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»Er war überrascht, genau wie du. Zuerst wollte er wissen, ob ich mich nicht getäuscht haben könnte.« Sie drehte ihren Zeigefinger an der Stirn hin und her. »Hält mich wohl für plemplem. Alterssenil. Oder was auch immer. Hat er zwar nicht gesagt, aber mit der Zeit wird man sensibel für die Art und Weise, wie einem Fragen gestellt werden. So nach dem Motto: Geht es Ihnen gut, Frau Dirkens, oder war zu viel von Ihrem Whiskey im Tee?« Sie schraubte ihre Stimme mit gespielter Empörung in die Höhe.

Daniela lachte, legte aber gleichzeitig den Zeigefinger an den Mund. »Pst. Was sollen denn die Gäste denken?«

»Stimmt. Seit ich nicht mehr selbst verantwortlich bin, vergesse ich schon mal, dass wir nicht allein im Haus sind.« Sie nahm die Teller auf, die Daniela auf die Anrichte gestellt hatte. »Überhaupt sollte ich dir helfen statt nur zu reden. Zu zweit ist das schneller erledigt.«

»Frau Dirkens!« Daniela stemmte die Hände in die Hüften. »Ich will wissen, was Martin gesagt hat.«

»Ach so, ach ja. Wahrscheinlich werde ich wirklich sonderlich.« Sie zwinkerte Daniela zu. Zu gern tanzte sie manchmal aus der Reihe. Auch wenn es sich um eine ernste Angelegenheit handelte. Aber das Leben hatte sie gelehrt, dass eine Prise Humor das Grauen auf Abstand halten konnte. »Martin wird es weitergeben. An den Kommissar aus Aurich, der die Ermittlungen leitet. Vielleicht kommen sie gleich vorbei, obwohl ich alles am Telefon berichtet habe. Ich denke mal, Martin will sich das nicht entgehen lassen, wenn ich dem Kommissar meinen Giftschrank präsentiere.«

»Na, ich weiß nicht. Keiner von den beiden wird an Ihrer speziellen Teezeremonie teilnehmen können.« Sie deutete auf die Uhr am Herd. »Dafür ist es zu früh am Tag. Und die beiden sind im Dienst.«

»Mal sehen, mal sehen. Ich habe jedenfalls nichts gegen den Besuch.« Dass es ihr manchmal schwerfiel, den Tag auszufüllen, seit sie die Pension nicht mehr führte, musste sie gar nicht sagen. Das wusste Daniela. Und hielt immer ein paar kleine Aufgaben für sie bereit.

»Also hat Martin das Ganze ernst genommen und nicht nur abgetan?«, fragte sie nach.

»Ja, sicher. Besonders, als ich ihm berichtete, was ich von dir weiß. Dass Sohn und Schwiegertochter im Urlaub sind, während unser Bürgermeister zu halbschlafender Zeit in deren Garten buddelt, fand er schon sehr sonderbar. Ich konnte richtig hören, wie er die Luft angehalten hat. Schau mal, ich bin selbst ganz aufgeregt, mir klappert schon das Geschirr in der Hand.«

Daniela nahm ihr die Teller ab und schob sie auf den nächsten Stuhl. »Und deswegen machen Sie Pause, Frau Dirkens. Es ist gut, dass Martin Bescheid weiß, und er wird sich nun um alles kümmern. Das ist wirklich keine Aufgabe für uns. Mein Geschirr ist nun wirklich zu schade, um deswegen zu Bruch zu gehen.«

»Ach, wo du recht hast, Kindchen.« Tatsächlich trösteten sie Danielas resolute Worte. Seit ihrem Blick aus dem Fenster hatte sie sich für etwas verantwortlich gefühlt, von dem sie gar nicht sagen konnte, was es war. Sie ließ sich zurücksinken und griff nach dem Rest Kaffee in ihrer Tasse auf dem Tisch. »Trotzdem«, seufzte sie, »wer weiß, was dabei herauskommt. Wenn gar nichts an der Sache dran ist, was dann? Dann stellt Joseph Thies mich als altes Tratschweib bloß. Aber ich kann doch nicht einfach den Mund dazu halten, wenn ich so etwas beobachte. Nicht, wo das mit Petra Mertens passiert ist.«

»Ich finde, Sie haben alles richtig gemacht«, beruhigte Daniela sie. »Jetzt warten wir ab. Vielleicht gibt es eine einfache Erklärung. Thies muss es als Bürgermeister doch richtig finden, wenn wir aufeinander aufpassen.«

Marthe nickte. Daniela hatte recht. Vielleicht war sie nicht mehr so belastbar wie früher. Machte sich zu viele Gedanken, wo es gar nichts zu denken gab.

