Führungsinstinkt

Tekst
Z serii: Dein Business
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Auch wenn wir Menschen und keine Maschinen sind, haben wir im metaphorischen Sinn ein paar »Knöpfe«, die wir selbst unbewusst drücken und die uns, anstatt nur instinktiv zu fühlen, auch immer wieder denken und handeln lassen.

Werfen Sie Ihren persönlichen Ballast ab!

Als Menschen halten wir in den verschiedenen Phasen unseres Lebens nur selten inne und stellen uns die Frage, warum wir eigentlich sind, wer wir sind. Wir versuchen uns so gut wie nie jene Erfahrungen in Erinnerung zu rufen, die uns geprägt haben. Wir sind selten willens dazu, ausgiebig in den Rückspiegel zu blicken und den Ursprung jener Aspekte von uns selbst zu lokalisieren, von denen wir glauben, dass sie »angeboren« wurden. Aber dass es da Schlüsselerlebnisse, Erziehungserfolge, Aha-Momente, Autoritäten und Geschichten geben muss, liegt auf der Hand – oder besser gesagt in unserem Gehirn.

Das Gehirn ist unser zentrales Organ, in dem menschliche Erfahrungen gespeichert werden. Der Mensch kommt mit einer Vielzahl angeborener Instinkte zur Welt und muss diese jeweils seiner Umwelt – seinen sozialen Systemen – anpassen. Dabei kann er motiviert oder enttäuscht werden. Das bedeutet: Wir verhalten uns in verschiedenen Umgebungen möglicherweise anders, weil wir unterschiedliches Feedback auf unser Verhalten erhalten.

Instinkte sind keine genetischen Urtriebe, nichts Esoterisches, Unkontrollierbares oder sogar Irrationales. Vielmehr spielen viele unterschiedliche Kräfte zusammen, die Instinkte in uns entstehen lassen. Und bei diesen Instinkten geht es immer (noch) ums Überleben. Da wir aber keine Jäger mehr sind, »kämpfen« wir heute gegen andere Gefahren: Es geht um unser psychisches, soziales, wirtschaftliches und berufliches Überleben.

Aber lassen Sie uns ein wenig in die Theorie gehen, damit all das als Bestandteil unseres Arbeitslebens verständlicher wird: Welche Instinkte sind tatsächlich angeboren und was erleben wir unmittelbar über unsere Erfahrungen?

Instinktverhalten ist die Motivation, der Drang und die Tendenz eines Menschen, auf bestimmte Art auf etwas zu reagieren. Ein Großteil dieses Instinktverhaltens ist tatsächlich angeboren und besteht aus verschiedenen Verhaltensbausteinen. Diese »Instinktbewegungen« werden vom Körper kontrolliert und lassen uns – wie der Name schon sagt – instinktiv handeln. Ausgelöst werden sie von Schlüsselreizen, die wiederum von unserer Wahrnehmung ausgelöst werden.

Diese angeborenen instinktiven Handlungen sind permanenter Bestandteil unseres Lebens. Allerdings laufen sie so schnell ab, dass wir sie nicht bewusst wahrnehmen. Unsere Reflexe sind – wenn es um Gefahr, Atmung und Nahrungsaufnahme geht – in der menschlichen Grundausstattung enthalten und laufen sehr ähnlich ab. Wenn es jedoch um Reaktionen auf unsere Umwelt geht, entwickeln wir im Laufe der Zeit eigene Reflexe und bauen darauf unser individuelles Instinktverhalten auf.

Was unseren Instinkt darüber hinaus prägt, ist erworbenes Verhalten, das wir uns von klein auf aneignen. Sprechen, Laufen und komplexere Bewegungen bekommen wir nicht über die Gene mit, sondern wir müssen es selbst erlernen – genauso wie das Verstehen von Zusammenhängen und soziales Verhalten.

Wir eignen uns also Wissen an und kombinieren dieses Wissen, um bei ähnlichen Problemen das Erlernte und Verstandene neu anzuwenden bzw. zu erweitern. Ebenso lernen wir den Umgang mit Menschen durch den Umgang mit Menschen. Was letztendlich dabei herauskommt, ist also in großem Maße davon abhängig, welche Umgebung und welche Menschen auf uns Einfluss genommen haben (Erziehung, Familie, Schule) bzw. welchen Menschen wir Einfluss gegeben haben (Freunde, Vorbilder, Idole).

