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Freitag, 22.03.

Trägheit

»Hast du schon gesehen, was Ruth geschrieben hat?« Anne drückte den Knopf des elektrischen Milchaufschäumers.

Martin schüttelte den Kopf. Wie war das möglich, dass sie ihn mit einer Frage überfiel, obwohl er noch in seinen Schlafshorts steckte? So sehr er diese Frau liebte, ihr Auf-den-Punkt-Wachsein mochte im Krankenhaus absolut nötig sein, für eine Beziehung, wie er sie sich vorstellte, war es der allergrößte Stolperstein.

»He, kriege ich eine Antwort?«, fragte sie, als sie sich mit einer Tasse warmer Milch an den Tisch setzte und einen Löffel Kakao hineinrieseln ließ.

»Hab geantwortet«, presste er hervor.

»Du meinst, du hast deinen Kopf bewegt, oder? Mein heiß geliebter Morgenmuffel. Das sehe ich nicht, wenn ich dir den Rücken zukehre.«

»Anne!«

»Ja, ich weiß, ich höre schon auf.«

»Manchmal denke ich, du machst das extra. Einfach, um mich hochzunehmen.« Martin presste das frisch gemahlene Kaffeepulver mit dem Tamper zusammen und drückte den Siebträger an. Er stöhnte. »Du überforderst mich. Bitte. Nicht heute.«

»Schon gut. Vielleicht will ich dich manchmal wirklich ärgern. Weil ich denke, man muss doch kein Morgenmuffel sein. Aber ist schon klar: die Eulen und die Lerchen.«

»Und das Alter. Mit 48 brauche ich eben länger als du mit deinen 36 Jahren.«

»So ein Quatsch.« Sie klang empört. »Hör doch auf, darauf herumzureiten. Unsere zwölf Jahre Altersunterschied stören niemanden. Mich sowieso nicht. Wenn du nicht immer ein Thema daraus machen würdest.« Sie stand auf und umarmte ihn, während er seinen Espresso trank. »Komm, Frieden, ja?«

Er beugte sich zu ihr hinunter und gab ihr einen Kuss. »Frieden, ja.« Er versuchte ein Lächeln. »Jetzt habe ich meine Kaffeedosis, damit geht’s gleich besser.«

»Im Krankenhaus würde ich dir als Ärztin ein paar Takte dazu sagen.« Sie stand auf und tippte ihm mit dem Zeigefinger auf den Brustkorb.

Er legte beide Arme um sie und drückte sie an sich. »Was für ein Glück, dass du nicht meine Ärztin bist, sondern die Frau meines Lebens.«

»Noch nicht.« Sie lächelte ihn an, wobei sie den Kopf dazu drehen musste. Wie er diesen Blick liebte.

»Offiziell nicht. Soll ich lieber sagen, meine Verlobte?«

Sie trommelte gegen seine Brust und versuchte sich zu befreien. »Bloß nicht. Dann könnte ich das nämlich mit dem Altersunterschied doch merken. Außerdem wollen wir es keinem verraten, bis das Datum feststeht. Also: nicht verplappern.« Sie legte einen Finger auf ihre Lippen.

»Versprochen. Obwohl mir das schwerfällt. Schließlich weiß ich es fast drei Monate, dass du den Rest deines Lebens mit mir verbringen willst.«

»Wenn ich mir das nicht noch mal überlege, ob das so passt mit uns. Morgens zumindest – apropos, bist du jetzt in der Lage, auf meine Frage zu antworten?«

»Die da gewesen wäre?« Er versuchte, wenigstens schuldbewusst auszusehen.

»Ob du Ruths Nachricht gelesen hast?«

»Ähm, Ruth hat geschrieben?« Einen Moment fragte er sich verwirrt, was Anne meinen konnte. Dann ging ihm ein Licht auf. »Nein. Ernsthaft? Das glaube ich nicht. Zeig mal.«

»He, du willst wohl nur in meinen Kontakten herumschnüffeln. Du hast die Nachricht doch auch.«

Martin zog sein Handy vom Kabel, mit dem es an der Steckdose hing. »Tatsächlich und wahrhaftig. Ruth Keiser verschickt WhatsApp-Nachrichten. Und dann auch noch in unsere Gruppe.« Sie grinsten sich an.

