Grund und Grenzen eines Marktwirtschaftsstrafrechts

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bb) Soziale Komponente

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Diese zwar programmatischen, inhaltlich aber noch recht trivialen Aussagen machen deutlich, dass das Wesen der Sozialen Marktwirtschaft zumindest in Teilen vage ist. Dabei ist das Element des Wettbewerbs aufgrund seiner normativen Bezüge zur Wirtschaftswissenschaft am ehesten über eine verdichtete wissenschaftliche Durchdringung greifbar. Der sozialen Komponente fehlt dagegen eine vergleichbar objektive Bezugsgröße, weshalb sie seit jeher Gegenstand stark subjektiv geprägter Auseinandersetzungen ist. Die von einem naturgemäß als subjektiv zu klassifizierenden Gerechtigkeitsempfinden bestimmte Diskussion beschäftigt sich in auffälliger Weise überwiegend mit dem ohne Weiteres als „sozial“ im Sinne von gesellschaftlich bzw. sozialpolitisch zu bezeichnenden Gebiet der Sozialen Marktwirtschaft. Dass das Element des Sozialen aber auch auf den „wirtschaftlichen Teil“ der Sozialen Marktwirtschaft Einfluss hat, wird dabei, außer in ebenfalls sozialpolitischer Hinsicht wie bei der Schaffung und Erhaltung von nicht gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen, Krediten für während der Finanzkrise in „Schieflage“ geratene Unternehmen oder die Unterstützung von Tarifabschlüssen, nicht beleuchtet. Doch auch diese Themen sind stark an die ganz offensichtlich soziale Seite der Marktwirtschaft angelehnt, wie die thematisch verwandten Diskussionen um die Höhe der Hartz IV-Bezüge oder des Kindergelds sowie die Einführung eines Mindestlohns zeigen. Offen bleibt dabei, ob das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft ganz bewusst auf eine starke Betonung der sozialpolitisch fassbaren Elemente angelegt wurde oder auch die Form des Wettbewerbs selbst soziale Komponenten enthält.

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Ein Blick auf das ursprüngliche Konzept zeigt, dass sowohl Alfred Müller-Armack als auch Ludwig Erhard davon ausgingen, dass die Marktwirtschaft grundsätzlich sozial sei, weil sie das Wachstum der Wirtschaft ermögliche, womit sie u.a. eine Erhöhung der Löhne zulasse.[225] Gleichwohl war sich Müller-Armack dessen bewusst, dass es von außen betrachtet schwer fallen kann, die sozialen Elemente der Wirtschaftsordnung zu erkennen.[226] Dazu führt er aus, dass die „ethischen Impulse“ in der Gesamtstruktur der Sozialen Marktwirtschaft gebunden seien, weshalb sie zwar weniger leicht sichtbar, jedoch trotzdem systemkonstitutiv wären.[227] So seien schon die Gewährleistung einer ausreichenden Güterversorgung und die Chance zur freien wirtschaftlichen Entfaltung aller Menschen ebenso wie die Dynamisierung der Renten und eine Arbeitsplätze schaffende und erhaltende Konjunkturpolitik ethische Züge des Systems.[228] Dabei betonte Müller-Armack, dass bereits die Produktivität der Marktwirtschaft ein „stark soziales Moment“ darstelle.[229] Trotzdem wusste er, dass sein Modell widersprüchliche Ziele enthielt, ging jedoch davon aus, dass dieser potentielle Konflikt keineswegs unaufhebbar wäre.[230] So sei es nicht „die Einschränkung der wettbewerblich-marktwirtschaftlichen Ordnung“, die sozialen Fortschritt bewirke, sondern vielmehr „eine richtig verstandene Soziale Marktwirtschaft“.[231] Die Lösung suchte Müller-Armack daher nicht in der Betonung der Schutzrechte bestimmter Wirtschaftssubjekte oder der staatlichen Regulierung von Preisen und Löhnen, sondern im Wesen der Marktwirtschaft, das durch die Knappheit der Ressourcen die effizienteste Verknüpfung der sozialen Ziele mit dem Wettbewerb ermögliche.[232] Das Streben nach sozialer Sicherheit widerspreche der auf Wettbewerb ausgerichteten Marktwirtschaft daher nicht.[233] Trotzdem sei es notwendig, die soziale Sicherheit durch eine Vielzahl an Maßnahmen zu gewährleisten, zu denen u.a. die „Verwirklichung einer als öffentliche Aufgabe begriffenen Wettbewerbsordnung“, eine sich gegen Monopole richtende Politik sowie ein Einkommensausgleich gehöre. So sollte nicht nur das Erwerbsstreben des Einzelnen in eine Richtung gelenkt werden, die dem Gesamtwohl zuträglich ist, sondern auch ein möglicher Missbrauch von Macht in der Wirtschaft verhindert bzw. bekämpft sowie abträgliche Einkommens- und Besitzunterschiede beseitigt werden.[234]