Ihr Leben – Ihr Rucksack – Ihr Instinktrepertoire

Stellen Sie sich alle diese Einflüsse Ihres bisherigen Lebens vor und stecken Sie diese gedanklich in einen großen Rucksack. Aus diesem Rucksack heraus wirken alle Ihre Verhaltensmuster, wenn Sie instinktiv handeln. Sie sehen: Instinkt ist keine reine Bauchsache und kein Überbleibsel im Reptiliengehirn. Er ist zu einem großen Teil »hausgemacht« und sehr persönlich. Die gute Nachricht: Sie können bestimmen, was Sie in Zukunft in Ihren Rucksack packen!

Das menschliche System ist auf Wahrnehmung ausgelegt: Was wir bei anderen Menschen oder in unserer Umgebung wahrnehmen, gleichen wir mit unseren inneren Erfahrungen ab. Erhebt jemand die Hand gegen uns, werden wir reflexartig unsere Hände zum Schutz vors Gesicht halten. Finden wir uns in einem unangenehmen Gespräch wieder, in dem wir angebrüllt werden, kramen wir, metaphorisch gesprochen, in der »Soziale-Erfahrungen-Sektion« unseres Rucksacks. Haben Sie schon früh gelernt, sich gegen verbale Angriffe zu wehren, werden Sie Ihrem Gegenüber schnell klarmachen, dass Sie nicht so mit sich umspringen lassen. Gab es in Ihrer Kindheit jedoch Menschen, die Ihnen gegenüber regelmäßig laut wurden, werden Sie womöglich eine passive Schutzhaltung einnehmen und die Tirade still und gebückt über sich ergehen lassen.

Sie sehen: Dieser Rucksack ist auch für Führungskräfte ein wichtiger Referenzpunkt, den es zu beachten gilt. Bereits mit 30 oder 35 Jahren hat eine Führungskraft eine Menge positive und negative Erfahrungen gemacht, die in ihrem Rucksack programmiert sind. Jeder Mitarbeitende, der mit seinem Verhalten an diese Erfahrungen erinnert, löst unweigerlich instinktive Reaktionen aus, die im Moment vielleicht als gut und richtig empfunden werden – aber deswegen nicht unbedingt die besten Entscheidungen sind.

Wir reagieren auf gegenwärtige Erlebnisse instinktiv so, wie ähnliche frühere Erfahrungen uns geprägt haben.

Aber natürlich ist das nur eine Seite des Ganzen: Denn schließlich tragen nicht nur Führungskräfte, sondern alle Menschen ihre persönlichen Rucksäcke. Somit treffen in Wahrheit bei jeder zwischenmenschlichen Begegnung Rucksack auf Rucksack bzw. persönliche Erfahrungen auf persönliche Erfahrungen. Unbewusst in Kauf genommen ergibt das einen Emotionsbaukasten ohne Anleitung, der Sympathie, Hass, Gleichgültigkeit, Anziehung, Unbehagen und viele andere Dinge zwischen zwei Menschen hervorbringen kann.

Das alles passiert dank der menschlichen Spiegelneuronen in Sekundenbruchteilen und manchmal sogar, ohne dass dabei ein einziges Wort gewechselt werden muss. Menschen sind in der Lage, ihre Rucksäcke in wenigen Momenten abzugleichen und dadurch zu erkennen, ob ihnen ihr Gegenüber sympathisch ist oder nicht.


Wir gleichen in den ersten MInuten unseres Aufeinandertreffens Rucksäcke ab.

Instinktiv auf der Suche nach sich selbst

Aber warum erzählen wir Ihnen das an dieser Stelle und was hat das denn nun mit Führungsverhalten zu tun?

Es ist nicht nur wichtig für Sie, dass Sie erkennen, dass Sie einen persönlichen Instinkt-Rucksack mit sich herumtragen, wie sie ihn im Laufe der Zeit zusammengestellt haben und wie er unbewusst ihr Verhalten beeinflusst – für Sie als (angehende) Führungskraft ist es besonders wichtig, dass Sie auch erkennen, wie maßgeblich er alle Ihre Entscheidungen beeinflusst.

Ein Beispiel: Wenn Führungskräfte ihr Team personell zusammenstellen bzw. verändern oder aufstocken, hat dieser Rucksack meistens eine sehr maßgebliche Funktion. Üblicherweise endet der Prozess damit, dass das Team in seiner Gesamtheit nicht sehr viel anders tickt als der Chef selbst. Oder anders formuliert: Aufgrund ähnlicher Hintergründe, Ansichten, Erfahrungen und Weltbilder kommt man gut miteinander aus.