»Wissen Sie was, Frau Dirkens, ich habe eine Idee: Sie gehen mir bei den Bädern und den Zimmern zur Hand, dann bin ich schneller fertig. Wir schauen, ob Martin in der Zwischenzeit vorbeikommt. Wenn nicht, rufe ich ihn an. Und dann machen wir beide einen Spaziergang, um auf andere Gedanken zu kommen. Was halten Sie davon?«

Plötzlich wirkte der Tag viel freundlicher als vor ein paar Minuten. Es war, als wäre Daniela eine schwere Last von ihr genommen. Aber natürlich, so würden sie es machen. Das war besser, als mit dummen Gedanken auf die Polizei zu warten. Sie war ja ganz konfus. »Ach, Kindchen, wenn ich dich nicht hätte. Jeden Tag denke ich, dich hat der Himmel geschickt. Ich habe auch eine Idee. Was hältst du davon, wenn wir uns auf unserem Spaziergang die Kunstausstellung ansehen, von der alle auf der Insel sprechen? Die würde mich wirklich interessieren: ›Wandelgang der sieben Todsünden‹.«

Daniela sah kurz so aus, als hätte Marthe chinesisch mit ihr gesprochen. Dann schüttelte sie lachend den Kopf. »Frau Dirkens, bei Ihnen soll einer mitkommen. Ich kenne Sie von Kind auf. Aber Ihre Gedankensprünge, damit überraschen Sie mich immer noch.«

»Ja, solange ich das noch kann, ist wohl noch nicht alles vorbei«, murmelte Marthe vor sich hin, während sie sich beim Aufstehen am Tisch abstützte. »Und damit sollte man zufrieden sein, nicht wahr, mein Kind? Schließlich gibt es schlimmere Schicksale als das einer alt gewordenen Frau.«

*

»Steig ein, unser Pritschenwagen ist unser ganzer Stolz. Nicht unbedingt strandtauglich, wie wir es uns gewünscht hätten, aber die Passanten bleiben gerne davor stehen und machen Fotos.« Martin öffnete Schneyder die Beifahrertür und ging vorne herum zur Fahrerseite.

»Nettes Teil, wirklich.« Gert grinste. »Die Optik ist das Wichtigste, bei Frauen und bei Autos.«

Martin verzog spöttisch den Mund. Sprüche wie diese hatte er in Polizeikreisen zu oft gehört, um sie zu kommentieren. Er brauchte das nicht, dieses Auf-dicke-Hose-Machen, und war mit seiner Art immer gut gefahren. Aber Gert Schneyder schien nicht verkehrt zu sein, da wollte er nicht wegen so einer Lappalie für schlechte Stimmung sorgen. Stand ihm auch nicht zu. Im Gegenteil, er freute sich, dass Gert anscheinend gewillt war, ihn an der Ermittlungsarbeit zu beteiligen und auf seine Kenntnisse der Insel und der Bewohner zurückzugreifen. Allein das Duzen war ein gutes Signal.

»So, dann wollen wir mal«, nuschelte er deswegen leise vor sich hin, um sich einer direkten Antwort zu entziehen.

Schneyder schien es nicht zu merken oder sich daran nicht zu stören. »Und du glaubst, die alte Dame führt uns auf eine richtige Fährte?«, wollte er wissen, während er das Fenster herunterließ. »Wow, diese Seeluft. Davon bekommen wir 30 Kilometer im Landesinneren kaum etwas mit. Bei uns herrschen Abgas- oder Kuhdüngerlüfte vor.«

Martin sah beim Abbiegen, wie sich Gert theatralisch die Nase zuhielt. »Und deswegen lässt du mich erfrieren, oder was? Aber lass mal, das kennen wir von den Unterstützern in der Saison zu Genüge. Alle vier Wochen ein paar Neue, die sich an der salzigen Luft berauschen. Nur einigen stinkt es dann zu sehr nach Fisch.«

Gert schlug sich auf den Oberschenkel. »Das kann ich mir denken. Nicht einfach, erholungsbedürftige Kollegen durchzuschleusen.«

»Ach, halb so wild. Die allermeisten sind richtig nett. Dankbar, dass sie mal vier Wochen was anderes sehen und hören. Relativ entspannte Dienste schieben können. Bei uns gibt es durch die Zimmer über der Wache so was wie Familienanschluss. Das gefällt.«

»Hört sich nicht schlecht an. Da bedaure ich fast, bei der Mordkommission zu sein. Für mich habt ihr wohl eher weniger Verwendung.«

