Assessorexamen im Öffentlichen Recht

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5. Häufig wiederkehrende prozessuale Fragestellungen

309

Im Folgenden werden typische Fallkonstellationen im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung einer Klage angesprochen, die in Klausuren in gleicher oder ähnlicher Weise regelmäßig vorkommen. Es empfiehlt sich sehr, diese prozessualen Fragestellungen zu beherrschen.

a) Die Untätigkeitsklage

310

Fall:

A hat Klage erhoben, weil auch nach vier Monaten noch nicht über seinen Antrag auf Erteilung einer Gaststättenerlaubnis entschieden worden ist. Welche Klageart ist statthaft?

311

Die Klage ist als Verpflichtungsklage statthaft und auch sonst zulässig. Nach § 75 Sätze 1 und 2 VwGO ist die Klage zulässig, wenn über einen Antrag auf Erlass eines Verwaltungsaktes ohne zureichenden Grund nach drei Monaten nicht entschieden ist. Soweit in solchen Fällen in Klausurlösungen formuliert wird, die Klage sei „als Untätigkeitsklage im Sinne des § 75 VwGO“ zulässig, ist dies zumindest missverständlich. Die Untätigkeitsklage nach § 75 VwGO ist keine eigenständige Klageart. Die Vorschrift regelt lediglich, dass eine Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage unter den dort genannten Voraussetzungen abweichend von den sonst geltenden Zulässigkeitsvoraussetzungen zulässig ist. Insofern enthält § 75 VwGO keine Regelung über die Statthaftigkeit einer Klage, sondern über die Zulässigkeit einer als Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage statthaften Klage.

b) Die isolierte Anfechtung des Widerspruchsbescheides

312

Fall:

Schulleiter S hat über die Aufnahme von Schülern nach Ermessen zu entscheiden (vgl. z. B. § 46 Abs. 1 SchulG NRW). Er hat den Aufnahmeantrag des Schülers A ermessensfehlerfrei abgelehnt. Auf den statthaften Widerspruch des A ändert die Bezirksregierung als zuständige Widerspruchsbehörde die Ermessenserwägungen des S und weist den Widerspruch des A zurück. Die Ermessenserwägungen der Bezirksregierung sind ermessensfehlerhaft. A erhebt Klage gegen die Bezirksregierung mit dem Antrag, den Widerspruchsbescheid aufzuheben. Ist die Klage zulässig?

Nach § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO ist Gegenstand der Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 VwGO) der ursprüngliche Verwaltungsakt in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid gefunden hat. Der Widerspruchsbescheid allein kann unter den Voraussetzungen des § 79 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 VwGO Gegenstand einer Anfechtungsklage sein. Auch diese Vorschriften regeln ebenso wie § 75 VwGO keine eigenständige Klageart („isolierte Anfechtungsklage“), sondern lediglich die Voraussetzungen, unter denen Gegenstand einer Anfechtungsklage abweichend von § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO nur der Widerspruchsbescheid sein kann. § 79 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 VwGO sind deshalb im Rahmen des Prüfungspunktes „Statthaftigkeit der Klage“ zu erörtern.