Ist das gut? Auf den ersten Blick schon. Wer fühlt sich nicht gerne wohl und wertgeschätzt in einer Gruppe? Aber wenn man ein bisschen hinter den Wellnessaspekt der Entscheidung blickt (oder blicken lässt), zeigt sich, dass man mit der Entscheidung für jene, die so ähnlich ticken wie man selbst, der Gruppe einen wichtigen Faktor von vornherein genommen hat: den anderen Blickwinkel, die anderen Ideen, den anderen Background, die neuen Sichtweisen. Doch genau das ist für ein Team, eine Gruppe, eine Abteilung, eine Organisation wichtig, um neue Lösungen zu finden.

Dieser typischen Rucksack-Entscheidung begegnen Sie, wenn sie bewusst hinschauen, wahrscheinlich auch in Ihrem Freundeskreis oder in Gruppen, denen Sie auf Social Media angehören. Bei ähnlichen Erfahrungen und Haltungen fühlen wir uns »instinktiv wohl«. Dort können wir auch Dinge gut annehmen, weil wir zu wissen glauben: Der oder die andere versteht uns.

Problematisch wird es aber, wenn wir im Berufsleben auf Menschen treffen, die offensichtlich ganz anders ticken als wir selbst. Doch dabei stoßen – wenn wir noch einmal gemeinsam in die Metaebene wechseln – lediglich zwei Menschen mit völlig verschieden gepackten Rucksäcken aufeinander und reagieren instinktiv ablehnend aufeinander.

Werfen Sie doch noch einmal einen Blick auf die Grafik von Seite 45. Sie werden erkennen, dass die andere Person weder »böse« ist, noch Ihnen etwas Böses will. Sie hat lediglich andere Erfahrungen als Sie.

Die Erkenntnis, dass Menschen in der Regel nichts »Böses« tun, sondern vielmehr aufgrund von fehlender Erfahrung, Unwissenheit oder auch aus Überzeugung andere Wege als »richtig« empfinden, ist eine wesentliche Erkenntnis für Führungskräfte, die als Leader agieren wollen. Der Weg dorthin führt über die bewusste Auseinandersetzung mit dem eigenen Rucksack und das Aha-Erlebnis, dass es in der Begegnung mit anderen auf elementarer Ebene um unterschiedliche Erfahrungen und nie um vordergründige persönliche Geringschätzung geht.

Wer anderen eine andere Meinung nicht mehr grundsätzlich krummnimmt, ist dazu in der Lage, einen geraden Weg zu gehen und vorzuzeigen. Wer das Verhalten anderer nicht mehr persönlich nimmt, kann als Person beeindrucken und im Idealfall auch andere damit authentisch, wertschätzend und respektvoll führen.

 

Stellen Sie sich folgende Fragen:

 Was habe ich in meinem Rucksack, das meine Führung beeinflusst?

 An welche Person erinnert mich mein größter Rivale oder Feind im Unternehmen?

 Welches Teammitglied kann ich nicht leiden? An wen erinnert mich diese Person?

 Welches Umfeld brauche ich, um gut führen zu können?

 Vertraue ich meinen Instinkten?

 Wie kann ich in nächster Zeit meine Instinkte schärfen?

Leader sind unweigerlich in Kontakt mit Menschen. Dabei ist wichtig, welche Rolle Sie einnehmen, an wen Sie jemanden erinnern und was andere in Ihnen auslösen. Ihr Rucksack führt Sie und stellt Sie gleichzeitig immer wieder vor neue Herausforderungen im Alltag.


Aufwachen und aufmachen – Antworten und Lösungen in sich selbst finden

Die Dinge einigermaßen klar zu erkennen und nicht mehr alles persönlich zu nehmen, ist jedoch nur ein erster Schritt. Letztlich müssen die neuen Erkenntnisse auch ins Tun einfließen. Nur dann macht man »etwas aus sich«, das auch für andere erlebbar ist.

Aber wie kommt man dorthin? Der klassische und manchmal auch einzig denkbare Weg ist für viele die Teilnahme an möglichst vielen Führungsworkshops. Nur das – so glauben viele – bringt einen auf den richtigen Kurs, ins »bessere Führen«.

Wir wollen in keiner Weise abstreiten, dass Workshops und Lehrgänge tatsächlich gut und sinnvoll sind. Allerdings ist es einer der größten Fehler, zu glauben, dass ein Workshop oder eine ähnliche Veranstaltung jegliche Arbeit an sich selbst 100-prozentig ersetzt und Menschen an zwei, drei Workshop-Tagen wie von Zauberhand in Leadertypen verwandelt.