Martin wusste nicht, ob es eine Frage, eine Feststellung oder sogar eine Anspielung auf seinen eigenen Werdegang sein sollte. Er hatte keine Lust, dass sich das Gespräch in eine solche Richtung entwickelte. Deswegen beeilte er sich, eine Antwort auf Gerts ursprüngliche Frage zu geben: »Dem Hinweis der alten Dame müssen wir unbedingt nachgehen. Frau Dirkens kenne ich persönlich. Sie verbreitet nicht leichtsinnig irgendwelche Gerüchte über andere Menschen. Zumal Daniela die Geschichte bestätigt.«

»Daniela?«

»Daniela Prinzen, vormals Rick. Eine Rheinländerin, die von Kind an in der Pension von Frau Dirkens Urlaub gemacht hat. Hat letztes Jahr geheiratet und die Pension mit ihrem Mann übernommen. Das nennt sich neumodisch Hostel, aber gerade das kommt gut an. Moderne, preiswerte Unterkünfte, auch mal nur für zwei oder drei Übernachtungen, so etwas war zuletzt rar auf der Insel.«

»Das hört sich aus deinem Mund wie eine Werbeeinheit an.«

Martin registrierte, dass Gert ihn kritisch von der Seite ansah. »Nö. Da bin ich neutral. Auch wenn wir uns näher kennen, das gebe ich zu. Aber Ferienunterkünfte sind ein Dauerbrennerthema.«

»Auch ein politisches?«

Martin reckte den Daumen in die Höhe. »Du bist verdammt schnell im Schlüsseziehen.«

»Ist mein Job.« Gert lehnte sich im Sitz zurück und streckte den Arm aus dem Fenster.

»Jedenfalls ein Volltreffer. Eins der heißen Themen auf der Insel. Wo soll die Reise hingehen? Fünf-Sterne-Hotel, ja oder nein? Bezahlbare Wohnungen oder luxussanierte Ferienwohnungen, die über Wochen nicht bewohnt sind? An diesen Fragen scheiden sich die Geister. Alt gegen Jung, Insulaner gegen Investoren, Eigentümer gegen Mieter.«

»So, dass es für einen politisch motivierten Mord reicht? Weil Frau Mertens eine Seite zu wenig berücksichtigt hat? Weil die Gefahr, dass sie gewählt wird, zu groß geworden war?« Gerts Fragen kamen salvenartig.

Martin überlegte einen Moment. Wollte sich nicht so mitreißen lassen. Auf einer falschen Spur war man viel zu schnell, und dann geriet alles andere aus dem Blick. Deswegen setzte er erst den Blinker rechts, bremste ab, parkte das Auto rückwärts hinter einem, das verbotswidrig stand, und machte den Motor aus. »Da sind wir. Hier wohnt Joseph Thies. Bin gespannt, was er uns zu sagen hat.« Er räusperte sich. »Politisch motiviert, meinst du? Das hört sich in meinen Ohren so – ich weiß gar nicht, wie ich das ausdrücken soll, so groß, so gewaltig an. Nach Bundespolitik oder vielleicht Landesebene, aber doch nicht bei einer Kommunalwahl auf der Insel. Klar, je nach Wahlergebnis und entsprechender Ausrichtung wird es Entscheidungen geben, durch die die einen Geld gewinnen und die anderen verlieren. Wenn das mal kein Motiv ist. Und: Da gibt es noch andere Themen, über die sich die Wahlkampfgegner in die Haare gekommen sind. Die ganze Palette, die die Welt bewegt: Wie viel Zuzug vertragen wir? Rückbesinnung auf das Eigene, Bewährte, Vertraute, die einen. Zusammengefasst: Norderney first. Die anderen: Erneuerung, Offenheit. Natürlich spielt das Umweltthema bei uns eine Riesenrolle. Stichwort: Weltkulturerbe Wattenmeer. Aber auch: erneuerbare Energien und der Off-Shore-Park. Du siehst: Streitthemen haben die Parteien wahrlich genug.« Martin holte Luft. »Reicht das als Eindruck?«, fasste er nach.

 

»Verstehe«, antwortete Gert. »Und dann gibt es wohl noch die, die der Demokratie den Stinkefinger zeigen und einen auf außerparlamentarische Opposition machen, was?«

Martin sah ihn verwundert an. »Wieso?«

»Na, die Wahlplakate. Es hat alle drei Widersacher getroffen, wie ich auf der Fahrt feststellen konnte. Dollarzeichen, Nazibärtchen und eine Banane. Nette Sammlung.« Seine Stimme quietschte, als er ironisch wurde.

