Grund und Grenzen eines Marktwirtschaftsstrafrechts

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d) Defizite der Rechtsgutslehre

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Überwiegend wird als selbstverständlich vorausgesetzt, dass das Strafrecht den Schutz der Rechtsgüter bezwecke und deren Verletzung Grund jeder strafrechtlichen Sanktionierung sei.

Werden für die Strafwürdigkeit neben der Rechtsgutsverletzung bzw. dem „Wert des Rechtsguts“[147] weitere Anhaltspunkte gefordert, liegen diese meist in der subjektiven Einstellung des Täters[148], gelegentlich aber auch in der „Gefährlichkeit des Angriffs“[149]. Eine Begründung dieses Vorgehens lässt sich dagegen nicht finden, vielmehr scheint es, als sei die Legitimierung der Strafwürdigkeit allein durch die Beeinträchtigung eines Rechtsguts möglich. Gleichwohl werden der auf die Rechtsgutslehre gestützten Bestimmung der Strafwürdigkeit verschiedene kritische Einwendungen entgegengehalten. So werden zum einen Bedenken gegen die Geeignetheit des Rechtsguts(-begriffs) geäußert, wobei insbesondere sein „weitgehend ungeklärt(er)“ Inhalt[150], das Fehlen „klare(r) Grenzlinien“[151] sowie daran angelehnte wissenschaftliche Uneinigkeit[152] beklagt wird. Die Kriterien der Wertigkeit des betroffenen Rechtsguts, der subjektiven Einstellung des Täters sowie der Gefährlichkeit des Angriffs seien nicht nur einseitig, sondern auch mit dem fragmentarischen Charakter des Strafrechts unvereinbar, da Folge ihrer Anwendung ein „exzessive(r) Rundumschutz des Rechtsguts durch das Strafrecht“ wäre.[153] Auch könnten sie nicht die Strafwürdigkeit als eigenständigen Unwert erfassen, sondern nur den „Unrechts- und Schuldgehalt“ der zu bewertenden Tat.[154] Umstände, welche wie beim strafbefreienden Rücktritt vom versuchten Mord nach §§ 212 Abs. 1, 211, 22, 23, 12 Abs. 1, 24 Abs. 1 S. 1 StGB ein Verhalten trotz massiven Unrechts und schwerer Schuld nicht strafwürdig erscheinen lassen, könnten nicht berücksichtigt werden.[155] Dabei sei ein Konflikt mit der Erkenntnis, dass zwar jedes rechtswidrige und schuldhafte Verhalten das „gedeihliche Zusammenleben“ störe, aber nicht in jedem Fall dessen Grundlagen angreife,[156] unvermeidlich. Auch würden nicht selten einzelne Verletzungen eines Rechtsguts „als Angriff auf die Gemeinschaftsgrundlagen gewertet“, während dies bei anderen, hinsichtlich des Unrechts gleich schwerwiegenden Verhaltensweisen, nicht der Fall sei.[157] Oftmals gelinge es kaum, „aus dem Gesamtbereich des sozialethisch-wertwidrigen Verhaltens“[158] dasjenige herauszufiltern, in dem sich materielles Unrecht verkörpert. Am schwersten dürfte jedoch wiegen, dass in vielen Fällen ein Verhalten zwar unrecht und der betreffende Gemeinschaftswert erschüttert erscheint, jedoch keine Verletzung eines Rechtsguts erkennbar und damit eine Begründung der Strafwürdigkeit anhand der Rechtsgutstheorie nicht möglich ist. Gelingen kann durch die strenge Anbindung des Strafrechts an die Rechtsgutslehre also weder eine überzeugende Legitimation des Strafrechts noch seine sinnvolle Umhegung, da die gesellschaftlichen Vorgänge zu komplex für die herkömmlichen Denkmuster sind.[159] Daneben wird angeführt, dass das Element der Rechtsgutsverletzung kein Alleinstellungsmerkmal des Strafrechts bilde, weshalb es nicht das Wesen des Verbrechens und damit der Strafwürdigkeit ausmachen könne, sondern ebenso auf das deliktische Handeln im Zivilrecht sowie die öffentlich-rechtliche Zuwiderhandlung, also in anderen Rechtsgebieten angewendet werde.[160]

