Ostseegrab

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»Er schläft! Und glaube mir, ich genieße das. Die letzten vier Monate waren hart. Manchmal weiß ich gar nicht, ob es Tag oder Nacht ist.« Tina schüttelte lächelnd den Kopf und nippte an ihrem Glas. Sie schwiegen ein paar Minuten. Sophie war froh, nichts sagen zu müssen. Schließlich war sie hierher gekommen, um Abstand zu gewinnen. Fehmarn schien der richtige Ort dafür zu sein. Nun fragte sie sich, ob sie nicht einen furchtbaren Fehler gemacht hatte. Statt Ablenkung fand sie hier die perfekte Mutter in einem zauberhaften Haus mit entzückenden Kindern. Natürlich konnte sie sich hier verstecken, doch vor sich selbst davonlaufen konnte sie nicht. Und nicht von der Vorstellung, wie alles hätte sein können, wenn Felix ein anderer Mensch wäre.

»Wo steckt eigentlich Stefan?«

»Er hat noch in Lübeck zu tun. Seit er bei der Mordkommission ist, muss er ganz schön ran.«

»Na, ich vermisse ihn nicht.« Sophie biss sich auf die Zunge. Warum hatte sie das jetzt sagen müssen?

»Bitte versucht, euch zu vertragen.« Tina sah sie ernst an.

»Ich verspreche, brav zu sein. Das Haus ist übrigens ein Traum! Früher hatte ich ja nicht viel übrig für alte Kästen und Reetdächer, aber mittlerweile finde ich es romantisch. Ich kann verstehen, dass ihr euren Wohnsitz hierher verlegt habt.«

»Warte, bis du es von innen gesehen hast! Ich zeig dir gleich alles. Der Garten ist erst im letzten Sommer fertig geworden. Vor lauter Gestrüpp hat man die Obstbäume gar nicht wahrgenommen.«

»Wir lassen Fotos für die ›Sweet Home‹ machen!«, meinte Sophie begeistert. »Die drucken das sofort: ›Landhausidylle an der Ostsee‹.«

Tina lachte. »Lieber nicht! Wahrscheinlich würde Stefan sich scheiden lassen. Und du hast jetzt Urlaub. Hör auf, über mögliche Artikel nachzudenken! Guck! Dein Hund hat sich schon eingelebt. Er ist ja ganz vernarrt in die Kleinen.«

Sophie sah zu Pelle, der mit Antonia und Paul herumtollte. Er holte brav Stöckchen und ließ sich zwischendurch gerne kraulen. »Weißt du, das ist wirklich der richtige Ort Kinder aufwachsen zu lassen.«

»Auf Fehmarn?« Tina starrte sie ungläubig an. »Hör mal, du hast das aufregende Leben. Mit den Stars auf Du und Du, Luxushotels, London, Paris, New York. Während du die Nächte damit verbringst, Champagner zu trinken, beziehe ich vollgekotzte Betten und wechsele Windeln.«

Sophie sah Tina amüsiert an. »Ich wollte nur sagen, dass es großartig ist, so zu leben, wenn man Kinder hat. Wie arm sind da die Stadtkinder dran?«

»Da sind immer zwei Seiten«, gab Tina zu bedenken. »Vergiss nicht, ich bin hier aufgewachsen. Wenn Antonia 16 ist, wird sie die Insel verfluchen und sich nach dem Großstadtdschungel sehnen, glaub mir.«

»Dann schickst du sie übers Wochenende zu mir und ich geh mit ihr shoppen.« Sie reckte sich genüsslich. »Ich finde es jedenfalls herrlich hier. Ich hör nicht ein Auto und die Luft ist so klar. Idylle pur! Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass hier was passiert.«

»Oh, sag das nicht!« Tina sah sie ernst an. »Vor drei Tagen wurde in Gold eine Wasserleiche angespült.«

Sophie zog überrascht die Augenbrauen hoch.

»Kein Witz! Eine junge Kiterin! Gruselig! Sie lag morgens mausetot am Strand!«

Tina entspannte sich. Es war fast wie in alten Zeiten, nur dass Sophie nachdenklicher wirkte.