»Ach so. Ja, die haben wir natürlich auch, die gegen alles sind. Wie mittlerweile überall. Ist wahrscheinlich einfacher, als für etwas zu sein und den Hintern dafür hochzubekommen.« Es war einer von Martins Lieblingssprüchen.

»Das heißt, du engagierst dich selbst? Bist politisch aktiv?«

»Was? Nein, natürlich nicht.«

»Hörte sich aber so an. Ein wenig Innensicht wäre nicht schlecht.«

Martin fühlte sich ertappt. »Ich würde. Aber das verträgt sich schlecht mit dem Gebot der Neutralität auf der Insel.«

»Ah!«

Das war keine Antwort, die es besser machte, aber Martin wollte sich nicht weiter verwickeln lassen. Wäre ja noch schöner, wenn er sich rechtfertigen müsste.

»Aber unter uns: Wer hat dich am meisten überzeugt, wer nicht?« Gert ließ nicht locker.

Martin wusste nicht, wohin das zielen sollte. »Wahlgeheimnis«, antwortete er und öffnete mit einem Schulterblick die Tür. »Lass uns lieber Thies befragen.«

»Stimmt, Thies.« Gert packte ihn am Ärmel und hielt ihn zurück. »Nur noch eine Frage: Dieser Thies – wen hätte er wohl als Nachfolger akzeptiert oder anders herum, was wäre für ihn der Super-GAU beim Wahlergebnis geworden? Oder war es ihm egal? So: Nach mir die Sintflut?«

Martin lachte auf. »Dem Thies etwas egal? Das wäre noch schöner. Komm, frag ihn das selbst, dann wirst du wissen, was ich meine. Und ja, vielleicht hast du recht – möglicherweise ist genau da der Hund begraben!«

*

»Das ist wirklich ein schöner Ort zum Kaffeetrinken.«

»Das heißt also, du verzichtest dafür auf altersangemessene Plüschsessel und ›Draußen nur Kännchen‹-Atmosphäre?«

»Du!« Ruth lachte und boxte Oskar in die Seite.

Dieser hob ergeben die Hände und grinste sie an: »Du weißt schon, dass du die Einzige bist, die immer auf ihrem Alter herumreitet? Schau dich um: Hier in der ›Black Coffee Pharmacy‹ ist vom Studenten bis zur Großeltern-Generation alles vertreten.«

»Ja, ja, schon gut. Überzeugt. Und nicht erst jetzt. Die Müsli-Bowls und der Cappuccino sind nicht zu toppen.«

»Sage ich doch.« Oskar sah auf die Uhr. »Leider wird es für mich Zeit. Ich verspreche dir, es wird ein kurzes Gastspiel in der Redaktion. Für heute Nachmittag habe ich tauschen können. Wenn also nicht noch etwas komplett Unvorhersehbares in unserem mittlerweile beschaulichen Bonn passiert, stehe ich später ganz zu deiner Verfügung. Sind halt keine Hauptstadtzeiten mehr.« Ein Ausdruck des Bedauerns zog blitzschnell über sein Gesicht, und er zuckte mit den Schultern. Das Lachen war aber sofort zurück. »Für uns zum Glück, würde ich sagen.«

»Lass dir Zeit. Du brauchst dir wirklich keine Gedanken um mich zu machen. Ich weiß mich in der Regel alleine zu beschäftigen.« Sie kniff die Augen zusammen. Wie ungewohnt es für sie war, über ihre Zeit Rechenschaft abzulegen, selbst wenn es Oskar gegenüber war.

»Das glaube ich dir aufs Wort.« Er beugte sich zu ihr hinunter. »Solange du mich darüber nicht vergisst. Ich wünsch dir was. Bis später.«

Ruth sah Oskar nach, wie er draußen vor dem Café etwas umständlich sein Fahrrad aufschloss und dabei mindestens vier Mal die Brille auf die Nase schob. Die Geste war ihr merkwürdig vertraut, obwohl sie noch gar nicht so lange zusammen waren. Allerdings hatte sie schon bei Danielas Hochzeit auf Norderney im letzten Jahr gespürt, dass sie beide mehr verband als ein Flirt in Wochenendstimmung. Aber sie war ewig allein gewesen, die meiste Zeit als zu glücklicher Single, um mit fliegenden Fahnen in eine enge Beziehung zu wechseln. Mal davon abgesehen, dass die traumatische Erfahrung im vorletzten Jahr – sie schluckte. Den Gedanken wollte sie nicht erneut zu Ende denken. Zumal mit Oskar alles, alles anders war.