»Ja, würde mal sagen, das ist Oskars Verdienst. Es war schon erstaunlich, dass sie sich überhaupt darauf eingelassen hat. Und die Gruppe nicht verlassen hat. Wenn ich böse wäre, würde ich sagen, sie weiß noch gar nicht, dass das geht.«

»Wie gut, dass du nie böse bist.« Martin küsste sie. Dann seufzte er. »Ganz im Gegensatz zu einigen Menschen draußen. Glaube mir, ich habe selten so wenig Lust verspürt wie heute, da rauszumüssen.«

»Ja, mir wär auch nach etwas anderem. Rückzug, einkuscheln, in gute Welten abtauchen. ›Away from it all.‹ Habe ich mal auf einem holländischen Haus gelesen. So was halt.«

»Dafür haben wir uns beide den falschen Job ausgesucht.«

»Stimmt. Und nur abgeschieden von der Welt, das ginge für mich nicht.«

»Du hättest doch mich. Wie wäre das, so als Heimchen am Herd?«

»Schrecklich, allein der Gedanke. Nein, da bin ich eher wie Ruth. Oder wie Petra Mertens. Wobei ihr das genau zum Verhängnis geworden ist.«

Martin warf einen Blick auf die Uhr. »Ich muss mich sputen. Ich springe schnell unter die Dusche. Bis heute Mittag liegt das Obduktionsergebnis vor. Dann wissen wir mehr. Wenn die Kollegen der Kripo mich denn an den Ermittlungen teilhaben lassen.«

»Sie wären auf jeden Fall blöd, wenn sie es nicht täten. Ich bin gespannt, ob ihr weiterkommt. Kein gutes Gefühl, dass ein Mörder auf der Insel ist.«

»Wenn er noch da ist. Ich würde mich davonmachen.« Martin gab ihr noch einen Kuss. »Du bist bestimmt gleich durch die Tür. Bis heute Abend, Liebste.«

»Und was ist mit Ruth? Soll ich ihr antworten? Wie findest du das?«

»Was denn? Dass sie whatsappt? Oder dass sie bei Oskar in Bonn ist oder dass sie Ostern nach Norderney kommen? Mich überrascht alles drei, aber genauso freut es mich auch. Das kannst du ihr gerne schreiben.«

*

Die blaue Windjacke war das Einzige, was andere möglicherweise darauf brachte, dass er der oberste Inselpolizist war. Martin hatte selbst darüber bestimmen können, ob er als Dienststellenleiter Zivil oder Uniform trug. Er hatte sich für Ersteres entschieden. Vielleicht, weil es das letzte Überbleibsel seiner vorherigen Kriminallaufbahn war, die er seiner seelischen Gesundheit zuliebe verlassen hatte, um die Schutzpolizei-Dienststelle auf Norderney zu leiten. Oder aber, um sich von den Mitarbeitern zu unterscheiden. Obwohl er sonst einen eher demokratischen Führungsstil pflegte. Trotzdem waren Zeichen manchmal wichtig.

Heute spürte er, wenn er ehrlich zu sich selbst war, die Anspannung, die durch den Tod von Petra Mertens entstanden war, mehr als gestern. Sein Status und sein Selbstwert waren wieder einmal erschüttert, so würde Ruth Keiser es ihm bescheinigen. Ruth, die ihn schon so lange kannte und der er noch nie etwas hatte vormachen können. Wie auch? War sie doch Kriminalistin und Psychologin zugleich.

In den Straßen war es angenehm ruhig. Noch hatte die Saison nicht begonnen, auch wenn sich das auf der Insel ständig verschob. Wirkliche Ruhezeiten gab es höchstens in den Wintermonaten, sah man von dem Ansturm an Silvester ab. Jetzt, Ende März, kam das Touristenleben mit Riesenschritten zurück auf die Insel. Spätestens an Ostern wäre kaum noch ein Bett zu bekommen.

