Grund und Grenzen eines Marktwirtschaftsstrafrechts

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3. Regeln der Sozialen Marktwirtschaft

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Wenn in Anlehnung an das Assoziationsgebiet der Spielregeln der Markt dem Spielfeld entspricht,[287] auf welchem die am Wettbewerb teilnehmenden Unternehmen als Spieler agieren, d.h. ihre Spielzüge ausführen, sind mit den Spielregeln die Regeln der Teilnahme an der Sozialen Marktwirtschaft vergleichbar[288]. Diese Wirtschaftsordnung wurde in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg installiert, mithin sind auch die ihr innewohnenden Regeln bereits 60 Jahre alt. Gleichwohl beanspruchen die darin verkörperten Grundprinzipien heute noch genauso Geltung wie bereits 1949. Doch trotz dieser Beständigkeit war es ihnen möglich, auch für gewandelte Märkte und neue Formen wirtschaftlicher Betätigung als Anhaltspunkt zur Gewinnung von Werten und Verhaltensmustern zu dienen. Gelingen konnte dies nur, weil sie dem System der Sozialen Marktwirtschaft nicht von außen auferlegt wurden, sondern bereits zum Zeitpunkt seiner Entstehung in ihm angelegt waren[289]. Diese Regeln sollen die Umsetzung des in der Theorie entstandenen Modells der Sozialen Marktwirtschaft in der Praxis sowie seine dauerhafte Funktionsfähigkeit und Erhaltung sichern. Die Verhaltensregeln für die Wirtschaftssubjekte lassen sich daher aus den als Kennzeichen der Sozialen Marktwirtschaft festgelegten Kriterien ableiten. So strebt die Soziale Marktwirtschaft zwar einen möglichst freien Wettbewerb an, garantiert aber gleichzeitig, dass dieser sich nicht völlig unbegrenzt entfaltet. Wettbewerb ist allgegenwärtig und gesellschaftlich erwünscht, trotzdem soll er geregelt und nur innerhalb eines bestimmten Rahmens stattfinden.[290] Eine solche Auffassung zeigt deutlich, dass das „Gewinnen“ des wirtschaftlichen Wettbewerbs als solches nur dann sozial akzeptiert ist, wenn es auf eine Art und Weise erreicht wird, die im Einklang mit dem System der Sozialen Marktwirtschaft steht. Grundsätzlich gilt es für die Wirtschaftsobjekte, durch die richtige Taktik, also einen ideenreichen und geschickten Umgang mit den gegebenen Bedingungen und Spielräumen, den größtmöglichen Gewinn zu erwirtschaften, doch sind sie gezwungen, ihr Verhalten beim Erstreben des höchsten Zielerreichungsgrads einem auf dem Markt geltenden Regelsystem anzupassen.

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So ermöglicht der Wettbewerb den Wirtschaftssubjekten grundsätzlich taktisches Vorgehen, da es sich um erwünschtes Verhalten im Rahmen der gegebenen Regeln handelt.[291] Gleichzeitig besteht jedoch Konsens darüber, dass nur ein fairer Wettbewerb, also eine die (Rechts-)Regeln einhaltende Konkurrenz, auch ein guter Wettbewerb ist.[292] Jede Regel erfüllt bezüglich einer bestimmten Handlung eine eigene Funktion, die im Allgemeinen in der Lenkung menschlichen Verhaltens besteht[293]. Gleichzeitig drückt sie eine bestimmte Forderung aus, deren Erfüllung zwingend notwendig ist.[294] Dabei stehen die Regeln nicht nur untereinander in Verbindung, sondern sind auch mit ihrem Regelungsgegenstand verzahnt.[295]