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Während gegenwärtig die sozialpolitischen Grenzen der Sozialen Marktwirtschaft immer stärker belastet werden, wenn es um die Schaffung und Erhaltung erwarteter Mindestanforderungen geht, trägt der wirtschaftliche Wettbewerb einen negativen Tenor. Als anti-sozial aufgefasst, erinnert heute nichts mehr an das ursprüngliche Verständnis der wirtschaftlichen Produktivität als soziale Komponente. Dass allein die Ermöglichung von wirtschaftlichem Wachstum als sozial angesehen wird, weil in dessen Zuge steigende Löhne, höhere Kaufkraft und damit verbunden ein höherer sozialer Standard zu verzeichnen sind, scheint nicht mehr offensichtlich genug. Nicht verwundern kann dann auch die Tatsache, dass kein Hinterfragen der staatlichen Gewährleistung eines Ordnungsrahmens unter sozialen Gesichtspunkten stattfindet. Wird aber die Garantie eines freien Wettbewerbs und aller damit in der Sozialen Marktwirtschaft angelegten Freiheiten als integraler Bestandteil dieser Wirtschaftsordnung angesehen, gilt dies auch für die dazu erforderlichen staatlichen Eingriffe. Erfolgen diese zum Erhalt des freien Wettbewerbs, wird der Wirtschaft also ein Rahmen gesetzt, stellt sich die Frage, ob bereits derartige Eingriffe Ausdruck des Sozialen in der Wirtschaftsordnung Soziale Marktwirtschaft sind.

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Die sozialen Folgen einer freien Marktwirtschaft wurden als so negativ empfunden, dass nach Ende des Zweiten Weltkriegs bewusst eine Entscheidung für eine Wirtschaftsordnung mit vielfältigen sozialen Eingriffen getroffen wurde. Die konzentrierte Ansammlung wirtschaftlicher Macht bei Einzelnen, Niedriglöhne und überwiegend kurzfristig angelegte Entscheidungen der Wirtschaftssubjekte sollten durch wettbewerbspolitische Maßnahmen verhindert werden, um die Marktwirtschaft erheblich sozialer zu gestalten. Zu diesen Eingriffen zählt von Beginn an die Schaffung von allgemeinen Rahmenbedingungen wirtschaftlicher Betätigung. Damit wurden nicht nur bestimmte Verhaltensweisen erlaubt, sondern gleichzeitig diesen widersprechende Vorgehensweisen verboten, zu deren Absicherung verschiedene Sanktionen bereitgehalten werden. Ohne die Schaffung eines solchen Ordnungsrahmens würde der Wettbewerb nicht einem der Kerngedanken der Sozialen Marktwirtschaft entsprechen, der fordert, dass auch der wirtschaftliche Wettstreit von sozialen Maßnahmen flankiert werden muss. Denn nur wenn ein freier und den auf Fairness ausgerichteten Grundsätzen der Sozialen Marktwirtschaft entsprechender Wettbewerb erhalten wird, kann er seiner Bedeutung für den sozialen Charakter dieser Wirtschaftsordnung gerecht werden. Als sozial erweist sich diese Wirtschaftsordnung damit nicht erst bei offensichtlich rein sozialpolitischen Maßnahmen wie der Einkommensumverteilung, sondern bereits, wenn sie Vorkehrungen zum Schutz des Wettbewerbs selbst trifft.[235] Zur Rahmensetzung gewählte Mittel wie Wettbewerbsregeln sind dabei zwar nicht der soziale Faktor dieser Wirtschaftsordnung, doch sind sie es, die es dem Wettbewerb überhaupt erst ermöglichen, seine Wirkungen zu entfalten. Denn so notwendig, wie der Markt einer sozialen Korrektur bedarf, benötigen die sozialen Eingriffe die Effizienz des Wettbewerbs, um ihre Korrekturen umsetzen zu können.[236] Wie genau die sozialen Aspekte der Sozialen Marktwirtschaft im Einzelnen ausgestaltet sein müssen, ist an dieser Stelle nicht zu klären. Diese Aufgabe kann letztlich nur von den entsprechenden Fachdisziplinen geleistet werden, wobei zuerst an Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Soziologie zu denken wäre. Für die weitere Betrachtung völlig ausreichend ist daher die Erkenntnis, dass wettbewerbspolitische Maßnahmen letztlich erfolgen, um der Sozialen Marktwirtschaft ihren sozialen Charakter zu verleihen.