Martin genoss die kühle Luft, die vom Meer durch die Straßen zog. Er grüßte die einzelnen Passanten, die wie er auf dem Weg zu ihrem Tagwerk waren. In einer Stunde würden die Handwerker vom Festland ihre Arbeiten aufgenommen haben. Vom Herbst bis zum Frühjahr musste saniert und repariert werden, was möglich war. Danach hatte das Erholungsbedürfnis der Gäste Vorrang vor Baulärm. So waren die Gesetze einer Ferieninsel.

Ob Petra Mertens an solchen Regelungen etwas geändert hätte? Martin versuchte, sich ihre Wahlkampfforderungen ins Gedächtnis zu rufen. Was den Tourismus anging, hatte sich keiner der drei Kandidaten allzu sehr aus dem Fenster gelehnt. Dafür war das Thema zu wichtig für die Insel. Wobei: KWK hatte erwartungsgemäß den Insulanern mehr Zugeständnisse gemacht, Häusler wollte weiter durchstarten mit der Modernisierung des Urlaubsangebotes und Petra Mertens – ja, Petra Mertens war zwar mit einem ökologischen Schwerpunkt angetreten und hatte damit, einer Punktlandung gleich, den populären Nerv schlechthin getroffen, aber darüber hinaus? Tatsächlich hatte sie es verstanden, allen das Gefühl zu geben, in ihrem Interesse zu handeln. Das wurde ihm erst jetzt bewusst. Seltsam. Ganz deutlich trat ihm das vor die Augen, wie gummibandartig sie ihre Themen hatte ausdehnen können, ohne auf Widerstand und Gegenrede zu stoßen. Außer den platten Versuchen, sie als Frau und Alleinerziehende für den Politikbetrieb zu diskreditieren.

»Moin, Martin.« Wie mit einem Turbo geladen, schoss ein Fahrrad aus der Mühlenstraße und bremste quietschend neben ihm herunter.

»Moin, Olaf. Du hast ja wieder ein Tempo drauf. Hast du deine morgendliche Runde in den Inselosten schon gemacht?«

»Klar, Chef, wie immer.«

»Dann kann der Tag ja losgehen. Bin gespannt, ob die Kollegen aus Aurich auf der Wache sind.«

»Deswegen bist du so früh.« Olaf sah ihn grinsend von der Seite an, während sie auf ihren Rädern nebeneinander durch die Benekestraße rollten. »Ich habe mich schon gewundert.«

»Willst du andeuten, dass ich sonst zu spät zum Dienst komme?« Martin setzte einen bewusst strengen Blick auf, aber Olaf lachte nur. Nach heftigen Differenzen im letzten Jahr hatten sie sich an einem Abend im Herbst gründlich ausgesprochen. Das glaubten sie jedenfalls. Erinnern konnten sie sich beide nicht mehr an den Verlauf. Seitdem aber war die Luft geklärt, und ihr Umgang miteinander hielt einiges an gegenseitigen Frotzeleien aus.

»Ich war gestern Abend weg. So ein, zwei Bier trinken. Wollte mal hören, was sie auf der Insel so erzählen. Zu der Toten und so.«

Sie stellten ihre Räder auf dem Hof der Polizeiwache ab.

Martin, der sein Fahrrad abgeschlossen hatte, richtete sich auf. »Und, was erzählt man sich?«, fragte er.

»Ach, viel Gerede, wenn du mich fragst. Jeder meint, was sagen zu müssen. Aber keiner weiß etwas.«

»Hm, schade. Das wäre hilfreich, wenn wir etwas zur Aufklärung beitragen könnten.«

 

»Das glaube ich, Martin. Ist gut, dass uns die Lichterfeld vom letzten Mal erspart geblieben ist. Sonst müssten wir uns wieder anhören, wie das bloß auf der Insel passieren kann.«

Martin sah Olaf nachdenklich an. Ob das eine Spitze gegen ihn sein sollte?