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Als regelgeleitete Tätigkeit besteht der ökonomische Wettbewerb aus einer Vielzahl von Regeln, denen unter Berücksichtigung der formalen Strukturen des Wettbewerbs unterschiedliche Bedeutung zukommt[296]. Die Regeln der Sozialen Marktwirtschaft sind nicht alle von gleicher Qualität oder Beschaffenheit, sondern lassen sich insofern unterscheiden, als es sowohl Regeln gibt, deren Verletzung noch innerhalb des Wettbewerbs erfolgt, als auch solche Regeln, deren Verletzung ein Verlassen des Wettbewerbs darstellt.[297] Die zuletzt genannten Regeln werden im Kontext des Marktwirtschaftsstrafrechts als Grundregeln bezeichnet. Sie enthalten prinzipielle Aussagen über den spezifischen ökonomischen Fairnessgedanken und die marktwirtschaftliche Chancenstruktur. Die Verletzung von Grundregeln stellt ein Negieren des wirtschaftlichen Wettbewerbs als konstitutives Element der Sozialen Marktwirtschaft dar. Regeln, die den Ablauf des Wettbewerbs beschreiben, also die im Wettbewerb gestatteten Mittel und Verhaltensweisen enthalten sowie die nicht akzeptierten Maßnahmen und Handlungsweisen ausschließen, stellen Spielregeln dar.

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Obwohl sich Grund- und Spielregeln ihrer Natur nach unterscheiden, stehen sie zueinander in Beziehung. So können Spielregeln ohne Bezug auf die Grundregeln der Sozialen Marktwirtschaft nicht festgelegt werden. Der Bezug von Grund- und Spielregeln zueinander ergibt sich darüber hinaus aber auch aus quantitativen und qualitativen Kriterien. So kann in quantitativer Hinsicht die Verletzung einer bestimmten Menge von Spielregeln zur Verletzung einer Grundregel führen, der es entsprechend zu begegnen gilt[298]. Qualitative Bezüge von Grund- und Spielregeln ergeben sich dagegen aus der Präzisierungsfunktion der Spielregeln, welche die Prinzipien der Grundregeln aufnehmen und in spezialisierter bzw. angepasster Form beispielsweise für einen speziellen Markt in besonderer Weise aufbereiten. Die Grundregeln sind dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft seit jeher immanent und beanspruchen daher für den gesamten wirtschaftlichen Wettbewerb gleichermaßen Geltung, die Spielregeln variieren dagegen für jeden Markt, an dem innerhalb unserer Gesellschaft Wettbewerb stattfindet. Während also die Spielregeln der Wirtschaftsordnung eine Veränderung ihrer Bedeutung für die Soziale Marktwirtschaft sowie die Gemeinschaft erfahren können, drücken sich in der Wahl der Wirtschaftsordnung und den dazugehörigen Grundregeln sozialethische Grundentscheidungen aus, die so lange unverrückbar sind wie an dieser Entscheidung festgehalten werden soll[299].

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Grundlegende Regel der Sozialen Marktwirtschaft ist die Erhaltung des „fairen Wettbewerbs“ und der damit verbundenen Freiheiten des Zugangs und der Betätigung am Markt. Es ist dieser spezifische ökonomische Fairnessgedanke, der die Soziale Marktwirtschaft und damit auch das System ihrer Regeln prägt. Was genau darunter zu verstehen ist, kann jedoch nicht positiv definiert werden, da eine umfassende und abschließende Aufzählung aufgrund des hoch komplexen menschlichen Zusammenlebens und der Gesellschaft[300], die eine große Anzahl möglicher Konstellationen von Wirtschaftssubjekten und -objekten mit sich bringt, nicht möglich ist. Allerdings ist bei einer Orientierung an den der Sozialen Marktwirtschaft zugrundeliegenden Vorstellungen über Werte und Verhaltensweisen auszumachen, wann kein fairer Wettbewerb etc. gegeben ist und damit ein Regelverstoß vorliegt. Grundsätzlich handelt es sich bei jeder Verletzung marktwirtschaftlicher Regeln um ein potentiell pönalisierbares Verhalten, doch bildet nicht jede dieser Regeln das Fundament der Wirtschaftsordnung.