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Obwohl die Rechtsgutslehre diesen Unzulänglichkeiten erstaunlich wenig problembewusst gegenüber tritt,[161] zeigen die vorgebrachten Einwände deutlich, dass eine Legitimierung des Strafrechts und damit eine Bestimmung der Strafwürdigkeit jenseits der Rechtsgutslehre unabdingbar ist.

e) Gegenwärtige Lage des Rechtsguts im Wirtschaftsstrafrecht

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Die gegenwärtige Diskussion um die Lage des Wirtschaftsstrafrechts und sein Verhältnis zum Rechtsgut(-sbegriff) erfolgt heftig, aber ungewöhnlich einseitig, da es überwiegend um Fragen der Auslegung von Tatbeständen des Besonderen Teils geht. Neben dieser elementaren Funktion des Rechtsguts bei Auslegungsfragen kommt seiner ebenso wichtigen Bedeutung für den materiellen Verbrechensbegriff, also für die Dogmatik des Strafrechts und dessen Systembildung, insbesondere im Rahmen des Wirtschaftsstrafrechts, kaum Beachtung zu.[162] Das Rechtsgut erfüllt jedoch nicht nur wichtige Funktionen innerhalb des Strafrechtssystems indem es der Systematisierung der Straftatbestände und als Orientierungspunkt zur Auslegung dient, sondern wirkt ebenso systemkritisch als kriminalpolitischer Prüfstein, wenn es darum geht, die strafrechtlich schutzwürdigen Güter des Einzelnen und der Allgemeinheit auszuwählen und zu bestimmen.[163] Das Wesen des Rechtsguts ist dabei grundsätzlich ambivalent, da es im Rahmen der Systemkritik vom sozialen Kontext der Bestimmung des Unrechtsbegriffs abhängt und damit für oder gegen die Kriminalisierung bestimmter Verhaltensweisen sprechen kann.[164]

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Obwohl beide Funktionen im Strafrechtssystem bedeutend sind, fand in den letzten vier Jahrzehnten eine Neuorientierung statt, die sich in einer Abkehr von der Behandlung des Rechtsguts als Instrument der strafrechtlichen Arbeit und der Hinwendung zu seiner Rolle im Rahmen der Kriminalpolitik und Systemkritik ausdrückte.[165] Dabei wirkt die Systemkritik nicht mehr entkriminalisierend, sondern vielmehr in einem kriminalisierenden Kontext, welcher der Begründung von Strafe dient.[166] Der Rechtsgutsbegriff wird also vermehrt zur Begründung von Kriminalisierungen herangezogen[167]. Heute erhält das Rechtsgut so vor allem Bedeutung, wenn es um die strafrechtliche Beurteilung einzelner Verhaltensweisen geht, die im Rahmen der sozialen, technischen oder wissenschaftlichen Entwicklung entstanden sind bzw. aktuell erwartet werden und denen das Potential zum Konflikt mit bereits anerkannten sozialen Interessen beigemessen wird.[168] Eine kritische Diskussion innerhalb des materiellen Verbrechensbegriffs findet jedoch nicht statt, so dass der Rechtsgutsbegriff letztlich mehr und mehr diffus wird. Gerade diese Fragestellungen sind es aber auch, welche die Rechtsgutslehre bei der Beurteilung der Strafwürdigkeit nur wenig souverän wirken lassen. Während die übermächtige Stellung des Rechtsguts bei der Strafwürdigkeitsbestimmung im Allgemeinen wegen seiner hohen Funktionalität begründet ist, scheint dies im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts fraglich. Es gilt daher zu untersuchen, ob das Rechtsgutskonzept bei der Bewertung wirtschaftlichen Fehlverhaltens überhaupt tragfähig ist.