313

Ob im Beispielsfall die Voraussetzungen für eine isolierte Anfechtung des Widerspruchsbescheides vorliegen, ist strittig. Nach § 79 Abs. 1 Nr. 2 VwGO ist Gegenstand der Anfechtungsklage der Abhilfebescheid oder Widerspruchsbescheid, wenn dieser erstmalig eine Beschwer enthält. Der Widerspruchsbescheid kann nach § 79 Abs. 2 S. 1 VwGO auch dann alleiniger Gegenstand der Anfechtungsklage sein, wenn und soweit er gegenüber dem ursprünglichen Verwaltungsakt, also dem Ausgangsbescheid, eine zusätzliche selbstständige Beschwer enthält. Unter welchen Voraussetzungen eine erstmalige oder zusätzliche Beschwer anzunehmen ist, ist teilweise strittig. Einigkeit besteht darüber, dass eine solche Beschwer anzunehmen ist, wenn der Widerspruchsbescheid den Tenor des Ausgangsbescheides in einer für den Betroffenen nachteiligen Weise ändert. Das ist im Beispielsfall nicht geschehen, weil die Widerspruchsbehörde den Widerspruch ohne Änderung des Tenors des Ausgangsbescheides zurückgewiesen hat. Eine nachteilige Änderung des Ausgangsbescheides liegt aber nicht nur vor bei einer Änderung der Sachentscheidung, sondern auch bei einer Änderung der Kostenentscheidung[107] sowie der Verletzung einer wesentlichen Verfahrensvorschrift im Sinne des § 79 Abs. 2 S. 2 VwGO. Ob Begründungsmängel des Widerspruchsbescheides, insbesondere ermessensfehlerhafte Erwägungen der Widerspruchsbehörde, eine Beschwer im Sinne des § 79 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 S. 1 VwGO begründen, ist strittig.[108] Da die Ermessenserwägungen einen wesentlichen Teil des Verwaltungsaktes darstellen und ihre besondere Bedeutung bei der gerichtlichen Überprüfung etwa in § 114 VwGO hervorgehoben wird, spricht Vieles dafür, bei ermessensfehlerhaften Erwägungen der Widerspruchsbehörde die isolierte Anfechtung des Widerspruchsbescheides zuzulassen. Im Beispielsfall ist danach die Anfechtungsklage des A gegen den Widerspruchsbescheid statthaft.

c) Die Anfechtbarkeit von Nebenbestimmungen

314

Die Frage nach der Anfechtbarkeit von Nebenbestimmungen (§ 36 VwVfG) ist sehr klausurrelevant. Seit dem Jahr 2000 geht die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts[109] und ihr folgend die überwiegende Auffassung in der Rechtslehre[110] davon aus, dass sämtliche Nebenbestimmungen gemäß § 36 Abs. 2 VwVfG (NRW) selbstständig mit der Anfechtungsklage angefochten werden können. Nur bei den modifizierenden Auflagen, die Inhaltsbestimmungen des Verwaltungsaktes sind, sei eine Verpflichtungsklage auf Erlass des Verwaltungsaktes ohne die modifizierende Auflage statthafte Klageart. Ob der Verwaltungsakt auch ohne die angefochtene Nebenbestimmung Bestand haben kann, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (nur) eine Frage der Begründetheit der Klage. Zur Begründung der selbstständigen Anfechtbarkeit von Nebenbestimmungen gemäß § 36 Abs. 2 VwVfG kann in einer Klausurlösung insbesondere auf § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO hingewiesen werden. Die dort enthaltene Formulierung, „soweit“ der Verwaltungsakt rechtswidrig ist, macht deutlich, dass auch Teile des Verwaltungsaktes selbstständig angefochten werden können.[111]

d) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

315

Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand spielt in den Klausuren in den unterschiedlichsten Fallvarianten eine große Rolle.

316

aa) Die Versäumung einer Rechtsbehelfsfrist kann auf einem Tatsachen- oder Rechtsirrtum beruhen. Rechtfertigen keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Die unrichtige Beurteilung der Erfolgsaussichten eines Rechtsbehelfs aus tatsächlichen Gründen ist ebenso wenig ein Hinderungsgrund i.S.d. § 60 Abs. 1 VwGO wie die häufig bestehende Ungewissheit über die Erfolgschancen des Rechtsbehelfs. Es wäre mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit nicht vereinbar, in diesen Fällen über eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand die Möglichkeit zu eröffnen, nachträglich erkannte Fehler des Verwaltungsaktes noch geltend machen zu können, auch wenn die Unkenntnis der Fehlerhaftigkeit des Verwaltungsaktes auf einem nicht verschuldeten Irrtum beruht. Denn Sinn der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist es, denjenigen vor den Folgen der Fristversäumnis zu verschonen, der die Rechtsmittelfrist nicht einhalten konnte, nicht aber denjenigen, der kein Rechtsmittel einlegen wollte.[112]