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Eine typische Spielregel des wirtschaftlichen Wettbewerbs ist beispielsweise die Pflicht zur Berücksichtigung und Abwägung der Share- und Stakeholderinteressen bei Struktur- oder Marktentscheidungen.[301] Als Beispiel für eine Grundregel kann das Verbot wettbewerbsbeschränkender Absprachen bei Ausschreibungen angeführt werden. So verletzen wettbewerbsbeschränkende Angebotsabsprachen nach § 298 Abs. 1 StGB die Regeln des Ausschreibungsverfahrens. Gleichzeitig stellt derartiges Fehlverhalten aber auch einen in höchstem Maße unfairen Missbrauch von ökonomischer Koordination dar. Das der Sozialen Marktwirtschaft immanente spezifische ökonomische Fairnessprinzip, wonach alle Wettbewerber im Ausgangspunkt die gleiche Chance auf den größten wirtschaftlichen Erfolg haben müssen, definiert die Leistung als das für den Markterfolg maßgebliche Kriterium. Das über den Zielerreichungsgrad einer Leistung bestimmende freie Spiel der Kräfte am Markt darf jedoch nicht gebunden werden. Das Wesen des Wettbewerbs verlangt den Wirtschaftssubjekten große Anstrengungen ab, belohnt sie dafür jedoch auch mit den Errungenschaften eines erfolgreichen Marktauftritts. Wirtschaftssubjekte, die zwar die Vorteile des Wettbewerbs genießen wollen, sich aber nicht bereit zeigen, den Wettbewerb vom selben Ausgangspunkt wie alle Konkurrenten anzugehen und Kooperationen nur in einem für alle Marktteilnehmer fairen Maße durchzuführen, negieren die Soziale Marktwirtschaft in grundlegender Weise. Mit dem Institut des Ausschreibungsverfahrens entstanden spezifische Regeln für die an einer Teilnahme interessierten Wirtschaftssubjekte, die von der Verpflichtung zur Erfüllung formeller Vorgaben wie erforderlichen Angebotsdetails bis zum Verbot verfahrensstörender Absprachen reichen.

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Nicht alle in der Wirtschaftsordnung geltenden Regeln stehen im selben Rang, wenn ihre Bedeutung für die Konstitution der Wirtschaftsordnung zu beurteilen ist, die meisten davon betreffen vielmehr nur einzelne ihrer Institutionen oder Abläufe, welche nicht alle von gleicher Relevanz für die Allgemeinheit sind. Erst wenn eine Regelverletzung die fundamentalen Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft betrifft, erhält das ihr zugrundeliegende Verhalten einen über bloßes Ordnungswidrigkeitenunrecht hinausgehenden Unrechtsgehalt. In dieser Unterscheidung spiegelt sich deutlich die den Spielregeln übergeordnete Rolle der marktwirtschaftlichen Grundregeln für die Soziale Marktwirtschaft wider.[302] Auf die Verletzung bloßer Spielregeln ist grundsätzlich anders zu reagieren, als auf einen Verstoß gegen die grundlegenden Regeln der Sozialen Marktwirtschaft.