Teil 2 Begriff des Marktwirtschaftsstrafrechts › II. Rechtsgutsbegriff als hemmender Faktor des Wirtschaftsstrafrechts

II. Rechtsgutsbegriff als hemmender Faktor des Wirtschaftsstrafrechts

Teil 2 Begriff des Marktwirtschaftsstrafrechts › II › 1. „Rechtliche“ Funktion des Rechtsgutsbegriffs

1. „Rechtliche“ Funktion des Rechtsgutsbegriffs

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Während bei den „klassischen“ Delikten wie Körperverletzung, Totschlag, Diebstahl oder Sachbeschädigung kein Zweifel daran besteht, dass diese Tatbestände körperliche Unversehrtheit, Leben, Vermögen oder Eigentum schützen, ist dies bei Wirtschaftsdelikten deutlich schwerer zu bestimmen. Die Tatsache, dass das deutsche Strafrecht keinen allgemeinen Tatbestand der Wirtschaftsgefährdung oder -verletzung kennt, gestaltet die Suche nach spezifischen Tatbeständen von Beginn an schwierig. Grundsätzlich liegt zwar in der Benennung der Tatbestände und ihrer Kategorisierung in Abschnitte und Titel oft ein erster Hinweis auf die geschützten Güter und Werte, doch trifft auch dies auf wirtschaftsstrafrechtliche Normen nur teilweise zu. Ihre großzügige Verteilung im Kernstrafrecht als auch in den verschiedenen Gesetzen des Nebenstrafrechts sowie der Umstand, dass die meisten Tatbestände detaillierte Verhaltensbezeichnungen in ihrem Namen tragen, erschwert ein Auffinden und Zuordnen zum Gebiet des Wirtschaftsstrafrechts erheblich. Im (Straf-)Rechtssystem einen soll diese heterogenen Normen ihre Funktion, welche im Schutz der Wirtschaft vor strafwürdigen Angriffen besteht. So einfach sich diese Aussage treffen lässt, so kompliziert gestalten sich alle sonstigen Ausführungen. Denn es ist nicht nur unzureichend geklärt, wie genau dieser Schutz aussehen soll, sondern bereits, wie die Strafwürdigkeit wirtschaftlichen Fehlverhaltens bestimmt werden kann.

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Nach der h.M. wird dazu auf die Verletzung eines Rechtsguts abgestellt, doch sind die Rechtsgutslehre sowie das Kriterium der Rechtsgutsverletzung auf eine individualistische Denkweise ausgerichtet, die sich mehr oder weniger an der „Herbeiführung eines realen Schadens, einer meß- und wägbaren Einbuße an Gütern in der Welt der Erfahrung“[169] orientiert. Fehlverhalten in der Wirtschaft ist jedoch selten „als reale Veränderung in der empirischen Welt“[170] zu finden, womit ihm notwendigerweise „die unmittelbare Anschaulichkeit“[171] fehlt. Unabhängig von seinem generellen Potential im und für das Strafrecht sowie der „Leistung und Leitfähigkeit des Rechtsgutsbegriffs für die Begründung wie Begrenzung des strafrechtlichen Unrechts“[172] im Allgemeinen ist sein Potential zumindest im Wirtschaftsstrafrecht gering. Nicht selten kommt dem Rechtsgut aufgrund seiner Verknüpfung mit dem individualistischen Denkansatz sogar eine hemmende und damit auch beschränkende Rolle zu. Dies wird besonders dann deutlich, wenn es zu bestimmen gilt, was unter der zu schützenden „Wirtschaft“ zu verstehen ist und ob die Beeinträchtigung dieser selbst oder einzelner ihrer Institutionen bzw. Vorgänge zur Bestimmung der Strafwürdigkeit wirtschaftlichen Fehlverhaltens herangezogen werden soll.