Trotz aller Ambitionen auf ein wichtiges Führungstool, das im Rahmen eines Workshops vielleicht kurz angesprochen und auch kurz geübt werden kann, vergessen viele etwas, das man eigentlich schon davor entdecken, trainieren und wertschätzen muss und dem man zu vertrauen lernen sollte: die eigene Wahrnehmung.

Tatsächlich ist die Wahrnehmung jenes menschliche Werkzeug, das heutzutage in unseren Breiten am wenigsten geschult wird, obwohl es speziell in der Führung anderer Menschen am dringendsten benötigt wird.

Die menschliche Wahrnehmung ist eine Gabe, die – virtuos eingesetzt – sogar manchmal wie Magie wirken kann: Wir können prinzipiell, ohne ein Wort zu wechseln, erkennen, wie es jemand anderem geht. Das ist eine Basiseigenschaft, mit der wir alle von Kindheit an ausgestattet sind. Und simpel ist sie auch noch: Wir nehmen Dinge wahr und verhalten uns danach.

Auch wenn uns als Kinder vielleicht noch die nötigen Worte fehlen, um uns adäquat verbal auszudrücken, sind uns Eindrücke und Empfindungen von außen nicht nur vertraut, sondern wir suchen sie geradezu. Das Gras der Wiese unter den nackten Füßen zu spüren, ist für viele Erwachsene geradezu eine Klischee-Empfindung für eine unbeschwerte Kindheit und Jugend. Und dennoch wiederholen wir sie später so gut wie kaum bewusst – vielleicht einmal im Jahr, wenn mit uns im Sommerurlaub die nostalgischen Pferde durchgehen. Aber selbst dann kommt uns das schnell irgendwie albern oder auch enttäuschend vor, weil es die erlebte Erfahrung mit der in der Erinnerung abgespeicherten doch nicht aufnehmen kann.

Die menschliche Wahrnehmungsebenen: erkennen, verstehen, sich selbst wahrnehmen

Wie ist es möglich, dass unsere Wahrnehmung mit steigendem Alter dermaßen abstumpft? Warum fühlen wir manchmal sogar gar nichts mehr? Die traurige Wahrheit ist, dass die Wahrnehmung ein sehr sensibles menschliches Spezialinstrument ist, das bei »Überbelastung« schnell kaputtgehen kann oder etwas ist, das man unbewusst auch sehr oft ganz ausschaltet, um sich zu schützen. Dafür verantwortlich ist letztlich jede und jeder selbst.

Mögliche Auslöser gibt es entlang des Lebensweges viele: Menschen, die Grenzen überschreiten, keine Distanz einhalten, uns einfach so viel zumuten, dass wir uns künftig lieber auf unser rationales Wissen verlassen, anstatt auf unser Bauchgefühl zu hören. Und so sehr uns Wissen dienlich sein kann: Wenn es in manchen Situationen die Oberhand gewinnt, indem es zu Vorsicht, Distanz und Oberflächlichkeit »rät«, berauben wir uns selbst eines zutiefst menschlichen Sinns, der uns (an dieser Stelle ein gedanklicher Gruß an Viktor und Hermine ins Robotiklabor) dann womöglich wirklich zu Führungsrobotern werden lässt.

Wissen ist bekanntlich Macht – aber es ist nicht alles und es benötigt Updates. Was man im Kopf hat, reicht also nicht aus, um aus der Perspektive eines Leaders einen guten Job als Führungskraft zu machen.

Schauen wir uns das anhand eines konkreten und plakativen Beispiels an: Vielleicht haben Sie vor Jahren in einem Buch über Körpersprache gelesen, dass vor der Brust verschränkte Arme bei einem Gegenüber nur eines bedeuten können: Ablehnung auf allen Ebenen! Verlassen Sie sich 100-prozentig auf dieses Wissen (auf diese rationale Wahrnehmung und Erfahrung), werden Sie bei sämtlichen Meetings, in denen jemand die Arme verschränkt, auf eine vermeintliche Ablehnung Ihrer Person, Ihrer Botschaft oder Ihrer Position reagieren. Wenn Sie aber Ihre anderen Sensoren (Ihr Bauchgefühl) einsetzen, würden Sie vielleicht etwas ganz anderes wahrnehmen: Möglicherweise ist Ihr Gegenüber trotz verschränkter Armer hochkonzentriert, gelassen, interessiert. Vielleicht hat er einen Tennisarm oder eine Mausschulter und verschafft sich mit den verschränkten Armen lediglich eine halbwegs schmerzfreie Körperhaltung. Wenn Sie dieser Wahrnehmung (ganz oder auch nur zu einem Teil) vertrauen, ändert sich auch sofort Ihre eigene Haltung und das Gespräch nimmt höchstwahrscheinlich einen völlig anderen Verlauf als nach der rein rationalen Wahrnehmung.