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Das Marktwirtschaftsstrafrecht nutzt die Differenzierung von Grund- und Spielregeln zunächst, um das Fehlverhalten innerhalb eines wirtschaftlichen Kontexts richtig zu erfassen, also entsprechend zwischen verschiedenen Formen der Regelverletzung zu unterscheiden. Erst danach kann überhaupt festgestellt werden, ob das Fehlverhalten die Grundfesten der Sozialen Marktwirtschaft antastet, also strafwürdiges Verhalten vorliegt. Ebenso ermöglicht es die Beurteilung sonstigen wirtschaftlichen Fehlverhaltens, insbesondere wenn es um Überlegungen zur Neukriminalisierung geht. Das Marktwirtschaftsstrafrecht bietet dabei einen Maßstab zur Beurteilung der Strafwürdigkeit wirtschaftlichen Fehlverhaltens, das zwar falsch erscheint, jedoch nicht von den bereits bestehenden Straftatbeständen erfasst wird. Indem Spiel- und Grundregeln der Sozialen Marktwirtschaft als Gradmesser der Strafwürdigkeit bereitgehalten werden, ermöglicht das Marktwirtschaftsstrafrecht bei der Beurteilung des in Frage stehenden Verhaltens eine Orientierung innerhalb der Wirtschaftsordnung. Eine derartige systemische Absicherung bei der Bewertung der Relevanz eines Verhaltens erleichtert die Entscheidung über den zukünftigen Umgang mit neuartigem Fehlverhalten. Überlegungen zur Neuschaffung von Tatbeständen oder der Notwendigkeit von Maßnahmen aus Zivil-, öffentlichem oder Ordnungswidrigkeitenrecht können sich leicht an den Grundsätzen des Marktwirtschaftsstrafrechts orientieren. Erscheint jedoch keinerlei Eingreifen nötig, weil es sich zwar um unerwünschtes, aber hinzunehmendes Fehlverhalten handelt, kann die marktwirtschaftsstrafrechtliche Beurteilung die gesellschaftliche Akzeptanz einer solchen (legislativen) Entscheidung erhöhen.

 

Teil 2 Begriff des Marktwirtschaftsstrafrechts › III › 4. Voraussetzungen des Regelsystems

4. Voraussetzungen des Regelsystems

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Obwohl die Regeln der Sozialen Marktwirtschaft dieser Wirtschaftsordnung inhärent sind, ist ihre Existenz ebenso wenig unzerstörbar, wie es die der Wirtschaftsordnung selbst ist. Das komplexe System der Regeln kann nur dann Bestand haben und seine Funktionen entfalten, wenn die dazu notwendigen Voraussetzungen gegeben sind. Die Bedingungen der Existenz einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung wie eine hinreichende Zahl von Wirtschaftssubjekten, deren Kenntnis der Funktionsweise des Markts sowie deren Wille, den Wettbewerb für sich zu entscheiden, werden dabei vorausgesetzt. Ebenso wird davon ausgegangen, dass nur solche Regeln in das System Eingang gefunden haben, die umsetzbare Anforderungen enthalten, deren Erfüllung also möglich ist, weil sie realisierbare Zustände als Ausgangspunkt nehmen. Gleichwohl müssen die Regeln den Adressaten ausreichend Raum zur wirtschaftlichen Betätigung lassen, weshalb sie sich auf allgemeingültige Festlegungen beschränken sollten, soweit keine detailliertere Regulierung notwendig ist. Die Kenntnis der Regeln selbst ergibt sich danach durch das Wissen um die Funktionsweise des Markts und die darauf basierende Teilnahme am Wirtschaftsgeschehen. Das Regelsystem kann jedoch nur dann Geltung beanspruchen, wenn zusätzlich alle Wirtschaftssubjekte die gleichen Regeln einhalten müssen und diese für alle Adressaten gleichermaßen gelten. Damit eng in Zusammenhang steht die Notwendigkeit des Bestehens neutraler Instanzen, welche die Regeln durchsetzen, also ihre Einhaltung gewährleisten, gegebenenfalls aber auch einen Regelbruch sanktionieren. Daneben müssen die von der Wirtschaftsordnung vorgegebenen Regeln dauerhaft und beständig, also in zeitlicher Hinsicht stabil sein, damit sich die Zielgruppe auf sie einstellen kann.