317

bb) Vorsicht ist bei der Klausurbearbeitung geboten, wenn sich nach dem Klausurtext im Zusammenhang mit der Prüfung eines Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand eine „Standardproblematik“ aufdrängt. Im Zweifel ist die Klausur nicht darauf ausgelegt, von den Bearbeitern diese „Standartproblematik“ abzufragen, weil sich die rechtliche Lösung (schon) aus den Besonderheiten des konkreten Einzelfalls ergibt.

Fall:

Der algerische Staatsangehörige A beantragte die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Die Ausländerbehörde lehnte den Antrag mit Bescheid vom 1.3.2020, dem A ordnungsgemäß am 3.3.2020 zugestellt, ab. Der Durchführung eines Vorverfahrens bedarf es nicht. Rechtsanwalt R hat deshalb für A am 4.4.2020 und damit nach Ablauf der Klagefrist Klage erhoben. R beantragt Wiedereinsetzung in den vorigen Stand mit folgender Begründung: Er habe seine Schreibkraft S, die seit 17 Jahren fehlerfrei in seiner Kanzlei arbeite, am 16.3.2020 beauftragt, die Klageschrift anzufertigen. Hierzu sei es jedoch aus heute nicht mehr nachvollziehbaren Gründen zunächst nicht gekommen. Erst am 3.4.2020 habe S die Klageschrift angefertigt. Er, Rechtsanwalt R, habe die Klageschrift noch am gleichen Tag unterschrieben und per Post an das Verwaltungsgericht abgesandt. Wird das Verwaltungsgericht dem A Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewähren?

318

Das Verwaltungsgericht wird die Klage wegen Unzulässigkeit abweisen. A hat keinen Anspruch auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 60 VwGO). Er muss sich gemäß § 173 VwGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO das Verschulden von Rechtsanwalt R zurechnen lassen. Dabei kommt es nicht darauf, ob R ein sog. Organisationsverschulden zu vertreten hat. Ein solches Organisationsverschulden liegt vor, wenn der Rechtsanwalt seine Kanzleikräfte nicht mit der erforderlichen Sorgfalt ausgewählt, angeleitet und überwacht und nicht durch eine zweckmäßige Büroorganisation, insbesondere auch in Bezug auf eine Fristen- und Terminsüberwachung sowie eine Ausgangskontrolle, das Erforderliche zur Versäumung von Fristen getan hat.[113] Auf diese „Standartproblematik“ kommt es im Beispielsfall aber nicht an. Ein Verschulden des R liegt jedenfalls darin, dass er die am 3.4.2020 angefertigte Klageschrift nicht am selben Tag per Telefax oder Boten an das Verwaltungsgericht übersandt hat. Denn er musste davon ausgehen, dass die Übersendung per Post am 3. April 2020 die an diesem Tag ablaufende Klagefrist nicht wahren wird. Das Verwaltungsgericht wird deshalb den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ablehnen.

 

Formulierungsbeispiel:

Die Verpflichtungsklage im Sinne des § 42 Abs. 1 VwGO ist unzulässig. Der Kläger hat die Klagefrist von einem Monat (§ 74 Abs. 1 und Abs. 2 VwGO) versäumt. Die Klagefrist lief am 3.4.2020 ab. Die Klage ist aber erst am 4.4.2020 beim Gericht eingegangen. Wiedereinsetzung in die versäumte Klagefrist (§ 60 VwGO) kommt nicht in Betracht, weil der Kläger die Klagefrist schuldhaft versäumt hat. Er muss sich das Verschulden seines Prozessbevollmächtigten gemäß § 173 VwGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen. Dabei kann dahinstehen, ob ein Organisationsverschulden des Prozessbevollmächtigten vorliegt. Er hat jedenfalls deshalb die erforderliche Sorgfalt nicht beachtet, weil er die Übersendung der am 3.4.2020 angefertigten Klageschrift noch am selben Tag nicht veranlasst hat. Da die Klagefrist am 3.4.2020 ablief, durfte der Prozessbevollmächtigte nicht davon ausgehen, dass die Übersendung der Klageschrift per normaler Post die Klagefrist wahrt.