Ruth stand auf und holte sich am Tresen einen zweiten Cappuccino. Der Gedanke daran, sich am Vormittag treiben zu lassen, gefiel ihr. Das Wetter meinte es gut mit ihr. Die Sonne schien und ließ alles freundlich aussehen, obwohl es heute Morgen nicht allzu warm war. Das würde sich ändern, sodass sie später mit Oskar am Rhein entlang nach Rolandseck ins Arp-Museum fahren wollte.

Langsam balancierte sie das Glas an der wartenden Schlange vorbei zu ihrem Platz auf dem breiten Fensterbrett. In der vorbeifahrenden Straßenbahn blickte ein Punker mit Irokesenschnitt sie an und hob eine Bierflasche, um ihr grinsend zuzuprosten. Ruth lachte auf und hob ihr Glas. Wenn der Kerl dachte, dass sie sich pikiert abwenden würde, hatte er Pech gehabt. Sie schmunzelte. Oskar hatte recht. Wozu sich Gedanken um das Alter und irgendwelche vermeintlichen Zuschreibungen machen, an die sie sich doch nie gehalten hatte. Woher das nur kam, dass sie neuerdings viel öfter an Konventionen festhielt, die sie früher bekämpft hatte.

Sie schob den Gedanken beiseite und stellte das Glas mit dem Blütenblatt aus Milchschaum ab. Sie zog einen Hocker heran, auf dessen Querstrebe sie ihre Füße stützte. Aus der Hosentasche zog sie ihr Smartphone. Nachdem sie sich lange den Vorteilen entzogen hatte, unterwegs erreichbar zu sein und mithilfe datenfressender Apps Kontakte zu pflegen, das Wetter abzufragen und ihre Wege zu planen, hatte sie mittlerweile kapituliert. Und sich wie andere zu schnell daran gewöhnt. Kleine Verführer waren diese Dinger, die einen süchtiger machten als alles, was ihr im Leben bisher begegnet war.

Mit einem Seufzer öffnete sie nacheinander die Seiten verschiedener Bonner Museen. Der Nachmittag im Rolandsecker Bahnhof war gesetzt, bis dahin konnte sie tun und lassen, was sie wollte. Ach, wie blöd: Das Frauenmuseum würde erst später öffnen, da blieb zu wenig Zeit. Das würde sie schieben müssen. Aber ihr würde schon etwas einfallen.

Ihr Messenger zeigte eine Nachricht an, die sie noch nicht gelesen hatte. Anne hatte geantwortet. Natürlich wären sie an Ostern willkommen, wie überhaupt jederzeit. Damit hatte Ruth gerechnet, auch damit, dass sie anbot, dass bei ihnen Platz genug sei. Es wäre also nicht nötig, ein Zimmer zu buchen. Sie dachte einen Augenblick nach, aber ihre Finger tippten fast selbstständig, um abzulehnen. Trotz der Freundschaft – für sie, die die Freiheit ihrer Singlewohnung über alles stellte, war es beim letzten Mal schwierig genug, bei den beiden zu übernachten. Gemeinsame Zeiten mit Oskar waren rar und ungewohnt. Nur nach und nach begannen sie, diese zu erweitern. Aus der Vorsicht heraus, die alte Erfahrungen und Verletzungen hinterlassen hatten. Wenn sie daran dachte, beides miteinander kombinieren zu müssen, würden sie bei Anne und Martin wohnen, drehte sich ihr der Magen um vor Angestrengtheit und Übelkeit.

»Habe es mir fast gedacht«, antwortete die Freundin prompt. Ruth wunderte sich. »Nicht im Dienst?«, schrieb sie zurück.

»Doch. Sitze an Arztbriefen. Ausnahmsweise mit dem Handy daneben. Falls Martin schreibt. Auf der Insel ist die Hölle los.«

»Was ist passiert?«

»Noch nichts mitbekommen bei euch auf dem europäischen Festland? Unsere Bürgermeisterkandidatin wurde tot aufgefunden. Alles deutet auf ein Tatdelikt hin.«

»Nein. Oh Gott! Wie geht’s Martin?« Ruths Gedanken rasselten. Martin, der sich nach seinem Burn-out auf die Insel zurückgezogen hatte, seine Karriere dafür aufgegeben hatte, um Ruhe und Entlastung zu finden. Martin, der seitdem mehrfach in Mordermittlungen tätig werden musste und sich mit jeder neuen Tat fragte, ob er nicht fähig war, die Insel zu schützen. Aber es gab kein Paradies auf Erden, und daran konnte auch ein Inselpolizist nichts ändern.