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Neben diesen vor allem auf die Schaffung und Gestaltung der Regeln gerichteten Bedingungen ist ebenso notwendig, dass sie auf Seiten der Wirtschaftssubjekte akzeptiert werden. Zu fordern ist dabei kein detailliertes Auseinandersetzen der Wirtschaftssubjekte mit allen Regeln, welche die Marktwirtschaft bereithält, sondern nur mit denjenigen, die an sie adressiert sind. Dabei ist vor allem die Notwendigkeit der Anerkennung der Regeln durch die Wirtschaftssubjekte angesprochen. Voraussetzung eines jeden Regelsystems ist jedoch seine allgemeine Wirksamkeit, also, dass überhaupt nach seinen Regeln gehandelt wird.[303] Bei einer generellen Missachtung der (Markt-)Regeln würde der Wettbewerb und damit das System der Sozialen Marktwirtschaft zusammenbrechen[304], doch ist nicht davon auszugehen, dass ein solcher Systemkollaps von den Wirtschaftssubjekten angestrebt wird. Vielmehr nehmen diese am Wettbewerb teil, um darin den höchsten Zielerreichungsgrad zu erlangen und von den Vorteilen der Wirtschaftsordnung zu profitieren. Daher kann davon ausgegangen werden, dass bereits die Teilnahme am Wirtschaftsprozess in einem bestimmten Wirtschaftssystem mit der Einwilligung gleichzusetzen ist, sich gemäß den dort geltenden Regeln zu verhalten und dieser Praxis auch in Zukunft treu bleiben zu wollen. Der Teilnahme am Wettbewerb liegt also mit dem Willen zur Regeleinhaltung und einem diesem entsprechenden Handeln eine zwingende Verhaltensregel zugrunde, welche die notwendigen Elemente der Handlung bestimmt und daher das Wesen der Marktwirtschaft schafft[305].

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Die überwiegende Zahl der Wirtschaftssubjekte erachtet die Einhaltung der Regeln der Sozialen Marktwirtschaft als selbstverständlich, weshalb von ihnen verursachte Regelbrüche verhältnismäßig selten und meist unbewusst vorkommen, nur die wenigsten werden die marktwirtschaftlichen Regeln ständig bewusst unterlaufen. Anders ist dies bei den Wirtschaftssubjekten, die sich im Laufe ihrer wirtschaftlichen Betätigung bewusst zur Verletzung der Regeln entschließen oder denen es von vornherein nur auf den geplanten Missbrauch des Systems ankommt, wie es beispielsweise bei mafiösen Strukturen oder organisierter Kriminalität der Fall ist. Gleichwohl wird ein sich so verhaltendes Wirtschaftssubjekt sein Vorhaben nicht langfristig verfolgen, da der Markt, welcher als unaufhörlicher Prozess jeden Teilnehmer stets erneut dem Wettbewerb aussetzt, auf Freiwilligkeit beruht und so langfristig potentielle Vertragspartner ausbleiben würden.[306] Unabhängig von der Anerkennung der marktwirtschaftlichen Regeln durch den jeweiligen Marktteilnehmer ist Fehlverhalten angemessen zu sanktionieren. Wird jedoch nach Sanktion oder Strafe verlangt, zeigt sich, dass jede einzelne der vielfältigen Bedingungen einer funktionierenden Wirtschaftsordnung durch rechtliche Instrumente und Regularien abgestützt wird, sich mithin alle Regeln der Sozialen Marktwirtschaft in einer vom Recht geschaffenen Rahmenordnung wiederfinden. Dieser vom Recht mit all seinen Teilgebieten geschaffene Rahmen für die Soziale Marktwirtschaft bietet ihr jedoch nicht nur Möglichkeiten zur Entfaltung und Entwicklung, sondern auch Schutz vor Verletzungen, der in letzter Reihe auch durch das Strafrecht gewährleistet werden muss.