Halten wir fest:

 Rationale Wahrnehmung basiert auf Wissen und Erfahrung, also auf Vergangenem.

 Bauchgefühl basiert auf realer Erfahrung im Moment.

Um Bezug auf das schöne Rucksack-Bild aus dem vorigen Kapitel zu nehmen: Rationale Wahrnehmung ist zu einem Großteil in unserem persönlichen »Rucksack« beheimatet, in dem all unsere Erfahrungen – positive wie negative – verstaut sind. Schauen wir uns kurz im Detail an, was wir dort noch finden: unvergessliche Glücksmomente mit Menschen, die wir geliebt haben, aber auch die enttäuschte Liebe. Genauso finden sich im Rucksack vergangene Erfahrungen in Jobs – gute und schlechte, bedeutungslose und katastrophale. Beim Durchwühlen würden wir auch Gefühltes finden, das zu einer Zeit passiert ist, an die wir uns nicht bewusst erinnern können (z. B. Erlebnisse als Säugling).

Um es auf den Punkt zu bringen: Alles, was Menschen mit uns gemacht haben, was wir selbst mit uns gemacht haben und was wir erlebt haben – also alle Erfahrungen – sind in unserem Rucksack aufbewahrt. Auf manches können wir nicht bewusst, sondern nur über unser Unterbewusstsein zugreifen.

Und das Unterbewusstsein greift ziemlich oft in den Rucksack: Jede Begegnung mit Menschen lässt das Unterbewusstsein aktiv werden und es vergleicht sie mit früheren Erfahrungen. Je größer die Anzahl früherer Begegnungen und Situationen, desto größer sind die Möglichkeiten des Abgleichs. Sind Sie bisher nur relativ wenigen Menschen begegnet, wird Ihre Wahrnehmung schwächer ausgeprägt sein. Ein praller Rucksack wird zu einer prallen Einschätzungsfähigkeit führen.

Natürlich ist alles weitaus komplexer, als wir es hier schildern: Neben dem Rucksack und unserem Bauchgefühl spielt auch die Körperlichkeit eine Rolle. Klarer formuliert: Der Mensch (bzw. sein Unterbewusstsein) kann andere auch über Einfühlungsvermögen – besser bekannt unter Empathie – wahrnehmen. Empathie ist sogar mehr als »nur« passive Wahrnehmung, sondern hat auch eine wichtige aktive Komponente: Sie vereint Einfühlungsvermögen und die angemessene Reaktion auf die Gefühle von anderen.

Was das mit Körperlichkeit zu tun hat? Sie kennen vielleicht folgende Reaktionen ihres Körpers auf Musik oder einen Vortrag oder ein Gespräch: Gänsehaut, Bauchkribbeln, Nervosität. Diese Phänomene sind Ausdruck einer Qualität, die eigentlich seelischer Natur ist und die sich so auch physisch manifestiert.

Empathie komplettiert die für Leader wichtigen Ebenen der Wahrnehmung: rationale Wahrnehmung, dann das sogenannte Bauchgefühl und schließlich die seelische Wahrnehmung. Diese drei Ebenen helfen Leadern, ein Gegenüber – ohne Worte bzw. Dialog – wahrzunehmen und einzuschätzen.

Lust auf ein kleines Experiment, das Sie all das, was wir theoretisch behauptet haben, auch in der Praxis erfahren lässt? Sie brauchen dazu nur 15 Minuten in einer kommenden Besprechung oder einem Teammeeting.

Ihr Auftrag bei dieser Gelegenheit: Suchen Sie sich eine Teilnehmerin oder einen Teilnehmer aus und beobachten Sie diese oder diesen 10 bis 15 Minuten lang bewusst. Wählen Sie eine Person, die sie nicht wirklich kennen, mit der Sie nach dem Meeting aber die Möglichkeit haben, ein kurzes Gespräch zu führen.

Phase 1: Rationale Wahrnehmung

Notieren Sie sich alles, was Ihnen während der Beobachtung auffällt – auch wenn es noch so unbedeutend sein mag: Trägt die Person zum Beispiel eine farblich auf den Rest der Kleidung abgestimmte Krawatte oder Schuhe? Trägt sie die Haare länger als andere Personen im Raum? Wie gepflegt wirken Hände und Fingernägel? Sind die Haare gefärbt?