Vor ein paar Jahren hätte sie sich eher die Zunge abgebissen, als ein Leben auf dem Land als schön zu bezeichnen. Was auch immer passiert war, sprechen wollte Sophie anscheinend nicht sofort darüber. Oder war gar nichts passiert? Tina stellte ihr Glas auf den Tisch und stand auf. »So, und nun zeig ich dir dein Zimmer und den Rest des Landhaustraums.« Sophie folgte ihr durch die große Glastür ins Haus. »Das ist der Wohnbereich.«

»Wow!«

Sie warf einen schnellen Blick auf Sophie. Sie schien wirklich beeindruckt zu sein. »Von außen sieht es gar nicht so geräumig aus! Und was für schöne Möbel!«

Tina genoss das Lob und ging weiter. »Wir haben ein paar Wände rausreißen lassen. Früher waren das hier drei kleine Zimmer. Du weißt schon, Wohnzimmer, Esszimmer und ein kleines Kaminzimmer. Die Küche ging vom Flur ab. Jetzt ist alles offen.« Tina hatte das Haus zwischendurch verflucht, wenn sie Abend für Abend, nachdem die Kinder im Bett waren, mit Spachtel und Pinsel in dem Chaos herumgewühlt hatte. Aber jetzt war alles genauso, wie sie es sich immer vorgestellt hatte. Zwischen zwei großen Sofas aus braunem Wildleder stand ein asiatischer Couchtisch aus Teakholz. Die Wände waren weiß gekalkt. Ohne die große Schale mit roten Äpfeln und den bunten Kissen hätte der Raum fast puristisch gewirkt. Der lange Esstisch stand frei. Links davon kam man auf ein kleines Podest, auf dem ein kuscheliges Sofa vor dem alten Kamin stand. Die vielen Kinderbücher und die Zeitschriften ließen keinen Zweifel, dass es sich um den Lieblingsplatz ihrer Familie handelte. Rechts vom Essbereich lag die Küche. Sie war nur durch einen Tresen abgetrennt. Sophie pfiff durch die Zähne. »Alles Edelstahl!«

»Ja, das habe ich aber schon bedauert. Die Kinder hinterlassen täglich Fingerabdrücke. Na, was solls? In 18 Jahren ziehen sie ja aus.«

Sophie lachte und sah sich beeindruckt um. »Ich hatte ja eher Landhausstil erwartet, mehr so was Kuscheliges. Dass man ein Haus auch so stylen kann, wäre mir gar nicht in den Sinn gekommen. Es ist fantastisch! Eine Kombination aus Altem und Design. Und diese Küche! Man müsste hier eine Kochsendung produzieren.«

Auf die Küche war Tina besonders stolz. Durch den warmen Boden wirkte der Edelstahl nicht kalt, sondern schick. Der Backofen lag auf Augenhöhe, was nicht nur ihren Rücken schonte, sondern auch die Kleinen vor Verbrennungen. Auf dem Tresen standen Tontöpfe mit frischen Kräutern und eine teure Espressomaschine, die dem Ganzen ein mediterranes Flair gaben. »Hättest du mir gar nicht zugetraut, was?«

Sophie sah sie ernst an. »Ich wusste, dass du es wunderbar einrichten würdest, aber ich habe tatsächlich nicht mit so etwas Modernem gerechnet.«

»Komm, wir gehen nach oben! Dort sind die Räume vom Stil her ganz anders.« Sophie folgte ihr die Treppe hinauf. »Lass uns leise sein. Finn wird zwar gleich aufwachen, aber ich würde dir vorher gerne noch dein Zimmer zeigen.« Sophie legte sich amüsiert den Finger auf die Lippen. »Das ist das Gästezimmer.« Tina öffnete die Tür.

Sophie quiekte leise.

»Wie süß!«

Das kleine Zimmer sah aus wie ein Raum in einer Puppenstube. Die Tapeten hatten ein pastellfarbenes Blumenmuster und die Möbel waren antik.

»Hier oben haben wir Rosamunde-Pilcher-Romanik pur. Die Räume sind alle ziemlich klein und so wirken sie gemütlicher. Neben deinem Zimmer ist ein Badezimmer. Du hast es ganz für dich. Die Kinder bade ich immer in dem großen Bad neben unserem Schlafzimmer.«

Sie trat, gefolgt von Sophie, gerade zurück auf den Flur, als Finn zu jammern anfing. »Gutes Timing. Komm, nun wirst du den kleinsten Sperber kennenlernen.« Leise betrat Tina das Schlafzimmer und nahm ihr Baby aus der Wiege. »Hallo, kleiner Mann. Hast du schön geschlafen?«, fragte sie zärtlich.

