Quasi Heimweh

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Was uns fehlte, in unserem Zug, war mein schöner Zeichentisch: Die Leute, die im Parterre wohnten, hatten uns für den Winter ihren orangerot ge­strichenen Gartentisch geliehen, an den wir uns zum Essen setzten, und sechs gleiche Stühle dazu; aber die Schulbücher, meine Hefte, die Bücher, die Gianni aus Italien mitgebracht hatte und die, die er in der Libreria Italiana in Zürich kaufte, um sie dann auch mir und Gino weiterzugeben, die stapelten wir am Boden auf, in zwei hohen Bergen; mit unseren Freunden saßen wir so zwischen den zwei Stößen am Kaminfeuer in einem weißen Lichtfleck: Von oben umhüllte uns der Strahl eines von Giannis Scheinwerfern; die Hände wärmten wir uns, indem wir Nüsse knackten: Der eine von den beiden Tessinern, der noch mehr Bauer war, brach sie mit seinen breiten kräftigen Händen auch für Bethli und mich auf; drei aufs Mal konnte er in der geballten Faust knacken.

Die beiden kleinen Tessiner brachten uns keinen Krimskrams mit: Sie kamen mit einem Panettone Selma oder mit den Nüssen, einer Flasche Grappa oder mit einer Salamiwurst, die sie unter der Jacke versteckten; sie trugen mir alles in die Küche, «nur eine Kleinigkeit», sagten sie, «l’è nagott, l’è ‘1 mi­nim», und strichen mit dem Italienischen ihre Mundart voll Knoten und Warzen, glatt, schlimmer noch als die unsrige.

Sie hatten mir erzählt, dass sie hier «herein», «in dentro», also in die deutsche Schweiz, gekommen wa­ren, um die Sprache besser zu lernen; aber deutsch, sagte mir Gianni, redeten sie nicht einmal im Ge­­schäft; und zum Schatz, «a morosa», gingen sie übers Wochenende ins Tessin, wenn sie nach Hause zu­rück­kehrten: Der eine hatte eine richtige feste «morosa», die im Ospedale Civico in Lugano arbeitete, und wir wussten es, dass wir uns von Zeit zu Zeit ein Stück vom Panettone der Mariangela abschnitten. «Hast du es ihr erzählt, deiner Mariangela, dass du da bei zwei hübschen Mädchen sitzt und ihren Panettone isst? Hast du es ihr erzählt von Bethli, die drüben duscht?» (Und in dem Augenblick war vielleicht Ma­riangela, das arme Ding, gerade im Begriff, sich die weiße Ärmelschürze umzubinden, um ihren Nachtdienst anzutreten.) Wer uns die drei Nüsse mit der bloßen Hand aufbrach, war aber doch der andere, der Bauer von den beiden.

4

Mit Giannis Freunden unterhielt ich mich oft über meine Schüler: Aber sie wollten nicht, dass ich von den Aufsätzen erzählte, von dem, was wir zusammen lasen, von den Zeichnungen, die ich geschenkt bekam und die ich über alles liebte und nicht einmal Bethli gab; sie wollten Daten wissen, wollten Zahlen, und da war es dann jedes Mal, als ob man Funken schlüge über die leeren Nussschalen: Hitzige Diskussionen entbrannten, bei denen der Name und die Geschichte meiner Kinder nichts mehr bedeuteten, sondern nur noch die Regierung, die Industrie, die Politik etwas galten. Fredi, der Jus studierte (und den wir jetzt beim Vornamen nannten), hatte alle Ziffern im Kopf und wusste die Einwohnerzahl einer jeden Gemeinde: so viele Schweizer, so viele Ausländer, so viele Italiener; mit seinen Zahlen hatte er die Sache besser im Griff als wir alle: Es genügte, sagte er, da und dort ein paar Nullen wieder zurechtzurücken, er schwor es. Und ich dachte, dass alles, was ich im Augenblick tun konnte, nur das eine war: dass ich mit den Eltern von Sergio redete, meinem kleinen Sizilianer in Döttingen; dass ich sie dazu brachte, sich beim Schweizer Lehrer für das häufige Fernbleiben ihres Kindes zu entschuldigen; und dass sie Sergio dann weiter in Döttingen zur Schule schickten, damit er bei ihnen aufwachse, und dass sie ihn nicht zu den Großeltern nach Italien abschoben. Aber es war schwierig, so zu reden, schwierig, dass sie nicht auch mir misstrauten: Sie selbst waren nicht in die Schule gegangen, was sollten sie da ihr Kind hin­schicken?