cc) Schutzfähigkeit der Sozialen Marktwirtschaft

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Die Soziale Marktwirtschaft beschreibt damit eine Rechts- und Organisationsform für Wirtschaftssubjekte und -prozesse, die genauso auf dem Prinzip der Freiheit des Wettbewerbs fußt, wie auf dem Grundsatz des sozialen Ausgleichs. Ihre erfolgreiche praktische Verwirklichung ermöglicht es diesem Konzept zwar, auf Faktizität zu verweisen, doch kann es sich mangels grundgesetzlicher Regelung nicht auf eine verfassungsmäßige Verankerung berufen. Nachdem lange Zeit umstritten war, wie der Umstand, dass das Grundgesetz keine entsprechenden Regelungen enthielt, zu deuten sei, traf das BVerfG 1954 in seiner Entscheidung zum Investitionshilfegesetz einige grundlegende Aussagen, die es 1979 im Mitbestimmungs-Urteil bestätigte. Dort stellte es fest, dass das Grundgesetz kein bestimmtes Wirtschaftssystem gewährleistet und weder eine Soziale Marktwirtschaft noch vollkommene wirtschaftspolitische Neutralität der Regierung bzw. Gesetzgebung garantiert.[237] Dass sich das Grundgesetz für kein bestimmtes Wirtschaftssystem entschieden hat, ermögliche dem Gesetzgeber vielmehr in den Grenzen des Grundgesetzes die ihm jeweils sachgerechte Wirtschaftspolitik zu wählen.[238] Wirtschaftsordnende Vorgaben im weitesten Sinne sind dem wirtschaftspolitisch neutralen[239] Grundgesetz nur insoweit zu entnehmen, als es die Verfassungsgrundsätze des Rechts- und Sozialstaats, der Demokratie sowie die Grundrechte enthält, denn die Regelungen in Art. 74 GG und Art. 109 GG dienen allein formellen Zwecken.

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So lässt sich den Formulierungen „sozialer Bundesstaat“ bzw. „soziale(r) Rechtsstaat“ in Art. 20 Abs. 1 GG und Art. 28 Abs. 1 GG entnehmen, dass sich der Staat bei der Wahl einer Wirtschaftsordnung nicht vollkommen seiner sozialen Verpflichtung entziehen und damit für einen reinen Liberalismus entscheiden darf. Die Art. 14 Abs. 3 und Art. 15 GG regeln, dass eine Enteignung bzw. Vergesellschaftung von Eigentum bzw. Grund und Boden möglich ist, soweit diese entschädigt wird, worin eine Sozialbindung in Form des gemeinschaftlichen Tragens von Lasten liegt. Gleichzeitig bedingen die Grundrechte in Art. 2 GG, 12 GG und Art. 14 GG dass kein System staatlicher Zwangs- bzw. Planungswirtschaft geschaffen werden darf. Die Vorgaben des Grundgesetzes ermöglichen also weder ein Wirtschaftssystem im Sinne des staatsfreien laissez-faire noch eine staatskollektivistische Planwirtschaft.[240] Zwar überlässt das Grundgesetz die Entscheidung für das Wirtschaftssystem der Auseinandersetzung der politischen Kräfte, doch hat der Gesetzgeber bei der Wahl eines Wirtschaftssystems die vom Grundgesetz vorgegebenen Schranken zu beachten, die verhindern, dass nahezu jedes ideologisch oder politisch gewünschte Wirtschaftssystem eingeführt werden kann.[241] Daher stellt die nach der Gründung der Bundesrepublik gewählte Wirtschaftsordnung der Sozialen Marktwirtschaft zwar eine mit dem Grundgesetz vereinbare, aber keinesfalls die einzig mögliche Ordnung dar.[242]