Plötzlich war aus dem Garten lautes Geschrei zu hören. »Mami! Mami! Wo bis du? Mami! Tonia is so gemein!«

Tina rollte mit den Augen. »Sie streiten sich immer genau im richtigen Moment.«

»Bleib hier! Ich geh runter und schlichte«, schlug Sophie vor und stürzte die Treppe hinunter. Tina dachte über ihre Freundin nach. War Sophie wirklich beeindruckt? Sophie, die alles hatte und alles konnte? Oder wollte sie nur nett sein? Felix kam ihr in den Sinn. Sophie hatte noch kein Wort über ihn verloren. Irgendwas stimmte zwischen den beiden ganz und gar nicht. Als ihr Jüngster satt war, wickelte sie ihn in eine Decke und nahm ihn mit hinunter. Sophie saß in dem Strandkorb auf der Terrasse und hielt ihr Gesicht in die Sonne. Ihre Augen waren geschlossen. »Hey, nicht einschlafen«, rief Tina. Sophie blinzelte sie an. »Was war denn mit Paul und Antonia?«

»Ach, gar nichts«, antwortete Sophie. »Paul wollte nur auch mal das Stöckchen für Pelle werfen und sein reizendes Schwesterlein hat es ihm nicht gegeben. Ich habe Paul Pelles Lieblingsball gegeben und nun spielt Pelle mit ihm und Antonia schmollt.«

»Na, dann ist ja alles wie immer«, stellte Tina fest. »So, und nun will ich dir meinen kleinen Engel vorstellen.«

Tina legte ihrer Freundin ihren jüngsten Sohn in den Arm. Sophies Gesichtsausdruck veränderte sich. Sie sah fast ängstlich aus.

»Gott, du bist aber süß!« Sophies Stimme brach und sie räusperte sich leise. »Weiß deine Mama eigentlich, wie viel Glück sie hat?«

Zu Tinas Erstaunen füllten sich die Augen der Karrierefrau mit Tränen.

2

Felix zerrte den Stecker aus der Telefonbuchse und schaltete die Handys aus. Den ganzen Tag hatte er unangenehme Fragen beantworten müssen. Es mussten Presseerklärungen verfasst und Sponsoren beruhigt werden. Eddy, sein Manager, war um ihn herumgeschlichen und hatte leise vor sich hingeflucht. Dabei hatte er mindestens fünf Hemden durchgeschwitzt. Felix wünschte sich, gleich aus einem Albtraum aufzuwachen. Langsam wurde ihm das Ausmaß der Katastrophe bewusst. Vor einer halben Stunde hatte er Eddy aufgefordert abzuhauen und ihn in Ruhe zu lassen. Nun war er endlich allein und konnte nachdenken. Was hatte Sophie sich nur dabei gedacht? Anscheinend wollte sie ihn fertigmachen. Natürlich war diese Nummer von ihr inszeniert. Sie musste ihn für einen Idioten halten, wenn sie dachte, er könne nicht eins und eins zusammenzählen. Felix lockerte seine Krawatte und ging zur Bar. Was wollte die Schlampe? Ihn erpressen? Seine Frau wusste sowieso Bescheid. Über alles. Sie wusste von der Tochter und sie wusste von seiner Affäre mit Sophie. Juliette ging es nur darum, im Luxus zu leben, den Kindern eine Mutter zu sein, die sie bewundern konnten, und zwischendurch seine Kreditkarte bluten zu lassen. Felix schenkte sich einen großen Whisky ein und setzte sich auf die Designercouch. Im Grunde hatte er ein prima Leben mit Juliette. Ihre Loyalität und Toleranz waren zwar nicht billig, aber er war ein freier Mann. Sein Job machte ihn für die ordinären Zuschauer zu einem Halbgott. Seine Laune besserte sich für einen Augenblick. Es machte nun mal Spaß berühmt zu sein. Es war leicht, sich jederzeit gut gelaunt und lässig zu zeigen, wenn man sowieso von jedermann geliebt wurde. Dass er zudem reicher und reicher wurde, war eine angenehme Nebensache. Mittlerweile hatte er Werbeverträge in Millionenhöhe. Seine noch immer ansehnliche Visage lächelte von Getränkekartons und Schokoriegeln. Und bis vor Kurzem hatte er noch eine aufregende Geliebte. Felix leerte das Glas in einem Zug. Er war allein in der riesigen Villa. Juliette war bei einer Freundin und die Kinder verbrachten die Nacht bei seiner Mutter. Übermorgen würden sie nach Mallorca fliegen. Er ging wieder zur Bar und holte die Flasche. Gut, dass Juliette nicht da war. Wenn sie ihm jetzt auch noch die Ohren vollheulen würde, würde er durchdrehen. Verdammter Artikel! Wie konnte Sophie nur so weit gehen? Was würde aus den Werbeverträgen? Sophie schien eine so vernünftige Frau zu sein. Das hätte er ihr nie im Leben zugetraut. Und alles nur, weil er sie gebeten hatte das Kind abzutreiben. Er konnte sich eben keinen Skandal erlauben. Nun hatte er einen am Hals. Verdammt! Er würde in seiner knappen Freizeit noch mehr Wohltätigkeitsveranstaltungen besuchen und sicher noch ein Patenkind aus Afrika oder Indien annehmen müssen, um sein Image wieder aufzupolieren. Felix nahm das Foto von Sophie aus der Brieftasche. Das Bild zeigte sie im Bikini am Strand. Was für ein sensationeller Körper. Ganz langsam riss er das Foto in kleine Schnipsel und warf diese ins Aquarium mit den Kois. »Von dir lass ich mich nicht kaputtmachen, Süße! Von dir nicht.« Die Fetzen sanken zu Boden und die teuren Karpfen wühlten gierig danach.