Ich hätte nochmals bis Samstag gewartet, um sie zu Hause antreffen zu können; in die Schule hätten sie keinen Fuß gesetzt, nie und nimmer, und nicht nur aus Zeitmangel; so wäre ich denn nochmals hingereist, am Samstagnachmittag, im gelben Postauto mit dem Schweizer Kreuz, und darin die vielen üppigen Frauen, die zwei Plätze belegen, weil sie breitbeinig sitzen, die gewaltige Einkaufstasche an den Bauch gedrückt; zu Fuß wäre ich wieder die Hauptstraße des Dorfes hinaufgegangen, das so sau­ber aussah wie für eine Ausstellung, mit den von der Hand eines geduldigen Kindes, des Ersten der Klasse, sorgfältig aneinandergereihten Häuserwürfeln, mit dem Brunnentrog aus Stein oder aus einem hohlen Baumstamm, den roten Geranien auf jedem Fenstersims, dem schmiedeeisernen Wirtshausschild mit dem Bären, dem Posthorn, dem Stern; die Leute hin­ter den Geranien würden am Saum der Gardine zupfen – ein Wimperschlag – und mir nachschauen; und dann würde ich in eine Gasse mit ärmlicheren Häusern einbiegen, eins wie das andere, und überall ­hinge Wäsche zum Trocknen und stünden zahllose Occasionsfahrräder in den Ecken und Winkeln der Flure und Gänge herum, und die schönen italienischen Stimmen würden mich zwei oder dreimal vor die falsche Türe locken; und schließlich wäre ich dann wieder der ungebetene Gast, der Eindringling in der ranzigen Luft einer Küche, von wo ich durch aufgerissene und zugeschlagene Türen einen Blick erhasche auf die ungehaltene Gebärde eines Mannes, der auf der schlafverschwitzten Decke sich die Augen wach reibt; und bin nun da und frage mich, wer wohl Sergios Vater sei unter den vielen im Unterleibchen, die auf der Bank sitzen, das Päckchen Parisiennes her­umreichen und sich die Sendung für die Gastarbeiter in der Schweiz anhören, «L’ora per voi», in diesem Stück Sizilien mitten in Döttingen; hergekommen auch ich, um mich vors Radio zu setzen und das Madonnenbild, aber doch nicht allein deswegen, ich suche Sergios Eltern und weiß nicht mehr recht, was sagen, auch ich möchte lieber zuhören und Sergios kleine Schwester auf meine Knie heraufziehen; sie warten jetzt alle ab, ich beginne zusammen und durcheinander mit «L’ora per voi» zu reden, überflüs­sig ist auch mein Mantel geworden, den sie an den Haken bei der Tür aufhängen als etwas Geheiligtes – und noch Verdächtiges – einer Lehrerin, die in den Büchern studiert hat, mit ihrem Akzent aus dem Norden, eine Unverheiratete, ohne Kinder, die Geld ausgibt für die Kleider und Gutes sagt von der Schule und von den Schweizern; ja, gewiss, auch ich eine Italienerin, Tradate-Schuhe, Borotalco und dunkle Augen, aber habe ich sie etwa auch, ich, die Schwiegereltern, für die man sorgen muss, dort unten in Poggioreale? Und die Geschwister und die ganze Familie, die von Monat zu Monat auf die Postanweisung warten; was weiß ich schon von den Schwestern, die sie unter die Haube zu bringen, von den Kindern, die sie großzuziehen haben, und die zur Welt gekommen sind, weil Gott es so wollte; wer weiß, ob ich sie wirklich verstehe, ich mit den Tintenflecken an den Fingern und den Bildchen, die ich in die Hefte einklebe; wer weiß, vielleicht wäre es besser, ich suchte mir auch einen Mann, wie es alle tun, und wartete zu Hause auf die Kinder, die der Herrgott schicken wird, ich könnte mir das leisten, vielleicht so­gar ohne in die Fabrik zu gehen, und würde das Mittagessen kochen, die Hemden bügeln, die Kleinen stillen – und nun messen sie mich mit den Blicken, all die Männer, schauen mir auf die Beine, die ge­schminkten Lippen, sie haben inzwischen den Pullover mit dem Rollkragen übergestreift und sich die Haare angefeuchtet, sie sind jetzt lauter ledige Burschen, die sich entschuldigen, dass sie sich nicht ra­siert haben, jeder und keiner von ihnen ist Sergios Vater, sie sagen den Frauen, sie sollen mir einen Kaffee machen, und ich muss auch von dem Likör trinken, muss ihre Parisiennes rauchen, denn ich gehöre doch mit dazu; und Sergio ist gekommen, die Rollschuhe über die Schulter gehängt, er antwortet brav, ein folgsamer Junge; schade, dass Salvatore und Nu­c­cia nicht auch dabei sind, das Fräulein würde sie sehen; aber ich käme ja wieder, abgemacht, sie bleiben alle noch hier in der Schweiz, hinunter reisen sie dann in den Ferien, aber hier kann man arbeiten, es geht einem besser als dort, und es gibt die Migros, wo man alles billig einkauft: ob ich nicht die Pommes-frites-Pfanne und die Wurstschneide- und die Es­pres­so-Maschine gesehen habe; auch hier gibt es nette Leute, der Lehrer von Sergio ist streng, doch wenn das Kind es verdient, so hat er ja recht, sie wollen gar nichts behauptet haben, aber … Aber ich weiß es schon, sie werden nicht zum Lehrer gehen, um mit ihm über Sergio zu reden, und auch sie haben recht, was hat das alles mit dem Reglement und der Sprache zu tun, ihr Kind wird auch in Italien groß werden, sie werden ihm ein Haus in Poggioreale bauen; es wird ein Handwerk lernen auch ohne Deutschunterricht; und sie wollen mir ihren Marsala einschenken, und ich soll doch bitte von der Lyonerwurst aus der Mi­gros versuchen.