Teil 2 Begriff des Marktwirtschaftsstrafrechts › III › 5. Reaktion auf Regelverletzungen

5. Reaktion auf Regelverletzungen

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Wird ein Spiel von den Beteiligten gespielt, setzt kein Spieler die Partie fort, wenn er davon Kenntnis erlangt, dass ein oder mehrere seiner Mitspieler die Spielregeln nicht einhalten. Grundsätzlich werden Regelverletzungen bei einem Spiel nahezu immer von den Spielern selbst geahndet, wobei sie darüber entscheiden, ob der beim Regelbruch ertappte Mitspieler die Partie fortsetzen darf oder ausscheiden muss[307], anderenfalls übernimmt ein Spielleiter oder Schiedsrichter diese Aufgabe. Neben den Konsequenzen des Fehlverhaltens bei dem konkret betroffenen Spiel wird der Ertappte in Zukunft kaum erneut die Gelegenheit zu einem Spiel erhalten, weil sich kein anderer an einem Spiel mit einem solchen Mitspieler beteiligen will. Während beim Spiel jedoch allenfalls mit Falschspielern und Spielverderbern unrechtmäßige Sieger hervorgebracht würden, hätten Regelverstöße in der Sozialen Marktwirtschaft für die Gesellschaft erhebliche Folgen. Ebenso sind die Sanktionsmöglichkeiten der Mitspieler nicht ohne Weiteres auf eine Wirtschaftsordnung zu übertragen. So können die anderen Wettbewerber nicht als Durchsetzungsinstanz der Regeln marktwirtschaftlicher Betätigung angesehen werden. Zum einen agieren sie nicht am Markt, um diese Aufgabe zu übernehmen, andererseits fehlen ihnen aber auch Sanktionsmöglichkeiten, die denen der beschriebenen Mitspieler entsprechen. Einem Unternehmen allein ist es unmöglich, den regelbrechenden Wettbewerber vom Markt auszuschließen. Die Sanktionierung wirtschaftlichen Fehlverhaltens kann also nicht als Teil der Selbstregulierung allein an die Wirtschaftsordnung übergeben werden. Durch ihre Sachnähe scheinen die Wirtschaftsteilnehmer zwar durchaus für die Erfüllung dieser Aufgabe geeignet, ihre unzureichenden Kompetenzen machen zur Entwicklung eines zweckmäßigen Reaktions- und Sanktionssystems aber zumindest eine Ergänzung um andere Elemente der Verhaltenssteuerung notwendig.

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Während die nächstmögliche Reaktion auf wirtschaftliches Fehlverhalten aus dem Inneren des Wirtschaftslebens, also anderen Wirtschaftsteilnehmern kommt, tritt das Rechtssystem von allen Mitteln der Sozialkontrolle aus der größten Distanz an ein solches Fehlverhalten heran. Mit all seinen Teilgebieten soll das Rechtssystem die Einhaltung von Regeln gewährleisten und überwachen, sie notfalls aber auch erzwingen und Regelverstöße sanktionieren, worin naturgemäß die Aufgabe des Strafrechts besteht. Durch die Entwicklungen der wirtschaftsethischen Bemühungen in den letzten Jahrzehnten und den bereits erfolgten Umsetzungen einiger Konzepte in der Praxis, erscheint es aber ebenso denkbar, diese Aufgabe zumindest teilweise von außerstrafrechtlichen Instanzen erfüllen zu lassen. Welche Regelverletzungen strafrechtlich zu sanktionieren sind und welche straffrei bleiben sollen, kann nur unter dem Aspekt der Strafwürdigkeit diskutiert werden. Wie das Strafrecht sich dabei zu alternativen, möglicherweise sogar außerrechtlichen Sanktionsmöglichkeiten positioniert, wird im Teil 5 (Rn. 420 ff.) eine Frage der Grenzen des Marktwirtschaftsstrafrechts sein. Zur Klärung des Begriffs eines Marktwirtschaftsstrafrechts soll es zunächst genügen, festzustellen, dass die Sanktion von Regelverstößen notwendig ist und vorwiegend durch das Strafrecht erfolgt[308].

Teil 2 Begriff des Marktwirtschaftsstrafrechts › III › 6. Affirmation marktwirtschaftlicher Regeln