»Aber diesmal lassen wir das nicht zu, Chef. Nicht wahr? Wir sind alle auf deiner Seite.« Jovial schlug ihm Olaf auf den Arm. »So, nun mache ich uns erst einmal einen guten Tee. Ich habe einen entdeckt: Neptun-Honig-Milch-Tee. Wird euch schmecken.« Mit diesen Worten verschwand er im Eingang der Dienststelle und ließ ihn allein auf der Straße stehen. Martin kam sich sehr einsam vor. Nirgends gehörte er richtig dazu. Nicht zur Kripo. Nicht zur Schupo. Nicht zu den Insulanern, nicht zu den Gästen vom Festland. Wenn er nur einen Wunsch hatte, dann den, allen zu zeigen, dass er mit seiner Truppe den Mord aufklären konnte. Dass sie sich das nicht bieten ließen, dass jemand an diesem Ort gewaltsam zu Tode kamen. Dass er es nicht zuließ, dass Menschen nicht sicher waren, weil sie als Frau oder Alleinerziehende, als Umweltschützerin oder Politikerin anderen nicht ins Weltbild passten. Seufzend dachte er an Olafs Worte. Wenn es doch bloß so einfach wäre, dass man mit Tee die Probleme dieser Welt lösen konnte.

*

Marthe Dirkens’ Schlafgewohnheiten hatten sich noch mehr verschoben, seit sie in das Obergeschoss ihres alten Hauses umgezogen war. Die Nickerchen über den Tag verteilt waren häufiger geworden, dafür war sie nachts oft stundenlang putzmunter. Wie gut, dass sich ihre Leidenschaft für Kreuzworträtsel, Kriminalliteratur und Handarbeiten geräuscharm ausüben ließ, sodass sie die Gäste in der darunterliegenden Etage nicht störte, wenn sie nachts aus dem Bett in ihren bequemen Lehnstuhl umzog.

»Senile Bettflucht im Alter«, hatte eine Handarbeitsfreundin es betitelt. Es schien etwas daran zu sein, denn fast alle aus ihrem Kreis kannten das Phänomen.

»Das ist die heimliche Hoffnung, dass der Tod einen tagsüber schlechter erwischt als nachts wehrlos im Bett«, hatte die Älteste von ihnen eingeworfen. »Bei mir jedenfalls hat das bisher gewirkt.« Sie alle hatten gelacht. Mit agilen 98 Jahren gab es tatsächlich keine Einwände zu dieser Logik.

Oft schlief Marthe im Morgengrauen ein, wenn der erste Lichtschein sich durch die Ritzen der Fensterläden bemerkbar machte. Fensterläden, wie sie auf Norderney komplett aus der Mode gekommen waren und nur an einzelnen Häusern zu finden waren. Sie hatte immer darauf bestanden, dass sie blieben, und die Gäste hatten ihr recht gegeben – trotz des Klapperns, das in windigen Zeiten nicht ausblieb.

Heute Morgen aber hatte ein untypisches Geräusch sie geweckt. Gestern Abend war unten bei Daniela lange über den Tod von Petra Mertens gesprochen worden. Wahrscheinlich hatte sich der Schock darüber, dass erneut ein Unglück auf der Insel geschehen war, sie schreckhafter als sonst werden lassen. Zuerst dachte sie, das Geräusch käme aus einem der Gästezimmer. Dann aber klang es, als wäre es draußen. Ein metallisches Klopfen. Nicht regelmäßig. Manchmal mit einem Schrappen. Sie hatte sich gewundert, dann aber auf die andere Seite gedreht. Es war doch erstaunlich. Tagsüber dachte sie oft, sie höre mittlerweile schlecht. Nachts aber drang alles an ihr Ohr.

Es war umsonst. Angespannt wartete ihr Unterbewusstsein auf jede Wiederholung. Einschlafen ging einfach nicht. Im Haus war alles ruhig. Immerhin: Den Gästen schien der Lärm nichts auszumachen.