319

cc) Nicht selten kommt es für die Frage einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand auf den Umfang der erteilten Vollmacht an.

Fall:

Der indische Staatsangehörige A hat Rechtsanwalt R Vollmacht erteilt, in der es heißt: „Die Vollmacht ermächtigt zu allen den Rechtsstreit betreffenden Prozesshandlungen.“. Die Behörde B lehnte den von R für A gestellten Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung mit Bescheid vom 1.3.2020, zugestellt am 3.3.2020, ab. Der Durchführung eines Vorverfahrens bedarf es nicht. Mit Schreiben vom 10.3.2020 fragte R bei A an, ob nunmehr Klage erhoben werden solle. A antwortete zunächst nicht, weil er sich im Urlaub befand. Am 4.4.2020 kehrte A aus dem Urlaub zurück und teilte am gleichen Tag Rechtsanwalt R telefonisch mit, dass selbstverständlich Klage erhoben werden solle. R fertigt noch am gleichen Tag die Klageschrift und übersendet sie per Telefax an das Verwaltungsgericht. Wird das Verwaltungsgericht dem mit der Klage gestellten Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand entsprechen?

Das Verwaltungsgericht wird die Klage wegen Unzulässigkeit abweisen. A hat keinen Anspruch auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Dabei kommt es nicht auf die „Standartproblematik“ an, ob ein Verschulden des A darin liegen könnte, dass er sich ohne hinreichende Vorkehrungen in Urlaub begeben hatte.[114] A muss sich jedenfalls gemäß § 173 VwGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO das Verschulden seines Rechtsanwaltes R zurechnen lassen.

320

Ein Verschulden des R liegt darin, dass er nicht innerhalb der Klagefrist ohne Rücksprache mit A Klage erhoben hat. Die Klageerhebung war ihm nicht nur im Außenverhältnis, sondern auch im Innenverhältnis zu A möglich, weil A ihm unbeschränkte Vollmacht erteilt hatte. Zu den Sorgfaltspflichten eines Rechtsanwalts gehört es, im Rahmen des ihm Zumutbaren dafür Sorge zu tragen, dass seine Mitteilungen den Mandanten zuverlässig und rechtzeitig erreichen. Mit Rücksicht darauf, dass auf die Anfrage eines Rechtsanwalts an seinen Mandanten, ob gegen den Ablehnungsbescheid der Behörde ein Rechtsbehelf eingelegt werden soll, regelmäßig eine Antwort zu erwarten ist, darf es der Rechtsanwalt nicht damit bewenden lassen, dass auf einen einmaligen Benachrichtigungsversuch durch einfachen Brief eine Antwort seines Mandanten ausbleibt. Dies gilt besonders im Ausländer- und Asylrecht, weil bei Ausländern nicht selten Schwierigkeiten bei der Postzustellung auftreten. Eine schuldhafte Versäumung der Rechtsbehelfsfrist liegt deshalb vor, wenn ein Rechtsanwalt bei Ausbleiben einer Antwort seines Mandanten von der Einlegung eines Rechtsbehelfs abgesehen hat, obwohl er nach der ihm erteilten Prozessvollmacht auch ohne ausdrückliche Weisung des Mandanten zu allen einen späteren Rechtsstreit betreffenden Prozesshandlungen ermächtigt war.[115]

321

dd) Im Falle der Versäumung der Widerspruchsfrist (§ 70 Abs. 1 VwGO) ist fraglich, ob die Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage als unzulässig oder als unbegründet abzuweisen ist.