 

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Als Wirtschaftsordnung ist sie jedoch ähnlich von einer Vielzahl möglicher Marktteilnehmer und Austauschverhältnisse geprägt wie die Wirtschaft selbst. Zwar gibt die Soziale Marktwirtschaft durch das Erfordernis von Marktfreiheit und sozialem Ausgleich einen Rahmen dafür vor, wie Austauschverhältnisse oder Marktpositionen zu gestalten sind, doch besteht gleichzeitig eine nahezu unüberschaubare Anzahl denkbarer Teilnahmeformen. Dies bringt allerdings eine ebenso große Vielfalt konkret bestimmter Rechte und Pflichten, die sich aus der Teilnahme am Wettbewerb ergeben, mit sich. Wird deren Verletzung festgestellt, ist eine solche nicht selten auch auf ihre Strafbarkeit hin zu untersuchen. Eine volkswirtschaftliche Beurteilung erweist sich dabei oft als wenig hilfreich, da sie beispielsweise nicht danach unterscheidet, ob sich ein Vermögenswert bei Person A oder Person B befindet, so lange er überhaupt noch im Wirtschaftskreislauf vorhanden ist.[243] Im Gegensatz dazu fragt das Strafrecht explizit danach, warum und wie die fragliche Person an den betreffenden Vermögenswert gekommen ist, also ob dies rechtmäßig und nicht auf kriminelle Art und Weise geschah.[244] Die dazu zur Verfügung stehenden strafrechtlichen Instrumente, die der Systematisierung der Straftatbestände und Auslegungsorientierung dienen, müssen zur Erfassung der Sachverhalte allerdings auf konkrete und vor allem inhaltlich zumindest bestimmbare Anhaltspunkte zugreifen können.

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Um eine strafbare Rechts(guts)verletzung an den Fundamenten einer Wirtschaftsordnung festzustellen, wird daher auf die ihr Wesen ausmachenden Elemente und Institutionen abgestellt. Die Elemente und Institutionen, die die Funktionsfähigkeit und Existenz der Sozialen Marktwirtschaft gewährleisten, werden durch die Wirtschaftsordnung nicht abschließend vorgegeben. Fest steht jedoch, dass der Markt die Institution der Sozialen Marktwirtschaft darstellt, die für sie nicht nur prägend, sondern von existentieller Bedeutung ist. Von Relevanz sind zwar ebenso die Wirtschaftssubjekte und -objekte sowie begleitende Rechte wie Privateigentum, Vertrags-, Gewerbe-, Konsumenten- und Berufsfreiheit, doch finden sich vor allem erstere durchaus auch in einer Wirtschaftsordnung mit planwirtschaftlichen Einflüssen. Es ist der Angebot und Nachfrage regulierende Markt, welcher der Sozialen Marktwirtschaft ihre Prägung gibt, denn die Bestimmung des Marktpreises im Wege der freien Preisbildung verleiht dieser Wirtschaftsordnung erst ihren Charakter als ein von Wettbewerb charakterisiertes marktwirtschaftliches System. Dabei sind Wettbewerb und Markt auf engste Weise miteinander verflochten, da ohne Wettstreit der Wirtschaftssubjekte kein solcher Markt funktionieren könnte und der Wettbewerb stets ein entsprechendes Forum zum Güteraustausch benötigt.