Phase 2: Emotionale Wahrnehmung

Halten Sie kurz inne und geben Sie dann das »Wahrnehmungszepter« an Ihr Gefühl weiter: Was nehmen Sie jetzt wahr? Wirkt Ihr Gegenüber traurig oder nervös? Spielt sie oder er mit einem Stift oder wackelt mit den Beinen? Fährt sie oder er sich nervös durch die Haare und lässt den Blick unruhig durch den Raum schweifen? Oder ruht sie oder er in sich und bleibt auch körperlich entspannt und ruhig?

Alles, was Sie bis jetzt gesehen haben, sind Fakten und rein subjektive Wahrnehmungen, die sich auf Ihre eigenen Gefühle und Stimmung beziehen und von Ihrer Persönlichkeit (und Ihrem Rucksack) interpretiert wurden. Wichtig ist, dass Sie all diese Wahrnehmungen im Moment und ohne nachzudenken schriftlich festhalten! Nehmen Sie sich dafür 10 bis 15 Minuten Zeit!

Phase 3: Analyse

Nun sollten Sie genug wahrgenommen haben, um mindestens drei Annahmen über das Wesen des beobachteten Menschen formulieren zu können, zum Beispiel diese:

 Was zeichnet diese Person aus?

 Worin ist sie gut?

 Womit hat sie Schwierigkeiten?

 Worauf ist sie stolz?

Phase 4: Check

Nach dem offiziellen Ende des Meetings ist es Zeit, Ihre getroffenen Annahmen zu überprüfen und aktiv auf die Person zuzugehen. Stellen Sie sich vor und kommen Sie mit der Person ins Gespräch! Um Ihre Annahmen bestätigt zu bekommen, sind wahrscheinlich gezielte Fragen notwendig, die das Gespräch in die gewünschte Richtung lenken. Wenn Sie also etwa angenommen haben, dass die Person sehr korrekt ist und heute sehr nervös war, fragen Sie einfach »Wie geht es Ihnen?«, »Haben Sie heute noch andere Termine?« oder »Was ist Ihr Spezialgebiet?«. Auch wenn Sie wahrscheinlich keine direkten Antworten auf Ihre Annahmen erhalten werden – es wird genug Input kommen, um Ihnen ein Gefühl dafür zu geben, ob Sie halbwegs richtig oder komplett falsch lagen. Das Wichtigste ist jedoch, dass Sie Ihr Wahrnehmungsvermögen bewusst eingesetzt und reflektiert haben. Denn auch Phase 4 ist bewusstes Wahrnehmen – diesmal allerdings in aktiver Verbundenheit und nicht nur auf dem Fundament Ihres eigenen Rucksacks und Ihrer bisherigen Erfahrungen. Es ist neuer Input, der Ihnen für die Zukunft Mut gibt, wahrzunehmen und nachzufragen.

Sie lernen durch ihre bewusstere Wahrnehmung einerseits andere Menschen besser kennen, andererseits vertrauen Sie wieder öfter Ihren Instinkten. Nur zur Erinnerung, falls Sie noch Bedenken haben sollten: Diese Gabe zur bewussten Wahrnehmung tragen Sie von Geburt an in sich! Als Kind haben Sie dieses Talent zur Wahrnehmung ständig verwendet. Sie konnten gar nicht anders, weil Ihnen andere Mitteln noch nicht zur Verfügung standen. Babys tun nichts anderes, als den ganzen Tag Stimmungen wahrzunehmen. So erkunden sie Menschen um sich herum: Wahrnehmen ohne Urteil. Auf Basis dieser Inputs ziehen sie ihre Schlüsse und agieren dementsprechend.

 

Gehen Sie also zurück zu Ihren Wurzeln und in eine Zeit, als Ihr Rucksack noch ziemlich leer war. Vertrauen Sie Ihrer Wahrnehmung wieder etwas mehr und holen Sie sich die entsprechende Bestätigung, dass Sie sich auf Ihre Wahrnehmung verlassen können. Denn ein intakter Instinkt ist eines der wichtigsten Tools, die Sie als Leader benötigen!