Ich hatte gelernt, mit dem amtlichen Kursbuch der Schweizerischen Bundesbahnen und der Postautos umzugehen, weil ich jeden Tag, und fast immer zweimal, von einem Dorf zum andern, von einer Gemeinde hinüber zu einer andern Gemeinde im Kanton herumfahren musste. Wir waren, wir sechs italie­nischen Lehrer, dem Vizekonsulat in Baden unterstellt, das uns jedes Semester die Ortschaften und den Stundenplan für unser Fach zuteilte: «Italienische Sprache und Kultur»; vier Wochenstunden in jedem Dorf für die Italienerkinder, die regelmäßig die schweizerischen Gemeindeschulen besuchen, damit sie, wenn sie nach Italien zurückkehren (aber auch sonst), sich nicht völlig fremd fühlen in ihrer Heimat: Es war zeit- und kräfteraubend, so hin und her von einer Schule zur andern bis zu abgelegenen Dörfern, die manchmal nur zu den unbequemsten Stunden im Postauto zu erreichen waren.

Ich zum Beispiel musste im ersten Semester am Montag und am Donnerstag von halb acht bis halb zwölf, 1. und 2. Kurs, in Zurzach sein und am Nachmittag dann bis halb sechs in Seon, was wegen der Anschlüsse eine Fahrt von zwei Stunden bedeutete. Meine Mahlzeit war ein Schinkenbrot unterwegs, dazu aß ich drei Reihen Blockschokolade, an der ich mir fast die Zähne ausbiss.