 

a) Schutz der Wirtschaft

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Die Wirtschaft bezeichnet das ökonomische System einer Gesellschaft, also die Gesamtheit aller Institutionen und Handlungen, die dem rationalen Einsatz knapper Mittel zur Befriedigung von Bedürfnissen nach Gütern und damit der planvollen Deckung des menschlichen Bedarfs dienen.[173] Daran nehmen die in- und ausländischen Wirtschaftssubjekte teil, also private und öffentliche Unternehmen, private und öffentliche Haushalte sowie die Wirtschaftsobjekte, d.h. die Güter der Realwirtschaft wie Waren, Dienstleistungen und Institutionen sowie die Forderungen und Verbindlichkeiten der Finanzwirtschaft.[174] Die Wirtschaftssubjekte führen dabei verschiedenste Aktivitäten der Produktion und des Konsums durch und agieren dabei miteinander, indem sie Güter oder Informationen austauschen.[175] Die Wirtschaft legt also nur ein ökonomisches System mit einzelnen, in Austauschverhältnissen befindlichen Elementen fest. Wie diese organisiert sind, beispielsweise die Wirtschaftsteilnahme begonnen und beendet wird, ist durch den Wirtschaftsbegriff ebenso wenig bestimmt wie die Ausgestaltung der Verhältnisse oder die sich daraus für die Wirtschaftssubjekte und -objekte ergebenden Positionen innerhalb der Wirtschaft. Ebenso bleibt offen, ob und welche Rechte und Pflichten aus der Teilnahme am Austausch folgen. Daneben eröffnet sich durch die Menge der möglichen Wirtschaftssubjekte, -objekte und denkbaren Austauschverhältnisse eine unüberschaubare Vielzahl und damit einhergehende Vielfalt von Beziehungen.

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Dem Begriff der Wirtschaft ist also allenfalls das Ziel der optimalen Güterallokation zu entnehmen, nicht aus ihm abzuleiten sind dagegen Ge- oder Verbote, welche die dabei geltenden Wertmaßstäbe, Regeln oder rechtsverbindlichen Normen enthalten. Damit erweist sich der Wirtschaftsbegriff nicht nur als sehr weit, sondern auch als inhaltlich weitgehend unbestimmt, weshalb er zur Bestimmung strafwürdigen wirtschaftlichen Fehlverhaltens genauso ungeeignet ist wie als Instrument zur Systematisierung der Straftatbestände und Orientierungspunkt zur Auslegung. Bei einem Anknüpfen am Schutz der Wirtschaft würden die meisten im Kernstrafrecht anerkannten Rechtsgüter übergangen, weil aufgrund der umfänglichen Anknüpfungspunkte und Angriffsmöglichkeiten nahezu jedes Verhalten die Wirtschaft in irgendeiner Form betreffen würde. Statt einer dem fragmentarischen Charakter des Strafrechts entsprechenden Sanktionierung strafwürdigen Fehlverhaltens wäre das Ergebnis eine strafrechtliche Überregulation. Letztlich bliebe aber auch völlig im Unklaren, was genau geschützt und damit jenes, das Wirtschaftsstrafrecht ausmachende Kennzeichen sein soll. Schon aus diesem Grund fehlt der Wirtschaft bereits die zur Anerkennung als Rechtsgut erforderliche Bestimmbarkeit[176]. Das Wirtschaftsstrafrecht kann daher nicht über ein Anknüpfen am Schutz des Rechtsguts Wirtschaft legitimiert werden. Möglicherweise kann jedoch die entsprechende Wirtschaftsordnung den Schutz des Wirtschaftsstrafrechts in Anspruch nehmen.

b) Schutz der Wirtschaftsordnung

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Unter der Wirtschaftsordnung wird die grundsätzliche Rechts- und Organisationsform verstanden, innerhalb derer die Wirtschaftssubjekte tätig werden und die Wirtschaftsprozesse ablaufen.[177] Ziel jedes Wirtschaftssystems ist die besteffiziente Nutzung der jederzeit und überall knappen Ressourcen, also eine optimale Allokation (Zuordnung) der Güter.[178]