»Ganz gut. Bisher.« Die Nachrichten kamen satzweise zurück. »Ich weiß noch nichts Näheres. Halte dich auf dem Laufenden.«

»Okay. Ich melde mich heute Abend.« In der Smileysammlung tippte sie einen Telefonhörer an. Smileys. Ein weiterer Schritt, den eigenen Prinzipien untreu zu werden.

Sie nahm das Glas, trank den Cappuccino aus und dachte über Annes Worte nach. Was für Neuigkeiten. Sie hoffte, dass Martin gut von seinem Team unterstützt wurde. Beim letzten Mal war es – nun ja, schwierig gewesen.

Eine weitere Nachricht ploppte auf dem Handy auf. Oskar. Innerlich verdrehte sie die Augen. Ein wenig zu anhänglich, der Gute. Darüber würden sie reden müssen.

Sie überflog seine Zeilen und war auf einmal voller Tatendrang: »Hey. Gerade in der Redaktion gesehen. In der Galerie ›kreide.kohle.öl.‹ in der Altstadt hängen Bilder von Thomas Broyer. Das ist er doch? Von dem deine Bilder sind, oder? New York. Kuba. Tokio.«

»Ja klar. Das ist ein Ding. Da mache ich mich gleich auf den Weg.«

»Dachte ich mir. Viel Spaß. Bis später.«

Ruth schnappte sich ihren Lederrucksack und strich sich die Haare aus der Stirn. Programmpunkt Nummer Eins stand. Hoffentlich war die Galerie schon auf. Egal, sie würde einfach fahren und sich ansonsten in der Altstadt umschauen. Und googeln, ob es im Netz etwas zu dem Todesfall auf Norderney gab. Wie gut, dass wenigstens sie nichts damit zu tun hatte.

*

Joseph Thies füllte den ganzen Türrahmen aus und machte keine Anstalten, nur einen Millimeter zur Seite zu rücken. »Das ist doch albern, was Sie mir vorwerfen.«

Martin schaute bedeutungsvoll die Straße rauf und runter. »Sollen wir das nicht doch besser drinnen besprechen?«

»Ha, ha!«, polterte Thies. »Was soll das werden? Bangemachen gilt nicht, Herr Inselpolizist.« Das letzte Wort spie er ihm fast vor die Füße, als er seinen Blick abschätzig an ihm von oben nach unten herabgleiten ließ.

Martin konnte sich nur wundern. Bisher hatte er sich mit dem amtierenden Bürgermeister im dienstlichen Rahmen immer auf Augenhöhe geglaubt. Sie waren einander mit Respekt und Anerkennung bei unterschiedlichen Sichtweisen begegnet. Dass er nicht immer mit Thies’ Entscheidungen einverstanden war, hatte er bewusst im beruflichen Kontext außen vor gelassen.

Gert Schneyder, der hinter Martin stand, legte ihm sachte eine Hand auf die Schulter und trat vor. Er überließ ihm gerne das Feld und drehte sich seitwärts, als hätte er nichts mehr mit der Sache zu tun, hatte aber den Bürgermeister weiter im Blick.

»Herr Thies, wir können das Ganze abkürzen. Wir haben eine Meldung erhalten, der ich als Leiter der Mordkommission nachgehen muss. Ohne Wenn und Aber. Ob ich will oder nicht. Verstehen Sie?«

Thies antwortete nicht, sondern grinste abfällig, sodass sich seine winzigen Augen in dem groben Gesicht weiter verengten.

»Wir hätten das gerne erst mit Ihnen besprochen. Sie gewissermaßen vorsichtig konfrontiert. Aber nun muss ich Sie bitten, mit uns zum Grundstück Ihres Sohnes zu fahren.«

Martin sah, dass Thies mit allem gerechnet hatte, nur nicht mit dieser Aufforderung. Für Sekunden entgleisten ihm die Gesichtszüge, nur um sich sofort zu fangen. Es schien, als richtete er sich weiter auf, um den Türrahmen mächtiger auszufüllen und seine Abwehr zu verdeutlichen.

»Was reden Sie da für einen Quatsch? Was soll das? Auf dem Grundstück meines Sohnes? Was soll da sein? Was habe ich damit zu tun?«

Eine gespannte Stille entstand. Martin drehte sich zu Gert, um in seiner Mimik zu lesen, was er antworten würde. Es war klar, dass Thies ihnen nicht entgegenkäme, wenn sie ihm mit dem Verdacht von Marthe Dirkens kämen. Das würde er sofort als Altweibergeschwätz abtun. Einen Anlass, das gebuddelte Loch in Frage zu stellen, hatten sie auf einem Privatgrundstück nicht, mal davon abgesehen, dass es für vage Verbindungen zum Fall Mertens sicherlich keine richterlichen Beschlüsse geben würde. Martin wusste, dass Gert Schneyder nach einem anderen Weg suchte.