 

An den anderen Tagen pendelte ich von Brugg nach Küngoldingen, weiter nach Döttingen: Mein Kalender war ein Karussell von Dörfern und kleinen Industriestädten, die mich in einem Glasgebäude empfingen, an das der Architekt soeben noch die letzte Hand angelegt hatte, sauber wie ein Kühlschrank und mit den Lautsprechern und dem Gong fürs Pausenzeichen, Schulhäuser, die die Kinder nur in Pantoffeln betraten; oder in einem dunklen Kellergeschoss, wo ständig die Glühbirnen fieberten, wo die Heizkörper mehr zur Dekoration dienten und wir durch die schmalen Oberlichter nach und nach ge­lernt hatten, Frau Doktor und all die Leute, die über den Hof daherkamen, an ihren Schuhen zu erkennen. Die Knaben hatten eine besondere Vorliebe für diese verwitterten Räume, in denen meistens vielerlei Sägen, Hobel und Hämmer herumlagen, die ihnen bis in die feinste Schraube vertraut waren: die Zimmer für den Werkunterricht; «Handarbeit» stand an der Tür, und mir schien es jedes Mal, auch wenn die Werkzeuge nicht die gleichen waren, ich käme wieder in Fabios Labor.

Fabio, über sein Werkzeug gebeugt, mit den vor­stehenden, zu einem Knoten verschlossenen Lippen, die mir gefielen, in seinem weißen Arbeits­kit­tel, wenn er das Fleisch briet, in Gedanken versunken, eigensinnig, unnachgiebig, ganz in seine Arbeit vertieft, auf die ich eifersüchtiger war als auf alles sonst – und ich konnte nicht davon ablassen, ihn zu quälen und mich dazu, ich wusste, dass ich ihn deswegen liebte, weil er so hartnäckig war, so ganz aus einem Stück und ganz sich selbst wie ein starrköpfiges Kind mit dem Hammer in der Hand.

Ich wollte den Zauberbann brechen, dass er etwas sage, dass er endlich rede; auch ich wollte Bescheid wissen; und zu Hause noch fragte ich ihn ganz krank vor Neugierde aus; aber es war, als ob man sich mit bös­artigen Pinzetten in seinen schönen Kopf hineinzwängte: Ich tat ihm weh dabei, und doch konnte er es mir nicht sagen, er schaute mich an, strich mir übers Haar, begriff nicht, warum ich weinte, hatte mich gern.

Jetzt, wenn mir die Tränen kamen in der Werkstatt der Handarbeit, jetzt war es, weil ich ihn so fern wusste, Fabio, weit weg auch in der Zeit, auch in Ge­danken weit von diesem Ort am Rheinufer, der einen leichten Anstrich mondänen Lebens hatte: Das mochte von der Grenze herrühren, in der Mitte des Flusses, von den Thermalbädern mit den fremden Kurgästen; wie fern stand ihm das alles, Fabio, das Grab der heiligen Verena, die da lächelt mit dem viereckigen Kamm in der einen Hand und in der andern das Krüglein, unten in der Gruft der Stiftskirche, und die Votivkränze der jungfräulichen Bräu­te; die kleinen Kaufläden mit den beschlagenen Doppelfenstern, die Plätze mit der Bank rund um den Stamm des Lindenbaums, die komplizierten deutschen In­schriften, «Metzgerei Schmidli, Lin­den­­hofplatz», die er nicht einmal hätte entziffern können.

Für mich dagegen gab es das jetzt und war so echt wie die auf seinem Tisch gerade ausgerichteten Bleistifte und Taschenmesser, wie jeder Winkel in seinem Zimmer mit dem Plattenspieler, der Griechenlandkarte und dem Amaro Giuliani, das Zimmer, das ich durch die ab­geteilten Fensterscheiben im Nu ganz klar vor mir erblickte: Dies machte mir plötzlich Angst, dass ich so in ein Luftloch stieß, mitten unter den in zwei Sprachen lärmenden Kindern, dies, dass ich mich fragte, wo sie denn hinfließt, die Zeit.