 

Sophie atmete tief durch. Jetzt bloß nicht weinen! Dieser neue Mensch hatte mit ihrem Schicksal rein gar nichts zu tun. Der kleine Finn war ein Wunder und als solches sollte sie ihn auch betrachten. Sie musste endlich aufhören, sich selber leidzutun. In Bezug auf Felix hatte sie doch auch die Flucht nach vorn angetreten.

»Alles in Ordnung?«, fragte Tina besorgt.

Sophie schluckte kurz und lächelte sie an. »Aber sicher! Es ist nur so überwältigend. Er ist so winzig und trotzdem ist alles dran.«

»So winzig?«, Tina lachte. »Finn war noch nie winzig. 4300 Gramm und 55 Zentimeter! Bei seiner Geburt dachte ich, ich krieg ein Elefantenkalb.«

Tina sah auf die Uhr und sprang auf. »Mein Gott, wie die Zeit vergeht. Sag mal, ist es okay für dich, wenn ich Finn bei dir lasse und schnell die Nudeln warm mache?«

»Na klar! Wir werden uns schon vertragen.«

Finn hatte die Augen geschlossen und schmatzte leise. Seine winzige Hand hielt ihren Zeigefinger fest umschlossen. Aus der Küche hörte sie Tina mit den Töpfen herumklappern. Sie hatte Tina immer für verrückt gehalten Knall auf Fall aus der Modelbranche auszusteigen, obwohl es für sie fantastisch lief. Und alles, um einem Polizisten nach Lübeck zu folgen. Nun musste sie zugeben, dass Tina es richtig gemacht hatte. Sie war glücklich und zufrieden. Ihre Ehe mit Stefan schien noch immer zu funktionieren. Den jüngsten Beweis ihrer Liebe hielt sie schließlich gerade im Arm.

10 Minuten später kam Tina zurück und stellte zwei Teller Spaghetti auf den Tisch. »Wie ich sehe, seid ihr bestens klargekommen. Na, dann gib ihn mal wieder her.« Tina legte den Kleinen in die Babyschale und rief die Kinder. Mit Pelle im Schlepptau stürmten sie auf die Terrasse. Mit großem Appetit und ohne sich zu streiten, aßen sie ihre Teller leer.

»Ihr Mäuse, es wird langsam Zeit. Sagt Sophie gute Nacht und dann gehen wir Zähne putzen.«

Obwohl die Kinder todmüde sein mussten, begannen sie zu protestieren.

»Kann Pelle nicht mit nach oben kommen?« Antonia sah sie mit großen Augen an.

»Er kann mit in meinem Bett schlafen.« Paul nickte aufgeregt.

»Nein, ihr Süßen. Ihr schlaft jetzt ganz schnell ein und morgen könnt ihr ihn dann wecken.«

Antonia seufzte enttäuscht, folgte dann aber ihrer Mama und ihren Brüdern. Sophie verschwand in der Küche. Als sie das Butterhähnchen sah, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Schon während ihrer gemeinsamen WG-Zeit war dieses Gericht immer ein Highlight gewesen. Sophie dachte gerne daran zurück.