Fall:

A hat gegen einen ihn belastenden Verwaltungsakt Widerspruch, erhoben der als unzulässig zurückgewiesen worden ist. Die Klage des A ist innerhalb der Klagefrist beim Verwaltungsgericht eingegangen. Kann das Verwaltungsgericht die Frage offen lassen, ob A einen Anspruch auf Wiedereinsetzung in die versäumte Widerspruchsfrist hat, und die Klage mit der Begründung abweisen, sie habe jedenfalls in der Sache keinen Erfolg?

322

Nach herrschender Meinung berührt die Frage der Wiedereinsetzung in die versäumte Widerspruchsfrist die Zulässigkeit der Klage. Die Zulässigkeit der Anfechtungs- und Verpflichtungsklage erfordere, dass nicht nur überhaupt ein Vorverfahren, sondern dass dieses auch ordnungsgemäß durchgeführt worden ist.[116] An einer ordnungsgemäßen Durchführung des Vorverfahrens fehlt es aber, wenn der Widerspruch des Klägers unzulässig ist und er keinen Anspruch auf Wiedereinsetzung in die versäumte Widerspruchsfrist hat. Auf der Grundlage der herrschenden Meinung stellt sich damit die im Beispielsfall aufgeworfene Frage, ob die Klage als jedenfalls unbegründet abgewiesen werden kann. Für die Gegenauffassung, nach der es für die Zulässigkeit der Anfechtungs- und Verpflichtungsklage genügt, dass überhaupt ein Vorverfahren durchgeführt worden ist, kommt es auf die Frage dagegen nicht an, weil nach ihrer Auffassung die Klage im Falle der Versäumung der Widerspruchsfrist ohnehin als unbegründet abzuweisen ist.

323

Ob das Verwaltungsgericht die Zulässigkeit der Klage offen lassen und die Klage als jedenfalls unbegründet abweisen kann, ist strittig.[117] Nach einer Auffassung kann die Zulässigkeit der Klage nicht offen bleiben, weil die Abweisung der Klage als unzulässig (Prozessurteil) und die Abweisung als unbegründet (Sachurteil) unterschiedliche Rechtskraftwirkung hat. Nach der gegenteiligen Auffassung kann das Verwaltungsgericht bei Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen die Zulässigkeit der Klage im Interesse der Prozessökonomie offen lassen. Dieser Auffassung ist zuzustimmen. Denn bei der Anfechtungs- und Verpflichtungsklage hat die Unterscheidung zwischen Prozess- und Sachurteil keine durchgreifende Bedeutung (vgl. Rn. 18 f.). Bei einem Prozessurteil kann der Kläger nach Behebung des Zulässigkeitsmangels nicht erneut in zulässiger Weise Anfechtungs- und Verpflichtungsklage mit demselben Streitgegenstand erheben. Bei der Anfechtungsklage wird nämlich der belastende Verwaltungsakt und bei der Verpflichtungsklage der Ablehnungsbescheid bestandskräftig, wenn die Klage als unzulässig abgewiesen wird. Die Bestandskraft steht dem Erfolg einer erneuten Klage über denselben Streitgegenstand entgegen. Denn aufgrund der materiellen Bestandskraft sind mit bindender Wirkung für die Beteiligten deren Rechtsbeziehungen geklärt. Es entspricht deshalb dem Grundsatz der Prozessökonomie und dem Gebot effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG), die Zulässigkeit der Klage offen zu lassen, wenn die Klage mit geringerem Aufwand als jedenfalls unbegründet abgewiesen werden kann.