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Die Entscheidung darüber, wie die Abstimmung zwischen den Anbietern und den Nachfragenden erfolgen soll, ist dabei aufgrund der hochgradigen Arbeitsteilung in allen modernen Volkswirtschaften von grundlegender Bedeutung. Zur Auswahl stehen zwei verschiedene Arten, auf die eine Allokation erfolgen kann: Möglich ist einerseits eine Zentralverwaltungswirtschaft (sog. Planwirtschaft), welche eine zentrale staatliche Instanz voraussetzt, von der alle Wirtschaftsabläufe gelenkt werden, andererseits aber auch eine dezentrale Abstimmung von Angebot und Nachfrage, welche eine Marktwirtschaft kennzeichnet. Obwohl die beiden Systeme ihren Ausgangspunkten folgend also höchst unterschiedliche Möglichkeiten des Wirtschaftens beschreiben, haben sie gemeinsam, dass sie in der Realität nur in Annäherungen an diese theoretischen Grundformen vorkommen[179]. Die Wahl einer Wirtschaftsordnung korreliert dabei in auffälliger Weise stets mit der jeweiligen Gesellschafts- und Staatsform.[180] So finden sich in demokratischen Staaten marktwirtschaftlich organisierte Wirtschaftsordnungen, während das System der Zentralverwaltungswirtschaft in totalitär regierten Ländern auftritt[181], darüber hinaus lassen sich aber auch vielfältige Mischformen finden, welche durch die Übernahme systemfremder Elemente entstehen. Da sich die Untersuchung schon ihrem Titel nach auf die gegenwärtig in der Bundesrepublik vorzufindende Wirtschaftsordnung konzentriert, beschränken sich die weiteren Ausführungen auf die Soziale Marktwirtschaft und deren möglicherweise bestehenden Rechtsgutscharakter.[182]

c) Schutz der Sozialen Marktwirtschaft

aa) Wettbewerb als Grundstein der Wirtschaftsordnung

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Das Modell der Sozialen Marktwirtschaft baut auf dem System der freien Marktwirtschaft auf. Dessen Beschreibung wurde vor allem durch den schottischen Moralphilosophen und Begründer der modernen Nationalökonomie Adam Smith geprägt, der von der Selbstorganisation des Markts durch die „unsichtbare Hand“ ausging.[183] Es sei der Markt allein, welcher Produktion und Konsum steuere, während der Staat darauf nur indirekt durch die Bereitstellung öffentlicher Güter und die Schaffung einer Rechtsordnung einwirke. Als unverzichtbare Elemente einer solchen freien Marktwirtschaft sind neben Privateigentum, Vertrags-, Gewerbe-, Konsumenten- und Berufsfreiheit, die freie Preisbildung durch Angebot und Nachfrage, der freie Zugang zum Markt sowie insbesondere der freie Wettbewerb anzusehen.[184] Diese vielfältigen Grundsätze der freien Marktwirtschaft erscheinen zunächst zwar überaus reizvoll, verursachen in der Praxis jedoch schwerwiegende Nachteile für die Marktakteure und letztlich auch für den Markt selbst. So führen die unterschiedlichen Startbedingungen, die den Unternehmen zur Verfügung stehen, schnell zur Vormacht Einzelner, welche die Bildung von Monopolen und Kartellen mit sich brächte.[185] Daneben würde das reine Spiel von Angebot und Nachfrage unter bestimmten Bedingungen zu drastischen Konsequenzen wie hoher Arbeitslosigkeit und nahezu auf Null sinkenden Löhnen führen.[186] Ebenso würden von den Marktteilnehmern wohl keine Entscheidungen getroffen, deren gewinnbringende Wirkung sich erst in weiterer Zukunft zeigt, wobei in letzter Konsequenz ein ruinöser Wettbewerb und Marktversagen nicht ausgeschlossen wären.[187] Die Gedanken an derartig schwerwiegende Nachteile führten unmittelbar zu der Erkenntnis, dass eine solche Wirtschaftsordnung nicht auf Dauer tragfähig und daher nicht wünschenswert ist, und es waren auch diese Überlegungen, die zur Entwicklung der Sozialen Marktwirtschaft führten.[188]