Ein feiner Unterschied

Ronja und Heiko waren seit einigen Jahren Kollegen in einem großen internationalen Konzern. Auch wenn sie in zwei verschiedenen Ländern arbeiteten und sich – wenn überhaupt – nur einmal im Jahr persönlich sahen, waren sie einander menschlich verbunden. »Auf einer Wellenlänge«, wie man so sagt. Das Bemerkenswerte daran war, dass sie nicht einmal im selben Unternehmensbereich tätig waren, aber dennoch im Rahmen von abteilungsübergreifenden Projekten immer wieder miteinander zu tun hatten. Aber auch über die reine Arbeit hinaus tauschten sie sich ein- bis zweimal pro Woche über Mail, Chat oder Telefon aus. Sie erkundigten sich, wie es beim anderen so läuft, und fragten nach, ob sie einander unterstützen könnten. Und diese Fragen allein waren in gewissen Situationen oft schon die wichtigste Unterstützung von allen.

Speziell Ronja fühlte sich mit einigen Aufgaben manchmal alleingelassen und hatte darüber hinaus noch das Problem, dass sie manchmal mit ihrem geringen Selbstvertrauen zu kämpfen hatte. Da sie an ihrem Standort die Einzige aus ihrer Abteilung war und kein direkter Vorgesetzter vor Ort greifbar war, lag es oft an ihr, Dinge zu gestalten und zu entscheiden – eine Situation, die ihr nicht immer behagte. Und obwohl sie ihre Arbeit gut machte, fehlte ihr noch immer die nötige Sicherheit, um persönlich den entscheidenden nächsten Schritt zu machen und die quälenden Fragen loszuwerden, die sie sich immer wieder aufs Neue stellte: »Bin ich wirklich gut in meinem Job?«, »Sind meine Entscheidungen richtig?«, »Wird meine Leistung anerkannt?«, »Werde ich als Person anerkannt?«

Bei einem wichtigen internationalen Projekt fanden sich Ronja und Heiko wieder einmal in einem gemeinsamen Projektteam wieder. Ronja hatte sogar die Leitung inne, obwohl viele wichtige Persönlichkeiten des Unternehmens auch mit im Team waren, die leider sehr entgegengesetzte Meinungen dazu hatten, welche Schritte man setzen sollte.

Während einer Telefonkonferenz, bei der diese Meinungen aufeinanderprallten, hörten Ronja und Heiko, jeder in seinem Büro sitzend, nicht nur zu, sondern schrieben sich parallel dazu auch über den firmeninternen Chat ihre Eindrücke.

Ronja: »Ich kenne mich überhaupt nicht mehr aus.«

Heiko: »Ich auch nicht, ehrlich gesagt. Jeder will etwas anderes.«

Ronja: »Das Beste wäre, ich melde mich krank und lass andere entscheiden.«

Heiko: »Nicht aufgeben. Alles wird sich klären.«

Doch nach Ende der Telefonkonferenz, in der Ronja wie gewohnt sehr leise und zurückhaltend geblieben war, hatte sich nicht viel geklärt. Also griff sie danach abermals zum Hörer, um persönlich mit Heiko nicht nur über das Projekt, sondern vor allem über ihre eigene Leistung mit jemand zu sprechen, dem sie vertraute und bei dem sie ganz offen sein konnte.

Im Gespräch zu zweit äußerste sie zunächst ihre gewohnten Selbstzweifel. Doch dann lieferte sie plötzlich eine messerscharfe Analyse der Probleme, zeigte Verständnis für die unterschiedlichen Positionen und schlug schließlich nächste Schritte vor, die mit hoher Wahrscheinlichkeit alle Hindernisse, die noch vor Kurzem als unüberwindbar erschienen, beseitigen würden.

Heiko war beeindruckt: »Wahnsinn. Das ist ... genial! Wieso hast du bei der Telefonkonferenz nichts gesagt? Und wieso kannst du es jetzt – nur fünf Minuten später – bei mir?«

Ronjas Antwort: »Weil du mir wirklich zuhörst.«

Sie schickte daraufhin ihre Gedanken in einer Mail an alle Projektbeteiligten, brachte das Vorhaben wieder auf Kurs und Wochen später auch zu einem erfolgreichen Abschluss.

Heiko wurde erst viel später bewusst, dass sein wichtigster Anteil an dem Erfolg gewesen war, seiner Kollegin in einem entscheidenden Moment bewusst eine Möglichkeit gegeben zu haben, sich selbst zuzuhören.

Als die beiden Jahre später Mitarbeiterverantwortung hatten, erinnerten sie sich bei ihren wöchentlichen Gesprächen, die sie nach wie vor führten, oft an das damalige Projekt und an den Durchbruch.