»So, die Bande ist im Bett! So sehr ich meine Kinder liebe, nach einem langen Tag bin ich froh, wenn sie alle in der Falle sind und ich mal ein paar Stunden für mich habe.« Tina warf einen Blick in den Backofen. »Ich glaube, es ist bald fertig. Inzwischen könntest du mir von der Geschichte mit Felix erzählen.«

»Ach Tina, er ist ein verdammtes Arschloch! Ich bin noch nie so enttäuscht und verletzt worden.«

»Du wusstest auch nichts von der unehelichen Tochter? Er hat nicht mal dir was gesagt?«

»Natürlich wusste ich davon. Ich war die Quelle für den Artikel.«

»Du warst was? Mein Gott, Sophie! Dass die Story Gift für seine Karriere ist, das weiß ich. Was ist denn passiert? Ihr seid mit eurem, tja, ich sag mal Arrangement doch beide ganz zufrieden gewesen?«

»Er war es!«, entgegnete Sophie fast trotzig. »Ich aber ab einem bestimmten Punkt nicht mehr. Vielleicht wollte ich mehr sein als die ständige Geliebte? Vielleicht wollte ich auch eine Familie?« Sie schloss kurz die Augen, um sich zu beruhigen. »Tja, und er wollte das nicht. Das habe ich jetzt auch kapiert. Er hat mich hingehalten und mir das Blaue vom Himmel versprochen. Lass uns heute nicht mehr davon reden. Ich brauch erst mal ein paar Tage Abstand.«

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll, aber eins weiß ich ganz sicher. Du bist eine schöne junge Frau. Wozu brauchst du den alten Sack?« Tina lächelte sie aufmunternd an. »Bestimmt kommt bald der Richtige, und wer weiß? Vielleicht wollt ihr dann tatsächlich irgendwann ein Baby.«

»Sicher«, flüsterte Sophie. Aber es würde ein anderes Baby sein.

3

Samstag

Stefan fuhr übermüdet über die Autobahn. Er wollte nur noch nach Hause und die Ereignisse der letzten Nacht vergessen. Er steckte sich eine Zigarette an, um sich wach zu halten. Sein Audi war ein rollender Aschenbecher. Auch die Wunderbäume, die am Rückspiegel baumelten, konnten gegen den Gestank nichts ausrichten. Stefan bekam einen Schreck, als er sein Spiegelbild sah. Sein Haar brauchte einen Schnitt und er musste sich unbedingt rasieren. Sein Gesicht war bleich und sein Hemd dreckig. Unter den Achseln hatten sich Schwitzflecken gebildet. Er hatte das Aussehen eines Penners und roch auch so. Er musste dringend unter die Dusche. Die letzen 24 Stunden waren ein Albtraum gewesen. Sie waren zu einem Einsatz in Moisling gerufen worden. Eine junge Frau hatte auf dem Dach einer Mietskaserne gestanden und gedroht, ihr Baby hinunterzuwerfen. Sie hatte es in eine Decke gewickelt und es an ihre Brust gedrückt. Er hatte den besten Psychologen kommen lassen. Der hatte vom Balkon des obersten Stockwerks zwei Stunden auf die Frau eingeredet, doch sie wollte niemanden an sich heranlassen. Die Feuerwehr hatte in der Zwischenzeit ein Sprungtuch aufgespannt. Stefan hatte entsetzliche Angst gehabt. Die Sache war ihm unter die Haut gegangen. Sein Kleinster war genauso alt wie das Baby auf dem Dach. Immer wieder hatte er Finns Gesicht gesehen. Ihm war fast egal gewesen, ob die Irre sich umbrachte, aber dem unschuldigen Baby durfte nichts geschehen. Plötzlich hatte die Frau hysterisch gelacht und den Säugling ohne Vorwarnung hinuntergeworfen. Die Feuerwehrmänner hatten das Tuch gespannt und das Bündel aufgefangen. Wie bei Finns Geburt hatte er auf den ersten Schrei gewartet, vergeblich. Panisch hatte er die Decke aufgeschlagen und sofort die Augen geschlossen. Er hatte schon viel gesehen, seit er bei der Mordkommission war, aber das war mehr, als er ertragen konnte. Das Baby musste schon seit Tagen tot sein. Als die Frau vom Dach gesprungen war, hatte er gehofft, dass sie das Sprungtuch verfehlen und auf das Pflaster klatschen würde. Sie hatten sie die ganze Nacht verhört. Stefan hatte drei Schachteln Zigaretten geraucht und unzählige Tassen Kaffee getrunken. Jetzt wollte er nur noch zu seiner Familie. Er wollte seine Frau küssen, mit den Kindern spielen und seinen Jüngsten in den Arm nehmen.