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So ist das Verständnis der Sozialen Marktwirtschaft heute zwar untrennbar mit der Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland nach Ende des Zweiten Weltkriegs verbunden, doch sind einige Fakten über ihren Ursprung noch immer ungeklärt. Heute dient der Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ zur Beschreibung einer wirtschaftspolitischen Ordnungsidee oder eines solchen Konzepts, eines Stilgedankens oder eines „Leitbild(s) der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik“.[189] Über die genaue Herkunft der Formulierung ist einzig bekannt, dass der Nationalökonom und Soziologe Alfred Müller-Armack den Begriff 1946 erstmals in einem wissenschaftlichen Text verwendete, seinen Gebrauch aber ausschließlich für eine Ordnungspolitik angebracht hielt, die bestimmte Bedingungen erfülle.[190] So war die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft ebenso wirtschafts- wie auch gesellschaftspolitisch angelegt und sollte Freiheit und soziale Gerechtigkeit mit den Erkenntnissen um die Fähigkeiten des Instruments Markt verbinden.[191] Damit richtete sich Müller-Armack einerseits gegen Modelle zentraler Wirtschaftslenkung, andererseits aber auch gegen Entwürfe sozialistischer Prägung sowie einen Liberalismus des 19. Jahrhunderts.[192] Angetrieben von dem Anliegen, den Grundsatz der Freiheit des Markts mit dem Prinzip des sozialen Ausgleichs zu verbinden, konnte er seine zunächst theoretischen Überlegungen einige Jahre später in die Praxis umsetzen, als er ab 1952 die Leitung der Grundsatzabteilung des Bundeswirtschaftsministeriums übernahm.[193] Das Grundgesetz enthält im Gegensatz zur Weimarer Reichsverfassung[194] keinen Abschnitt über die Wirtschaftsordnung oder Einzelbestimmungen, die sich ausdrücklich auf die staatlichen Befugnisse zur Einflussnahme auf die Wirtschaft beziehen. Lange Zeit war umstritten, wie diese Nichtregelung zu deuten sei, so dass die notwendige Entscheidung zunächst von der Politik getroffen wurde, indem man begann, das von Alfred Müller-Armack und Ludwig Erhard entwickelte Konzept der Sozialen Marktwirtschaft in der Bundesrepublik zu verwirklichen.[195]

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Die systematische Grundlage der freien Marktwirtschaft wurde dabei vor allem durch wettbewerbspolitische Maßnahmen des Staats ergänzt, die insbesondere der Gestaltung eines Ordnungsrahmens für die Wirtschaft dienten. Zentrales Element der Sozialen Marktwirtschaft bildet der freie Markt, der Angebot und Nachfrage reguliert und so den Marktpreis bestimmt. Die entscheidende Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit und Legitimation der Marktwirtschaft ist ein funktionsfähiger Wettbewerb, der die Verbindung von Eigen- und Allgemeininteressen ohne staatlichen Zwang ermöglicht.[196] Was genau dabei unter diesem äußerst vielfältig in Erscheinung tretenden „natürliche(n)“[197] bzw. „reale(n)“[198] Phänomen des Wettbewerbs zu verstehen ist, lässt sich schwer in allgemein gültiger Form beschreiben[199]. Da Wettbewerb als „Urkraft menschlichen Handelns“[200] in nahezu allen Bereichen des Lebens zu finden ist, ermöglicht allein ein hoher Abstraktionsgrad seiner Eigenschaften alle Wettbewerbserscheinungen in Wirtschaft, Sport oder Beruf gleichermaßen zu erfassen[201]. So eint alle Formen des Wettbewerbs das Kennzeichen der Rivalität von mindestens zwei Personen, welche „das gleiche Ziel verfolgen, es aber nicht gleichzeitig oder zumindest nicht in gleichem Maße erreichen können“.[202] Obwohl diese sehr allgemein gehaltene Formulierung den Bereich der Wirtschaft nur unzureichend erfasst und ein Konkretisierungsbedarf erkannt wurde, konnte bisher keine entsprechende Präzisierung erzielt werden.[203]