 

Tatsächlich klang dessen Stimme nun sanfter, beschwichtigender: »Ist es richtig, dass sich Ihr Sohn und Ihre Schwiegertochter im Urlaub befinden?«

Wieder huschte ein Schatten über Thies’ Gesicht. Er wird alt, dachte Martin, der den Bürgermeister als ausgewiesenes Pokerface kannte. Nervöse Reaktionen, und seien sie noch so subtil, hatte man bei Joseph Thies bisher nicht erlebt.

»Muss ich Ihnen darauf antworten? Schon einmal von Privatsphäre und Datenschutz gehört?«, blaffte er trotzdem.

»Herr Thies, wir sind keine Spendensammler oder Handelsvertreter, die Ihnen etwas andrehen wollen. Glauben Sie mir, wenn wir zu Ihnen kommen, hat das Gründe. Was Sie als gewähltes kommunales Parteiorgan wissen müssten.«

Martin zuckte zusammen. Da war es wieder. Aus dem netten, jovialen Kripobeamten wurde innerhalb von Sekunden ein Dramatiker par excellence. Ein gewisses Bühnentalent konnte man dem Hauptkommissar wirklich nicht absprechen. Wichtiger aber war: Es erzielte Wirkung. Thies sackte im Schulterbereich leicht zusammen, sein Körper verlor die hohe Anspannung, der Bauch trat mehr hervor, er wirkte weicher und nachgiebiger.

»Selbstverständlich«, murmelte er vor sich hin, während sich seine kleinen Knopfaugen hin- und herbewegten.

»Also dann. Wir haben Grund zur Annahme, dass auf dem Grundstück Ihres Sohnes und Ihrer Schwiegertochter ein Einbruch oder ein Einbruchversuch stattgefunden hat.«

»Bingo«, flüsterte Martin, was ihm einen bösen Blick sowohl von Thies als auch von Schneyder einbrachte.

»Deswegen unsere Nachfrage.« Die Stimme von Gert war wieder höflich und einschmeichelnd. »Die Nachricht, dass Ihr Sohn verreist ist, haben wir von der meldenden Person, die seltsame Geräusche vernommen hat. Sie hat sich absolut richtig verhalten, uns zu informieren.«

Man konnte Thies trotz seiner kaum vorhandenen Mimik beim Denken zusehen. Dass er nicht allein mit Erschrecken und sofortiger Kooperation reagierte, machte ihn in Martins Augen verdächtig. Zwar konnte er sich nicht vorstellen, was hinter der Sache stecken mochte. Ein Zusammenhang zu dem Todesfall – das war ihm zu weit hergeholt. Trotzdem. Irgendetwas war daran faul. Da hatte Marthe Dirkens ein gutes Gespür bewiesen.

»Und wieso stehen Sie bei mir vor der Tür? Wäre es nicht folgerichtig, dass Sie an Ort und Stelle für Sicherheit und Ordnung sorgen? Was?«

Seine Stimme begann sich zu überschlagen. Eine Frau, die ihren Hund ausführte, blieb stehen und schaute erschrocken zu ihnen.

Martin nutzte die Gelegenheit und deutete dezent in die Richtung. »Wir sorgen schon für Aufsehen.«

»Oja! Das tun Sie.« Thies ließ sich nicht beeindrucken. Er drehte die Dinge zu seinen Gunsten um. »Mich nicht nur als Bürgermeister, sondern auch als unbescholtenen Bürger zu kompromittieren, indem Sie mit dem Polizeiwagen vor meinem Haus stehen und mir nicht klipp und klar sagen können, was Ihr Anliegen ist, das ist unverschämt. Das wird insbesondere für Sie ein Nachspiel haben, Herr Ziegler.« Theatralisch schüttelte er den erhobenen Zeigefinger gegen Martin, während sein Blick die Passantin suchte. Klar, er wollte das Aufsehen, aber in seinem Sinne.

Dann verengten sich erneut seine dunklen Augen. Sein Ausdruck bekam plötzlich etwas Gerissenes. Martin glaubte schon, er würde ihnen ein Angebot unterbreiten, einen Deal, auf den sie eingehen sollten, damit Thies sein Gesicht wahrte. Tatsächlich senkte er die Stimme zu einem Flüstern. »Etwas ganz anderes, meine Herren. Wenn es um einen Einbruch geht, was hat dann dieser Herr hier zu suchen?« Er deutete auf Schneyder.