Er liebte Tina noch immer wie am ersten Tag. Er sollte es ihr öfter sagen und zeigen. Vielleicht konnten sie sich an diesem Wochenende ein bisschen Zeit füreinander nehmen. Plötzlich fiel es ihm wieder ein. Wütend feuerte Stefan die Kippe aus dem Fenster. Ihre Hoheit Klatschqueen Sophie würde auch da sein. Verdammt!

Sophie wusste nicht, was sie geweckt hatte, das Gebrüll von Finn oder die kalte Nase von Pelle, die ihren Arm stupste. Sie hatte wunderbar geschlafen und zum ersten Mal seit der Trennung nicht von Felix geträumt. Sophie reckte sich und öffnete die Augen. Ihr Blick fiel auf die Blümchentapete und die bestickten Vorhänge. »Guten Morgen, Bullerbü!«, lachte sie leise. Der Labrador versuchte, die Situation für sich auszunutzen. Mit einem Satz war er im Bett und leckte ihr Gesicht ab. »Hey! Du spinnst wohl! Zisch ab und lass mich erst mal gucken, wie spät es eigentlich ist!« Pelle polterte aus dem Bett und wedelte aufmunternd mit dem Schwanz. Sophie sah auf die Uhr. »Fünf nach sechs! Vergiss es, Dicker!« Sie ließ sich wieder in die Kissen sinken. »Ich habe Ferien! In zwei Stunden lass ich vielleicht mit mir reden.« Pelle zog den Schwanz ein. »Ach, jetzt willst du mir ein schlechtes Gewissen machen?« Sophie grinste, zog den Vorhang zur Seite und sah aus dem Fenster. Die ersten Sonnenstrahlen schienen auf Felder und saftige Wiesen, und in dem alten Kirschbaum vor dem Haus zankten sich zwei Amseln. »Idylle pur!« Pelle stand wieder auf und schnaubte. »Ich kann sowieso nicht mehr einschlafen, wenn ich weiß, dass du mich die ganze Zeit vorwurfsvoll anglotzt. Na los, wir gehen joggen. Sport wird dir guttun. Bist ein bisschen rund geworden in letzter Zeit.«

Ein paar Minuten später schlich sie mit dem Hund die Treppe hinunter und verließ das Haus. Sophie atmete die Seeluft ein und dehnte ihre steifen Glieder, bevor sie durch den Obstgarten auf den Deich zu trabte. Sie konnte sich nicht erinnern, in den letzten Wochen so entspannt gewesen zu sein. Die Insel schien ihr gutzutun. Ein paar Möwen kreischten am Himmel und es versprach, ein sehr warmer Tag zu werden. Sie joggte auf dem Deich in Richtung Gold. Pelle jagte durch die Gegend. Zumindest der Hund ist vollkommen glücklich, dachte Sophie. Und sie würde es auch wieder werden. Die Entscheidung nach Fehmarn zu kommen, war die richtige gewesen. Sie würde jeden Morgen laufen und viel mit Tina quatschen. Das war viel besser, als irgendwo allein in einem Luxushotel vor sich hinzugrübeln. Sicher würde die Welt schon bald wieder ganz anders aussehen. Plötzlich begann Pelle aufgeregt zu bellen und stürmte davon.

»Pelle! Bleib hier! Lass doch das arme Karnickel!«

Er kam nicht zurück. »Fuß, verdammt noch mal!« Wütend sprintete Sophie hinter ihm her. Pelle sprang den Deich hinab zu einem schmalen Strandabschnitt. Er bellte noch immer. Plötzlich jaulte er laut auf. Sophie bekam Angst. So schnell sie konnte, stürmte sie ihm nach. Pelle stand zitternd am Strand. Ein paar Meter vor ihm lag etwas Schwarzes. Sophie hielt es für einen großen Plastiksack.

»Meine Güte«, keuchte sie atemlos. »Jetzt komm endlich her!« Er rühre sich nicht. Sie folgte ihm den Deich hinunter. Nein, es war kein Plastiksack. »Ein Neoprenanzug! Na, wie aufregend! Irgendwer wird ihn vergessen haben. Jetzt hab dich doch nicht so! Pelle! Was bist du nur für eine Memme!« Sophie erreichte ihren Hund und klopfte ihm liebevoll den Po. »Das ist doch nur …« Sie sprang reflexartig einen Schritt zurück. »Ach du Scheiße!«

In dem Neoprenanzug steckte eine Frau. Sophie sah sofort, dass sie tot war.