Formulierungsbeispiel:

Es kann dahinstehen, ob die statthafte Anfechtungsklage wegen Versäumung der Widerspruchsfrist (§ 70 Abs. 1 VwGO) möglicherweise unzulässig ist. Die Klage ist jedenfalls unbegründet. Die Ordnungsverfügung des Beklagten vom 11.2.2020 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).

e) Fehlerhafte Rechtsmittelbelehrungen

324

Die Rechtsbehelfsbelehrung eines Bescheides und auch eines Urteils muss den Anforderungen des § 58 Abs. 1 VwGO entsprechen. Ist das nicht der Fall, gilt die Jahresfrist gemäß § 58 Abs. 2 VwGO.

325

aa) Zum notwendigen Inhalt einer Rechtsbehelfsbelehrung gehört nach § 58 Abs. 1 VwGO eine Belehrung über den Rechtsbehelf, die Verwaltungsbehörde oder das Gericht, bei denen der Rechtsbehelf anzubringen ist, den Sitz der Behörde oder des Gerichts sowie die einzuhaltende Frist. Soweit nur der Sitz der Widerspruchsbehörde, nicht aber der Sitz der Ausgangsbehörde in der Rechtsbehelfsbelehrung mitgeteilt wird, ist dies unschädlich. Es genügt, dass sich der Sitz der Behörde eindeutig und ohne jede Zweifel aus dem Kopf des Bescheides ergibt. Ist das der Fall, so muss der Sitz nicht nochmals in der Rechtsbehelfsbelehrung vollständig genannt werden.[118] Einer Belehrung über den konkreten Beginn der Rechtsbehelfsfrist, etwa im Falle der Bekanntgabefiktion gemäß § 41 Abs. 2 S. 1 VwVfG, bedarf es ebenfalls nicht. Ebenso wenig ist eine Belehrung über den konkreten Fristablauf, etwa über die Bestimmung des Fristendes, wenn dieses auf einen Samstag oder Sonntag fällt, erforderlich.[119]

326

bb) Die Belehrung über den Sitz der Behörde oder des Gerichts nach § 58 Abs. 1 VwGO erfordert eine eindeutige Bezeichnung des Namens und des Sitzes, d.h. des Ortes, der Behörde oder des Gerichts. Die Angabe von Postleitzahl, Straße und Hausnummer ist nicht erforderlich, es sei denn die Zustellung des Rechtsbehelfs ist sonst gefährdet.[120] Eine unvollständige Belehrung über die Erreichbarkeit der Behörde oder des Gerichts kann zur Fehlerhaftigkeit der Rechtsbehelfsbelehrung führen.

Fall:

Ist folgende Rechtsbehelfsbelehrung in einem Ausgangsbescheid in Bezug auf die Belehrung über den Sitz der Widerspruchsbehörde fehlerfrei: „Gegen diesen Bescheid kann bei dem Oberbürgermeister der Stadt Münster oder bei der Bezirksregierung Münster, Postfach 1122, 48143 Münster, Widerspruch erhoben werden.“

327

Die Rechtsbehelfsbelehrung ist fehlerhaft, weil sie irreführend ist. Der Widerspruch kann (selbstverständlich) auch am Sitz der Bezirksregierung und unter der Postanschrift der Bezirksregierung erhoben werden. Die Rechtsbehelfsbelehrung ohne diesen zusätzlichen Hinweis erweckt den Eindruck, dass Widerspruch nur über das Postfach der Bezirksregierung eingelegt werden kann. Insofern wird bei dem Adressaten der Eindruck erweckt, dass er zum Beispiel nicht kurz vor Fristablauf die Frist durch Einwurf des Widerspruchs in den (Haus-) Briefkasten am Sitz der Bezirksregierung wahren kann.