Es war nicht immer leicht, sich in der Schule zu verständigen: Die Kinder redeten oft, auch unter sich, schweizerdeutsch und fanden dann mit mir den ­italienischen Ausdruck nicht. Ich erinnere mich an meinen ersten Besuch in Brugg: Es war in einer Pause, als die Schüler wild im Hof herumtollten: Auch die Schweizer tobten, während ich mir doch immer vorgestellt hatte, die Kinder aus dem Norden seien stille, gesetzte, brillentragende kleine Erwachsene, wie ich sie im Hotel in Riccione als Feriengäste im Ge­dächtnis hatte. Die Lehrer kümmerten sich überhaupt nicht um sie, ließen sie gewähren (da hätten wir also ihren Freiheitskult, die Achtung vor dem Individuum) und spazierten unter dem Vordach in Mönchssandalen auf und ab wie Kinder in der Krippe auf dem Dreirad, wenn es regnet, in Gesellschaft einiger Frauen mit weißen Zoccoli und mit gekreuzten Armen, die als Büstenhalter dienten: Es waren die Kolleginnen, wie sie mir nachher sagten, die Leh­re­rinnen, lauter Fräulein mit dem Namen auf dem Türschild. Ich musste über den Hof gehen und sah mich vorsichtig um in meiner Angst, die Kinder könnten mich bei ihren heftigen Spielen über den Haufen rennen; ich war stehen geblieben, so gut und wo ich konnte, und schaute dem bunten Schwarm von Buben und Mädchen zu (hier trugen sie nicht wie bei uns die schwarzen oder weißen Ärmelschürzen mit der Schleife um den Hals, sie waren ganz wie zu Hause gekleidet); ich zählte sie, wie wenn ich eine Mar­gerite abzupfte: der ja, der nein, diese nein, diese ja; nein, nein, nein, ja: Vor allem die kleinen Italienermädchen waren leicht zu erkennen, fast immer die dunkelsten (oder waren es Spanierinnen?), mit der Haut aus einer andern Substanz, viel aufgelöstem Haar und darin dann immer etwas aufgesteckt, ein Band, ein Schmetterling aus Plastik, und mit gol­­­denen Ohrringen, alles schon kleine Bräute; wenn man sie aber reden hörte, waren es alles Mädchen aus Brugg, die munter mit- und nachplapperten, genau wie die anderen, und die nicht einmal imstande wa­­ren, mir im ersten Augenblick auf Italienisch zu sa­gen, wo mein Schulzimmer war.

5

Küngoldingen, den 20. Oktober

Vierzehn Schüler, von der 1. bis zur 4. Klasse

Antonella Annunziata aus Pompeji bringt mir das Rezept für die Pizza bei, einen ganz besonderen Trick. Sie möchte in ein Internat, «a chiudersi», sagt sie, sich einschließen, wie ihr Bruder in Brescia und ihre Schwester in Nola: «Wenn ich den Verstand da­zu habe, lerne ich dort auch Französisch. Die Briefe nach Italien schreibe ich, wenn man berichten muss, wie es uns geht; wenn es interessante Dinge sind, schreibt die Mutter oder der Vater. Ich muss jeden Abend den Haushalt machen: die Teppiche klopfen, darauf ist die Mutter wie wild: Wir haben einen Fußboden aus Plastik, wozu denn so viele Teppiche? Ich muss im Wohnzimmer auf dem Sofa schlafen.»

Zuhinterst im Schulzimmer stehen die Kisten für die Musikinstrumente: Hier übt wohl eine Küngol­dinger Kapelle; «La Paloma», heißt es in großen Lettern auf einer Kiste. Draußen senkt sich ein rotes bemoostes Dach schräg gegen die ganze Fensteröffnung.

Das kleinste Mädchen, das noch gar nicht zur Schule kommen müsste, Donatas Schwester, gleicht einem Zigeunerkind mit ganz langen schwarzen Haaren und einer schwammigen Nase. Auch ein Vamp ist dabei, mit nackten Hühnerbeinchen.

Die Schulinspektorin ist gekommen, eine blonde Hexe.

Rico ist der Schönste, winzig, aus der Vierten, flink und hell, aber er will barfuß bleiben.

Sergio stellt sich auf einen Schemel, um die Wandtafel zu putzen.