Diesmal entglitt diesem die Mimik, zu Martins Erleichterung aber nur für eine Sekunde. Dann zog er die Schultern zurück und beugte sich mit ausgestrecktem Finger zu Thies. »Gute Frage. Sehr gute Frage. Das werde ich Ihnen gerne erklären.«

*

»Daniela, jetzt!«

Daniela erschrak, als die Stimme zischend in ihrem Rücken auftauchte. Sie war so in ihre Gedanken an die nächsten Buchungen vertieft gewesen, dass sie gar nicht gemerkt hatte, wie der Wasserhahn glänzte, den sie kraftvoll polierte. Dass Frau Dirkens in einem der Gästezimmer nach dem Rechten gesehen hatte, war ihr für einen kurzen Moment vollkommen entfallen.

»Oh Gott, was ist los?« Sie richtete sich auf und legte die Hand an den Rücken. Sie merkte jeden Tag, wie ungewohnt die neuen Tätigkeiten waren. Schon im Friseursalon hatten Füße, Beine und Arme abends gemeckert, jetzt kamen andere Körperteile dazu, da half auch der Spaziergang am Strand, den sie regelmäßig machte, nicht weiter. Sie seufzte. Vielleicht musste sie doch mehr Sport machen als bisher. Selbst wenn ihr davor graute.

»Was los ist? Sie kommen!«

»Wer kommt?« Während sie die Frage stellte, fiel ihr ein, wovon Frau Dirkens sprach. Sie schlug sich mit der Hand vor die Stirn. »Ach, klar. Martin. Woher …?«

»Woher, woher? Woher wohl? Aus dem Fenster habe ich geschaut, was denn sonst. Er kommt mit Thies.«

Daniela wusste, dass Frau Dirkens nur selten so aufgeregt war. Aber heute hüpfte sie wie ein kleiner Spatz vor ihr herum und winkte mit den Händen.

»Jetzt komm schon! In den Garten.«

»Ernsthaft? Sie wollen lauschen?«

»Blödsinn. Nur nach den Beeten schauen. Schließlich ist es Frühjahr.«

Daniela lachte laut los. »Frau Dirkens. Frühling ist es gerade mal ein paar Tage. Nach dem Kalender. Dass wir im Norden später dran sind, muss ich gar nicht sagen. Im Rheinland dagegen …«

»Vom Rheinland kannst du heute Abend schwärmen. Jetzt komm mit. Wir könnten eine nette Sitzecke für deine Gäste planen, dort hinten am Zaun.«

»So, so, könnten wir.« Daniela stemmte die Arme in die Hüfte und pustete sich eine längere Haarsträhne aus dem Gesicht. »Na, dann wollen wir das tun.«

»Wir sollten einen Block und einen Stift mitnehmen, das wirkt echter.«

Daniela, die schon auf der Treppe war, drehte sich zu der alten Dame herum. »Frau Dirkens, Sie sind nicht zufällig über die Krimis von Agatha Christie gestolpert? Das hier ist keine Abenteuergeschichte.«

»Nicht?« Die Augen blitzten hinter dem violetten Brillengestell. »Aber wer weiß? Wenn wir doch helfen können. Weißt du noch, wie Martin und Ruth dich genannt haben? Die Miss Marple von Norderney.«

»Ach, Frau Dirkens, die Geschichte damals war schlimm genug. Und da haben wir alle dazu beigetragen, dass sie aufgelöst werden konnte.«

»Wer weiß, vielleicht ist es auch diesmal nötig. Viele Augen und Ohren sehen mehr.«

Daniela kam kaum hinterher, so schnell war Frau Dirkens durch das Frühstückszimmer, in dem zwei Gäste saßen, zur Terrassentür hinaus. Daniela entschuldigte sich bei ihnen, schloss die Tür zum Garten von innen, fragte, ob noch jemand etwas brauchte, und ging anschließend zur Haustür hinaus, um von dort aus nach draußen zu gelangen.

Frau Dirkens hatte sich vor den Büschen platziert und schritt nachdenklich auf und ab. Dabei machte sie in Danielas Richtung beschwichtigende Gesten und legte den Finger auf den Mund.

»Das wird ein Nachspiel haben, so etwas von einem Nachspiel, das sage ich Ihnen. Vergessen Sie Ihre nächste Beförderung, vergessen Sie alles, was Sie sich jemals erträumt haben. Mich unter Vortäuschung falscher Tatsachen hierhin zu locken. Was fällt Ihnen eigentlich ein, Sie Jungspund?« Die bellende Stimme drang klar und deutlich über den Zaun und war wahrscheinlich zwei Gärten weiter zu hören.

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