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Der Gesetzgeber enthielt sich im UWG und GWB einer Legaldefinition und die Ansicht, „dass sich das reale Phänomen Wettbewerb einer begrifflichen Festlegung gänzlich entziehe“, findet sich sowohl in der Wirtschafts- als auch der Rechtswissenschaft.[204] Eine gewisse Einigkeit herrscht dagegen über die Möglichkeit, den wirtschaftlichen Wettbewerb im Wesentlichen über zwei Charakteristika aufzufassen. So bedürfe es der Existenz eines Markts mit mindestens zwei Anbietern oder Nachfragern, welche sich bezüglich des gleichen Ziels antagonistisch verhielten, sowie eines „variierende(n) Spannungsverhältnis(ses), indem ein höherer Zielerreichungsgrad des einen zu einem geringeren Zielerreichungsgrad des anderen führt“.[205] Als unverzichtbarer Grundstein desselben wird die Wettbewerbsfreiheit angesehen, welche mit der freien unternehmerischen Betätigung das Ein- und Austreten auf einen Markt sowie die freie Wahl von Tauschpartner, -objekt und -bedingungen umfasst.[206] Gesellschaftspolitisch schafft der Wettbewerb nicht nur eine verhältnismäßig breite Verteilung wirtschaftlicher Macht, sondern sichert auch die wirtschaftliche Handlungsfreiheit als Ausprägung der persönlichen Freiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG.[207] Ungeachtet der vielzähligen Ansatzpunkte zu Definition und Verständnis von Freiheit genügt es hier, Freiheit „negativ im Sinne eines Fehlens von Handlungszwang und positiv im Sinne der Möglichkeit (…) nach eigenem Willen ökonomische Handlungen vorzunehmen“[208] aufzufassen. Die Gewährleistung der genannten Freiheiten macht ihre Inanspruchnahme durch die Wirtschaftssubjekte höchst wahrscheinlich, da der Wille zu wettbewerblichem Verhalten in der Regel mit der Fähigkeit zu diesem einhergeht.[209]

 

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Der Wettbewerb ermöglicht zwar grundsätzlich die Beschränkung und Kontrolle von Macht sowie die Abgrenzung individueller Freiheitsräume, erfüllt darüber hinaus aber vor allem ökonomische Lenkungsfunktionen. So dient der Wettbewerb der Koordination von Bedarf und Produktion, welche erreicht wird, indem er Produkte und Kapazitäten flexibel der sich ständig verändernden Nachfragestruktur und technischen Entwicklung anpasst.[210] Neben einer optimalen Koordinationslage wird so auch ein funktionsfähiges Preissystem geschaffen.[211] Mit dieser Koordinationsfunktion eng verbunden ist die Allokationsfunktion des Wettbewerbs. Indem die Produktion auf die Nachfragestruktur reagiert, werden die Produktionsfaktoren so zusammengestellt, dass die Produktivität ein Maximum erreicht und in den Bereichen, welche die größte Nachfrage verzeichnen, besonders hoch ist.[212] Durch diese Reallokationsfunktion lenkt der Wettbewerb die Produktionsfaktoren an die Stellen, wo sie optimal verwendet werden können.[213] Gleichzeitig setzt der Wettbewerb die Wirtschaftssubjekte unter einen tatsächlichen oder vermuteten Druck, mindestens genauso leistungsstark, idealerweise aber besser als die Konkurrenz zu sein, wodurch eine dauernde Suche nach neuen und besseren Erkenntnissen, Möglichkeiten ihrer Nutzbarmachung und Produktionsverfahren ausgelöst wird.[214] Dieser Mechanismus des Markts verbessert die Möglichkeiten des Konsums, indem er die Anbieter stets zu Innovationen sowie technischem Fortschritt anhält.[215] Die bei dieser Forschungs- und Entwicklungsarbeit gemachten Fortschritte resultieren in einer Senkung der Produktionskosten und führen zu einer Auslese der besten Marktteilnehmer.[216] Alle Marktteilnehmer bemühen sich daher zur Verbesserung der eigenen Leistung stets darum, Fehler zu vermeiden und bereits begangene Fehler schnellstmöglich zu korrigieren. Unternehmen, denen das nicht gelingt oder die ihre Ressourcen nicht optimal nutzen, sind dagegen gezwungen, schnell vom Markt auszuscheiden. Diese Zusammenhänge führen dazu, dass Unternehmen in der Sozialen Marktwirtschaft in hohem Maße dazu in der Lage sind, sich einerseits an negative Entwicklungen wie die Verknappung von Rohstoffen oder die Erhöhung von Preisen, andererseits aber auch an die gewandelten Bedürfnisse der Konsumenten anzupassen.