So sind beispielsweise der freie Wettbewerb (§ 298 StGB), dessen lauterer Ablauf (§ 299 StGB), die Zuverlässigkeit und Wahrheit der Preisbildung, das Institut der Subvention (§ 264 StGB) und das Funktionieren des Kapitalmarkts (§ 264a StGB) als eigene Rechtsgüter anerkannt.[245] Die Bedeutung dieser Institutionen für die Funktionsfähigkeit und Existenz der Sozialen Marktwirtschaft führte dazu, dass die Notwendigkeit ihrer Absicherung durch das Strafrecht als dringlich empfunden wurde und im Einklang mit verfassungsrechtlichen Aspekten erfolgt.[246]

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Ihren Ausgangspunkt nahm diese Erkenntnis im weitesten Sinne wohl mit der Entwicklung der Institutionenökonomik, welche in Form der Neuen Institutionenökonomik seit den 1970er-Jahren Zuspruch innerhalb der Volkswirtschaftslehre findet. Diese Forschungsrichtung geht von der Bedeutung der Institutionen für den Wirtschaftsprozess aus,[247] wobei unter diesen überwiegend „ein auf ein bestimmtes Zielbündel abgestelltes System von Normen einschließlich deren Garantieinstrumente, mit dem Zweck, das individuelle Verhalten in eine bestimmte Richtung zu steuern“[248] verstanden wird. Institutionen stellen damit verschiedene Erscheinungsformen eines geregelten Zusammenlebens und Kooperierens dar, womit sie im sozialen Bereich ordnend wirken.[249] Dabei treten Institutionen in formeller Form beispielsweise als Gesetze und Verordnungen auf, aber auch in informeller Art als soziale Normen und Traditionen. Die Neue Institutionenökonomik erkannte die Notwendigkeit einer auch rechtlichen Absicherung sowie, dass die Gesellschaft an der Nutzung und Einhaltung dieser Regelsysteme interessiert ist[250].

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Auch das Strafrecht übernahm das Wissen um die Bedeutung von Kapitalmarkt, Preisbildung und Wettbewerb sowie vergleichbaren Elementen für die Funktionsfähigkeit und Existenz der Sozialen Marktwirtschaft. Verhaltensweisen, die der Gesetzgeber bei der Schaffung dieser Tatbestände bewusst bedacht hat, erfassen die gesetzlichen Normen trotz lebhafter Diskussionen um die Ausbreitung abstrakter Gefährdungsdelikte, die Ausweitung der Strafbarkeit ins Versuchsstadium, Probleme der Zurechnung und Beteiligung oder das Abstandnehmen vom Erfordernis eines Schadens grundsätzlich angemessen. Die Unzufriedenheit über das Wirtschaftsstrafrecht ist trotzdem enorm, knüpft aber nicht nur an den genannten Punkten an, sondern bezieht sich vor allem auf den Umgang mit „neuen“ Formen wirtschaftlichen Fehlverhaltens und den Wunsch, diese ungeachtet aller Schwierigkeiten mit dem Rechtsgut in seiner „rechtlichen“ Funktion zu pönalisieren.

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Mit der Orientierung an einzelnen Institutionen und Elementen ging jedoch der Blick des Strafrechts auf das Gesamtbild verloren. So tritt wirtschaftliches Fehlverhalten zwar seit jeher in vielfältigster Form auf, war jedoch ursprünglich gegebenenfalls mit strafrechtlichen Mitteln greifbar, da zumindest das Unrecht schnell erfasst werden konnte. In jüngerer Vergangenheit findet sich aber eine steigende Anzahl wirtschaftlicher Vorgänge, die zwar falsch erscheinen, deren Unrechtsgehalt jedoch außerhalb moralischer und ethischer Kategorien kaum greifbar war. So ist beispielsweise offensichtlich, dass Entscheidungen ohne jedes Verantwortungsgefühl für die körperliche Unversehrtheit der Kunden getroffen wurden (Erdal), Privatinteresse an sportlicher Betätigung über buchhalterische Korrektheit siegte (SSV Reutlingen) oder es in Gutsherrenart zur Verteilung von Unternehmensgeldern kam (Mannesmann). Weniger deutlich erkennbar war dagegen, wie und wo bei derartigen Fällen das Strafrecht technisch sauber und inhaltlich verständlich zu seinem berechtigten Einsatz kommen sollte. Nicht selten gelang es Strafrechtswissenschaft und -praxis trotzdem unter Schaffung hochtheoretischer Unrechtskonstruktionen in diesen Vorgängen kriminelles Unrecht auszumachen. Meist wurde dabei die „rechtliche“ Funktion des Rechtsguts als wenig hilfreich empfunden, trotzdem hinderte dies nicht daran, im Rahmen von Auslegungsfragen ausgiebige Begründungen über die Strafwürdigkeit wirtschaftlichen Fehlverhaltens herzuleiten, die nicht selten allenfalls geringen Rechtsgutsbezug aufwiesen. Unter großem Bemühen erfolgte dies jedoch nur mehr oder weniger überzeugend für die jeweils in Frage stehende Handlung, nicht aber in einer für das gesamte Wirtschaftsstrafrecht allgemeingültigen Art und Weise.