Heiko: »Weißt du, was mir damals klar geworden ist?«

Ronja kannte die Antwort natürlich, aber sie wollte es von Heiko hören und sagte: »Schieß los!«

Heiko: »Es ist oft gar nicht so wichtig, wer das Sagen hat, sondern wer anderen die Möglichkeit gibt, angstfrei zu sprechen und sich so vor sich selbst zu beweisen.«

Ronja erwiderte lächelnd: »Das ist für mich noch immer die schönste Erklärung für Empathie, die ich kenne.«

Spiegelneuronen – unsere unfehlbaren Wahrnehmungshelfer

Aber wie funktioniert das eigentlich alles? Womit nehmen wir andere – abgesehen von unseren körperlichen Sinnen– wahr? Wo entsteht der Funke der Erkenntnis in uns?

Hier kommt etwas ins Spiel, das zutiefst menschlich ist, uns aber gleichzeitig fremd bzw. sogar fantastisch erscheint: die menschlichen Spiegelneuronen. Wir müssen lächeln, wenn der andere lächelt. Wir müssen weinen, wenn der andere weint. Wir können durch Beobachtung Verhaltensweisen übernehmen oder »nur« erkennen. Auf den Punkt gebracht: Spiegelneuronen ermöglichen es uns, zu erkennen, was der andere gerade fühlt oder was in ihm vorgeht. Mehr noch: Sie geben uns auch die Möglichkeit zu erkennen, was der andere gerade braucht oder zu tun beabsichtigt.

Gerade bei Personen, die einander sehr gut kennen, wird dieses Phänomen oft und deutlich sichtbar – bis hin zu dem Punkt, an dem sie gleichzeitig und synchron eine Aussage tätigen. Aber auch bei Menschen, die einander völlig fremd sind, funktionieren Spiegelneuronen und statten uns mit einem einzigartigen Talent aus, das wir auf vielfältige Weise – auch in der Führung – einsetzen können. Denn letztlich »senden« und »empfangen« wir Menschen permanent im Austausch mit anderen.

Ein kurzer Blick zurück: Menschliche Kommunikation hat ihren Ursprung im motorischen System des Körpers. Das sogenannte »Broca-Areal«, das die Spracherzeugung steuert, liegt im motorischen Teil der Hirnrinde und ist direkt mit dem Spiegelneuronen-System verbunden. Die menschliche Sprache hat sich nicht aus Vokalisation (zum Beispiel aus Warnrufen) entwickelt, sondern aus Gesten (motorischen Aktionen). Daher beruht das Verstehen der Sprache letztlich auf der inneren Nachbildung des motorischen Handelns anderer.

Der italienische Neurophysiologe Giacomo Rizzolatti und sein Forschungsteam gelten als Entdecker des Spiegelneuronen-Systems. Sie wiesen seine Existenz 2002 im Brodmann-Areal des menschlichen Gehirns nach. Dieses Areal hatte Rizolatti mit »Action Recognition« (Wiedererkennung von Handlungen) und Imitation in Verbindung gebracht.

Eine 2010 publizierte Studie (»Single-Neuron Responses in Humans during Execution and Observation of Actions«) berichtete dann schließlich über den ersten direkten Nachweis von Spiegelneuronen beim Menschen. Einem Team der University of California unter der Leitung von Roy Mukamel war der direkte Nachweis von Motoneuronen, den Nervenzellen, die das Phänomen der Wechselwirkung möglich machen, gelungen. Das Team beobachtete die Hirnaktivität von 21 Versuchspersonen, denen Elektroden ins Gehirn implantiert worden waren, im Rahmen diverser Wahrnehmungstests.

Spiegelneuronen zeichnen sich dadurch aus, dass sie sowohl auf das eigene Durchführen einer Aktion als auch auf die Beobachtung dieser Aktion bei anderen Menschen – eine gespiegelte Aktion – völlig identisch reagieren: Sie geben elektrische Impulse ab. Wir erleben das als Intuition.

Spiegelneuronen helfen uns also intuitiv dabei, Menschen wahrzunehmen. Doch nicht immer läuft diese Gabe einflussfrei ab. Unser persönlicher Rucksack spricht – wie schon erwähnt – immer ein Wörtchen mit. Es ist also nicht ratsam, immer nur auf den Kopf oder nur auf den Bauch zu hören. Darum ist die Kombination unserer Wahrnehmungen auf rationaler Ebene, empathischer Ebene und von körperlichen Reaktionen so wichtig. Oder mit anderen Worten: Das Gesamtpaket der Wahrnehmung muss stimmig sein!

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?