328

cc) Genügt die Rechtsbehelfsbelehrung den Mindestanforderungen des § 58 Abs. 1 VwGO, ist sie gleichwohl fehlerhaft, wenn ihr unrichtige oder irreführende Zusätze beigefügt worden sind. Zusätze, die über den nach § 58 Abs. 1 VwGO vorgeschriebenen Mindestinhalt der Rechtsbehelfsbelehrung hinausgehen, müssen nicht nur richtig und vollständig sein. Sie dürfen darüber hinaus die Rechtsbehelfseinlegung nicht erschweren. Das ist der Fall, wenn die Belehrung objektiv den Adressaten davon abhalten kann, den Rechtsbehelf überhaupt, rechtzeitig oder formgerecht einzuhalten.[121] Eine solche Erschwernis liegt nicht vor, wenn in der Rechtsbehelfsbelehrung an die „Bekanntgabe“ des Bescheides angeknüpft wird, der Bescheid aber tatsächlich zugestellt worden ist. Denn die tatsächlich erfolgte Zustellung ist ein Unterfall der Bekanntgabe (41 Abs. 5 VwVfG).[122]

329

Schwierig sind dagegen die „umgekehrten“ Fälle zu beurteilen, in denen in der Rechtsbehelfsbelehrung nicht auf die Bekanntgabe als Fristbeginn, sondern auf die Zustellung als Fristbeginn hingewiesen wird, tatsächlich aber keine förmliche Zustellung, sondern eine einfache Bekanntgabe erfolgt.

Fall:

In der Rechtsbehelfsbelehrung des Bescheides vom 1.2.2020 heißt es: „Gegen diesen Bescheid kann innerhalb eines Monats nach Zustellung Widerspruch erhoben werden.“. Tatsächlich erfolgt aber keine Zustellung des Bescheides, sondern eine Bekanntgabe durch Übersendung per einfachem Brief.

330

Im Beispielsfall ist die Rechtsbehelfsbelehrung fehlerhaft mit der Folge, dass die Jahresfrist gemäß § 58 Abs. 2 VwGO zu laufen begann. Sie enthält keine ausreichende Belehrung über die Widerspruchsfrist, weil für den Adressaten die Berechnung des Beginns der Widerspruchsfrist gemäß § 70 Abs. 1 S. 1 VwGO nicht hinreichend deutlich ist. Nach dieser Vorschrift beginnt die Widerspruchsfrist mit der Bekanntgabe zu laufen. Da die Zustellung ein Unterfall der Bekanntgabe ist (§ 41 Abs. 5 VwVfG), ist damit die Rechtsmittelbelehrung, wie im Beispielsfall, nicht unrichtig, wenn statt einer einfachen Bekanntgabe eine förmliche Zustellung des Ausgangsbescheides erfolgt. Fehlerhaft ist die Rechtsmittelbelehrung auch dann nicht, wenn in ihr auf eine Zustellung des Ausgangsbescheides hingewiesen wird und tatsächlich eine Bekanntgabe durch Zustellung erfolgt.[123] Wird der Ausgangsbescheid dagegen, wie im Beispielsfall, per einfachem Brief bekannt gegeben, erweist sich eine allein auf den Zeitpunkt der Zustellung des Ausgangsbescheides abstellende Rechtsbehelfsbelehrung als unrichtig, weil sie dem Adressaten den Zugang zu der für die Fristberechnung in diesem Fall maßgeblichen Vorschrift des § 41 Abs. 2 VwVfG erschwert. Für den Adressaten bleibt nämlich offen, ob wegen der erfolgten Bekanntgabe per einfachem Brief die Bekanntgabefiktion gemäß § 41 Abs. 2 VwVfG gilt oder ob dies nicht der Fall ist, weil es nach der Rechtsmittelbelehrung für den Fristbeginn auf eine Zustellung ankommt, die nicht erfolgt ist.[124]

 

331

dd) Strittig ist, ob in der dem Widerspruchsbescheid beigefügten Rechtsbehelfsbelehrung darauf hingewiesen werden muss, dass die Klage im Sinne des § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO gegen den Ausgangsbescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides zu richten ist.

Fall:

Ist folgende Rechtsbehelfsbelehrung in einem Widerspruchsbescheid ordnungsgemäß: „Gegen diesen Bescheid kann innerhalb eines Monats Klage erhoben werden.“. Ausgangs- und Widerspruchsbehörde sind nicht identisch.