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In diesem Vorgehen drücken sich letztlich die zwei großen Probleme des Rechtsguts im Wirtschaftsstrafrecht aus. Einerseits werden Funktionsverschiebungen erzwungen, indem auf „rechtlicher“ Ebene schützenswert Erkanntes als Rechtsgut deklariert Ergebnisse begründen soll, für die es auf keinerlei protostrafrechtliche Grundlage zurückgreifen kann. Nicht nur das dazu bisweilen notwendige Anknüpfen an hochabstrakte Gefährdungen zur Legitimation strafrechtlicher Interventionen macht deutlich, dass der dogmatisch überzeugende Weg nicht immer über die Rechtsgutslehre führt. Grundlegende Fragen der Strafwürdigkeit unter dem Mantel der Auslegung zu diskutieren, kann allenfalls zu befriedigenden inhaltlichen Erklärungen im Einzelfall führen, in dogmatischer Hinsicht dagegen stets nur unbefriedigend sein. Straftatbestände auszulegen muss zwar auch unter genetischen Gesichtspunkten erfolgen, doch kann dabei das eigentliche Problem der mangelnden Durchdringung der Strafwürdigkeit im Wirtschaftsstrafrecht insgesamt nicht gelöst werden.

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Die Gefahren und Schutzobjekte des Wirtschaftsstrafrechts stellen sich als wesentlich heterogener und abstrakter dar, als es jene Dinge waren, an denen die Lehre vom Rechtsgut entwickelt wurde. Denn es war das Streben nach einer rationalen Erfassung, Gestaltung und Begrenzung des Strafrechts in der Zeit von Aufklärung und Liberalismus, das alle Strafnormen auf den „gemeinsamen Kern“ der Rechtsgutsverletzung zurückführen wollte.[251] Gleichwohl blieb der Begriff in seiner Geschichte stets Gegenstand unterschiedlicher Deutungen und auch kontroverser Diskussionen, wobei nicht immer sein Erkenntniswert, sondern oftmals allein die „Frage der ‚Richtigkeit‘ oder ‚Unrichtigkeit‘ eines Begriffs“ im Vordergrund stand.[252] Unabhängig von dieser Entwicklung kann jedoch nicht von einem „Rechtsgut“ die Rede sein, wo sich ein solches nicht eindeutig erkennen lässt. Ein derartiges Vorgehen würde lediglich grundsätzlich berechtigte Begriffsbildungen sowie bewährte dogmatische Methoden verzerren und so eine für die gesamte Strafrechtswissenschaft abträgliche Wirkung entfalten. Daher darf auch nicht alles schützenswert Erscheinende als Rechtsgut deklariert und in diesem Sinne „passend gemacht“ in eine bestehende Dogmatik gepresst werden, vielmehr ist eine andere Legitimationsmöglichkeit für das Strafrecht zu finden. Mithin können zwar die Wirtschaftsordnung bzw. deren Institutionen den Schutz des Wirtschaftsstrafrechts in Anspruch nehmen, jedoch nicht als „Rechtsgüter“, weshalb diese strafrechtlichen Interventionen auch einer speziellen Legitimierung bedürfen. Nur wenn die Funktionsebenen der Rechtsgutslehre getrennt werden und die Berechtigung des Rechtsguts auf „vorstrafrechtlicher“ Ebene überprüft sowie durch passendere Kriterien ergänzt wird, kann im Wirtschaftsstrafrecht ein sinnvolles Unrechts- und Strafwürdigkeitssystem entstehen. Die dafür zunächst einmal erforderliche Denkarbeit ist bereits im Rahmen einer protostrafrechtlichen Anknüpfung zu leisten.

Teil 2 Begriff des Marktwirtschaftsstrafrechts › II › 2. „Vorstrafrechtliche“ Funktion des Rechtsguts