abb. 11: Ratsaal aus Mellingen, Schweizerisches Landesmuseum Zürich, Postkarte, um 1898, Nr. 2848, in Besitz von Anna Joss, Scan.


Abb. 12: Rathaussaal von Mellingen (1467), Schweizerisches Landesmuseum Zürich, Raum 14, in: Führer durch das Schweizerische Landesmuseum in Zürich, hg. v.d. Direktion, Zürich 1929, SNM Scan.

«Es herrscht ein empfindlicher Platzmangel, so dass Kellerräume und Estrich zur Aufbewahrung von Altertümern benutzt werden müssen.»50

Deshalb seien baldmöglichst Massnahmen zu ergreifen bei der «Unterbringung & Beschaffung der Inventargegenstände».51 Der empfundene Raummangel mündete in eine Grundsatzdebatte über die Sammlungspraxis und die Ziele des Landesmuseums während der 1910er- und 1920er-Jahre und war der Auslöser für bleibende Veränderungen in der Sammlungstätigkeit des Museums.

Die Diskussionen und Handlungen rund um die Sammlungsmenge sind Gegenstand dieses Kapitels. Der Titel «anhäufen» bezieht sich auf drei Merkmale, die für die damalige Sammlungspraxis charakteristisch sind: Erstens drehten sich die damaligen Museumspraktiken weniger um Einzelstücke, die Eigenheiten einzelner und einzigartiger Objekte. Vielmehr ging es um den Umgang mit einem Haufen von Dingen und die Handhabung einer Menge Dinge: Die Sammlungstätigkeit wurde von der Quantität der Dinge dominiert und der Wirkung der Sammlungsstücke in ihrem «Vielsein».52 Der zweite Aspekt, welcher der Begriff «anhäufen» betont, ist das Zusammentragen der Dinge an einem Ort, die Zentriertheit der Handlungen. Die vom Bund erworbenen Objekte wurden vereinigt und zu einer Sammlung formiert, in einem eigens dafür gebauten Museumsgebäude in der Stadt Zürich. Gegen diese zentralisierte staatliche Sammlung traten die Anhänger des Föderalismus immer wieder an. Weiter war es die vorhandene Objektmenge, die in den 1910er- und 1920er-Jahren unter den Verantwortlichen zu einer ersten genealogischen Reflexion über das Sammeln führte und sie danach fragen liess, wie es denn zu dieser Quantität kommen konnte. Das prozessuale Moment des Sammelns, das Grösserwerden und Wachsen der Sammlung durch das Zusammentragen von Dingen, ist denn auch der dritte Aspekt, der interessiert.53

Die Quantität der Dinge ist beim Sammeln ein essenzieller Faktor. Das zeigt sich bereits in der Tatsache, dass ein Ding noch keine Sammlung ausmacht. Erst ab zwei, besser ab drei oder mehr Dingen kann man von einer Sammlung sprechen.54 Die Quantität der Sammlungsstücke war in der Sammlungspraxis am Schweizerischen Landesmuseum ein wesentliches Qualitätsmerkmal. Wie wichtig die Darstellung der Menge für die Museumsleitung war, lässt sich bereits an den Listen in den Jahresberichten erkennen, die oft mehr als die Hälfte des gesamten Umfangs der Publikation bildeten.55 Erstaunlicherweise waren bisher in der Forschung zu öffentlich-staatlichen Sammlungen quantitative Aspekte kein eigener Untersuchungsgegenstand.56 Marginal thematisiert sind sie in Untersuchungen, die sich mit dem Strukturieren, Ordnen und Klassifizieren des Sammelns befassen, wo die Quantität als Problem erscheint.57 Anders ist es bei den Untersuchungen zur Sammeltätigkeit von Einzelpersonen: Hier ist der quantitative Aspekt beim Sammeln Thema. Das Streben nach einer grossen Sammlung wird mit besonderen emotionalen Dispositionen, nicht selten mit Persönlichkeitsstörungen in Verbindung gebracht.58 Auffälligerweise wurde dieser negativ behaftete Aspekt des individuellen Sammelns nicht auf das gemeinschaftliche Sammeln übertragen, wie es bei sonstigen Untersuchungen der Fall ist.59 Die Rolle der Quantität in der gemeinschaftlichen Sammlungspraxis muss daher erst herausgearbeitet werden.

Wie das erste Teilkapitel («Debatte über die Mengenbildung») zeigen wird, wurden die Grundsatzdebatten über die Sammlungspraxis und die Ziele des Landesmuseums während der 1910er- und 1920er-Jahre von der Vorstellung geprägt, dass die gesamte Sammlung dem Museumspublikum in den Ausstellungsräumen gezeigt werden müsse. Ich werde darlegen, wie man mit der wachsenden Menge von Objekten verfuhr und welche Personenkreise dabei die Deutungshoheit über die Objektmenge innehatten.

Nachdem der Museumsbau errichtet war, wurde die hauptsächliche Energie in die Betreuung und Verwaltung der Sammlung abseits der Ausstellungsräume gesteckt. Diese Tätigkeiten scheinen zunächst von den Debatten über den Platzmangel nicht berührt zu werden. Doch wie ich im Kapitel «Handhabung der Fülle» darlegen werde, eröffneten sich gerade fern der Ausstellungsräume neue Handlungsspielräume innerhalb des Museums. Als Wendepunkt in der Mengenfrage erscheint das Jahr 1928. Damals, fast 20 Jahre nach den ersten grösseren Diskussionen, kam es zu gewichtigen Entscheidungen: Die Museumsbehörden beschlossen, gewisse Sammlungen wegzugeben und andere nicht mehr weiter auszubauen.

Abschliessend werde ich im Kapitel «Blick auf spätere Mengenverhältnisse» die Thematik des Anhäufens rekapitulieren. Zur Akzentuierung der Forschungsergebnisse für die 1910er- und 1920er-Jahre skizziere ich zugleich die späteren Mengenverhältnisse während des 20. Jahrhunderts, als die Menge der unausgestellten Objekte im Verlauf des 20. Jahrhunderts weiter anschwoll.