Die schwierigen Wörter mit -gl-: «Amaglia».

Das Diktat über das Wasser. Grammatikalische Grundbegriffe.

Der Mantel der Hexe hängt über dem meinen.

Ich weiß noch nicht alle Namen.

Sie haben saubere Fingernägel.

Seon, den 31. Oktober

Neun Kinder, von der 1. bis zur 3. Klasse

Die an die Wandtafel gezeichneten Kleidungsstücke: die Hosen, der Pullover, die Stiefel, die Socken, die Mütze, die Schärpe, die Jacke.

Die Kinder schreiben das Wort daneben und tragen es dann ins Heft ein. Auch hier steigen sie auf den Schemel, um an die Wandtafel zu schreiben.

Es sind fast alle Sizilianer: Salvatore Ginestri, mit ausgetretenen Schuhen, untersetzt, elf Jahre alt, böse; Pino, der das Erdbeben miterlebte und jetzt dauernd abgedeckte Häuser, Steine, die vom Himmel herun­terhageln, und Kreuze zeichnet: «la croce diddio», Gottes Kreuz. Concetta, in der Ersten, das Gesicht und das Stimmchen aus Samt, die Haare als Pferdeschwanz hoch oben mit einem dünnen Zopf zusammengebunden; ihre linke Hand ist nur angedeutet, statt Finger kleine rote Knospen, die sie beim Reden streichelt.

Sizilianer verstehen das Wort «sciarpa», Schärpe, nicht: Sie sagen «fasciacollo».

An den Wänden hängen Bilder mit schweizerdeutschen Gedichten: Ich begreife nichts davon.

Einzelne Kinder stinken: Vielleicht haben es die Schweizer Lehrer gemerkt; ich muss es allen irgendwie sagen, so ganz allgemein, dass sie sich täglich wa­schen sollen.

Sie geben mir ihre schwitzende klebrige Hand zum Abschied, auch wenn sie mich dann noch an den Zug begleiten; Donnerstag muss ich wieder hin.

Brugg, den 2. November

Sechzehn Schüler, 1., 2. und 3. Klasse

Sie wollen die Fenster offen lassen. «Zum ersten Mal seit langem scheint wieder die Sonne, es ist schade, wenn man schließt; oder dann gehen wir lieber hinaus.»

«Mein Onkel Nino in Bergamo hat einen Jagdhund: Ich habe ihn schon einmal gesehen.»

Maria Vittoria könnte ungefähr achtzehn Jahre alt sein; wenn sie aber arbeitet, macht sie es wie die anderen, sie lässt keinen abschreiben: Sie deckt je­des Wort mit der Hand zu. Sie hat lackierte Fingernägel.

Die Wörter mit Apostroph.

Die Schüler sollen einen Gedanken, einen schönen Satz niederschreiben, «un pensierino». Daniele: «Der Esel hat es hübsch warm im Stall.» Danieles Au­gen sind so schwarz, dass sie im Sonnenlicht glühend weiß erscheinen.

Marco stellt sich ans Lehrerpult, um uns alle zu zählen, weil er sich nicht mehr erinnert, wie viele wir eigentlich sind.

Fabiola, die Einzige aus der Ersten, still und gefügig und blitzblank sauber, mit einigen Zahnlücken: Sie schreibt einen Buchstaben des Alphabets nach dem andern hin, als ginge sie langsam den Berg hinauf und hinunter.

Vincenza und ihr Bruder, rabenschwarz, mit scharfen Zügen, Neapolitaner, tänzeln beim Reden.

Franco, ein Hirtenbüblein aus den Abruzzen, das man in einer Weihnachtskrippe aufstellen sollte, mit Dudelsack und Ringellocken, ist der Schnellste, wenn wir mit den Fingern rechnen.

Ob ich wirklich eine Italienerin bin? Das ist im­mer die erste Frage.

Emilio ist ein Miniaturkind; er malt alle Wimpel des Dampfers säuberlich aus, für jeden nimmt er einen andern Farbstift; das Meer schmiert er mit wenigen großen Strichen darüber und verdeckt das Ganze.

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