332

Teilweise wird die Auffassung vertreten, die Rechtsmittelbelehrung sei unrichtig, weil sie auf eine isolierte Anfechtungsklage gegen den Widerspruchsbescheid (§ 79 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 VwGO) hinweise, tatsächlich aber Anfechtungsklage gegen die Ausgangsbehörde gemäß § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO gegen den Ausgangsbescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides zu erheben sei. Aufgrund dieser unrichtigen Belehrung über die statthafte Klageart sei die Rechtsmittelbelehrung auch dann fehlerhaft, wenn die Ausgangs- und Widerspruchsbehörde identisch seien.[125]

333

Es ist gut vertretbar, diese Ansicht als zu formalistisch zu sehen, wenn mit der gegen den Widerspruchsbescheid gerichteten Klage zugleich der Ausgangsbescheid angefochten wird. Das Bundesverwaltungsgericht vertritt diese Auffassung mit Urteil vom 1.9.1988, soweit Ausgangs- und Widerspruchsbehörde identisch sind.[126] Ob eine Fehlerhaftigkeit der Rechtsbehelfsbelehrung anzunehmen ist, wenn Ausgangs- und Widerspruchsbehörde verschieden sind, hat das Bundesverwaltungsgericht offen gelassen. Denkbar ist insoweit eine differenzierende Betrachtungsweise. Dafür spricht, dass bei einer Identität von Ausgangs- und Widerspruchsbehörde nicht die Gefahr besteht, dass die Klage gegen einen falschen Klagegegner erhoben wird. Diese Gefahr besteht aber dann, wenn die Ausgangs- und Widerspruchsbehörde verschieden sind. In diesem Fall ist nicht auszuschließen, dass der Kläger Klage nur gegen den Widerspruchsbescheid und gegen die Widerspruchsbehörde erhebt. Eine Umstellung der Klage auf eine Klage gegen die Ausgangsbehörde und den Ausgangsbescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides wäre nur unter den Voraussetzungen des § 91 VwGO möglich. Hinzu kommt, dass die Klage gegen die Widerspruchsbehörde bereits Kosten verursacht hat.

334

ee) Häufig enthalten Rechtsbehelfsbelehrungen fehlerhafte Angaben über die Klageerhebung beim Verwaltungsgericht.

Fall:

Ist folgende Rechtsbehelfsbelehrung in einem Widerspruchsbescheid fehlerfrei: „Gegen den Bescheid des Oberbürgermeisters der Stadt Dortmund vom 11.2.2020 und gegen diesen Widerspruchsbescheid kann nunmehr innerhalb eines Monats Klage erhoben werden. Die Klage ist schriftlich in dreifacher Ausfertigung oder mündlich zur Niederschrift bei der Geschäftsstelle des Verwaltungsgerichts zu erheben.“

Die Rechtsmittelbelehrung ist aus zwei Gründen fehlerhaft.

Nach § 81 Abs. 2 VwGO „sollen“ der Klageschrift Abschriften beigefügt werden. Nach der Rechtsbehelfsbelehrung „müssen“ der Klageschrift dagegen drei Abschriften beigefügt werden.

Ein weiterer Fehler der Rechtsbehelfsbelehrung liegt darin, dass nach § 81 Abs. 1 S. 2 VwGO die Klage auch bei dem „Urkundsbeamten der Geschäftsstelle“ erhoben werden kann. Die Rechtsbehelfsbelehrung enthält demgegenüber den fehlerhaften Hinweis, dass die Klage „bei der Geschäftsstelle des Verwaltungsgerichts“ erhoben werden kann. Das ist so unzutreffend. Nicht jeder Mitarbeiter der Geschäftsstelle des Verwaltungsgerichts ist im Sinne des § 81 Abs. 1 S. 2 VwGO Urkundsbeamter der Geschäftsstelle.