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Indem die leistungsschwachen Wirtschaftssubjekte vom Markt ausscheiden wird nicht nur eine hohe Effizienz der Marktteilnehmer erreicht, sondern auch gewährleistet, dass die durch das Marktausscheiden freigewordenen Produktionsfaktoren für produktivere Verwendungen genutzt werden können.[217] Durch den ständigen Antrieb der Anbieter, die Effizienz ihrer Ressourcennutzung zu steigern, und den gleichzeitig bestehenden angemessenen Preisen bei hoher Marktversorgung sind systemimmanent geeignete Anreize und Sanktionen zur Beeinflussung der Wirtschaft gegeben.[218] In der Gesamtheit dieses Prozesses drückt sich die Fortschrittsfunktion des Wettbewerbs aus.[219] Der Wettbewerb verdeutlicht der Gesellschaft, dass hohe Gewinne und Einkommen allein aus besonderen Leistungen folgen, weil der leistungsstärkste Marktteilnehmer den höchsten Gewinn verbuchen kann und der Wettbewerb damit für eine leistungsgerechte Primärverteilung sorgt.[220]

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Eine solche Entlohnung der Leistungsstarken gewährleistet jedoch nicht nur die optimale Reaktion auf die Bedürfnisse der Nachfrager, sondern auch, dass die Wirtschaftssubjekte dauerhaft eine Erweiterung und Verbesserung ihrer Angebote anstreben.[221] Zwingende Voraussetzung für eine solche, der Sozialen Marktwirtschaft immanente, Förderung von Leistungsverbesserungen bei gleichzeitiger Verdrängung marktschwacher Unternehmen ist jedoch, dass auf dem Markt ein unverzerrter Wettbewerb herrscht.[222] Essentiell dafür ist sowohl die Freiheit aller Wirtschaftssubjekte überhaupt am Markt teilzunehmen, als auch, dass ihnen dabei gleiche Zugangsmöglichkeiten zum Markt zur Verfügung stehen, mithin der Wettbewerb für alle start- und chancengerecht gestaltet ist[223]. Da das unbeschränkte Spiel von Angebot und Nachfrage trotz seiner positiven Wirkungen zu den bereits beschriebenen sozial unerwünschten Folgen einer freien Wettbewerbswirtschaft führen kann, verlangt die Soziale Marktwirtschaft, dass durch den Staat Vorkehrungen zur Vermeidung solcher Ergebnisse getroffen werden. So hat der Staat die Voraussetzungen zur Einkommens- und Vermögensumverteilung, Leistung von Sozialhilfe, Zahlung von Renten und Subventionen genauso zu schaffen, wie er die Ansammlung von Marktmacht sowie eine Preisbildung außerhalb des Markts verhindern muss[224]. Ziel derartiger staatlicher Eingriffe in Form sozialpolitischer Korrekturen ist die Herstellung der größtmöglichen sozialen Sicherheit bei gleichzeitig größtmöglichem Wohlstand aller. Durch solche staatlichen Einwirkungen nach dem Prinzip des sozialen Ausgleichs wird zwar die Vermeidung negativer Auswirkungen des Wettbewerbs angestrebt, der Markt selbst jedoch nicht eingeschränkt.