Sie setzte sich seufzend auf die Bettkante, zog die Brille an und hielt den Wecker vor ihr Gesicht. Viertel vor acht. Später, als sie geglaubt hatte. Da musste sie in den Tiefschlaf gefallen sein. Nun denn, um diese Uhrzeit brauchte es draußen nicht mehr mucksmäuschenstill sein. Schließlich war Werktag. Dennoch: Sie konnte das Geräusch nicht zuordnen, und es machte sie nervös.

Daniela und Frank waren bestimmt schon auf, Frank sogar auf dem Weg zur Arbeit. Vielleicht sollte sie es ihnen gleichtun. Es hatte keinen Sinn, hier liegen zu bleiben und auf etwas zu warten, von dem sie nicht wusste, was es war. Ach, bis vor ein, zwei Jahren wäre sie längst am Fenster gewesen und hätte sich selbst ein Bild darüber verschafft, was draußen los war. Das Alter, sie konnte es nicht verleugnen, machte ihr immer mehr zu schaffen.

Mühevoll stand sie auf. Morgens brauchte es etwas länger, um in die Gänge zu kommen. Waren die Knochen und Gelenke warm, ging es glücklicherweise ganz gut. Sie sollte am besten in Zukunft die Seniorengymnastik besuchen, wie ihr der Hausarzt angeraten hatte.

Sie zog die Wolljacke an, die sie auf die schmale Bank am Fußende des Bettes gelegt hatte, und strich sich über ihre kurzen Haare. Dann tapste sie barfuß ans Fenster, öffnete es und stieß die Fensterläden zur Seite.

Ihr Haus war eines der wenigen frei stehenden, wesentlich großzügiger als so manches in die Reihe gebaute Gebäude, wie es auf der Insel aus Platzmangel üblich war. Sie war für die Weite nach allen vier Seiten sowie den Garten rund ums Haus immer dankbar gewesen. So hatten sie für den Pensionsbetrieb damals im Erdgeschoss anbauen können. Wie weitreichend diese Entscheidung doch war: Nur dadurch hatte alles unter ein Dach gepasst und sie konnte nach Übergabe der Pension an Daniela und Frank wohnen bleiben.

Nun schaute sie aus dem östlichen Giebelfenster hinaus in einen leicht bedeckten, milchigen Himmel. Da hörte sie das metallische Geräusch erneut und nahm wahr, dass ihm ein dumpfes Schlagen folgte. Sie sah hinunter in den eigenen Garten. Bestimmt sprang eine Katze bei der Mäusejagd gegen das Gartenzubehör, das dort auf der wetterabgewandten Seite des Hauses aufbewahrt wurde. Der Schuppen war mittlerweile zu voll, um alles aufnehmen zu können. Sie seufzte. Darum würde sich Frank in diesem Frühjahr kümmern müssen.

Doch im Garten war nichts zu sehen. Nicht einmal die Kaninchen, die sonst jedes Stück Wiese auf der Insel bevölkerten. Und kein Damwild, denn das kam durchaus bis in die Innenstadt und die Gärten, um zu äsen.

Wieder das Klirren, als träfe Metall auf Metall. Sie wandte sich nach links. Nebenan war eine Bewegung zu erkennen, verborgen durch die Büsche, die als Sichtschutz gepflanzt worden waren. Aber sie war sich sicher, flüchtig durch eine Lücke einen Hut und eine grüne Jacke erkannt zu haben. Seltsam. Das sah aus, als würde sich Joseph Thies im Garten seines Sohnes und seiner Schwiegertochter zu schaffen machen. Was waren das für neue Gewohnheiten? Bisher hatte sie immer gehört, dass er nicht so gut mit der Frau seines Ältesten konnte. Ob er sich langsam auf seinen Ruhestand vorbereitete und mit Gartenarbeiten gut Wetter machen wollte?

Trotzdem. Gerade als Bürgermeister musste er doch wissen, dass rund um den Garten Gästevermietungen stattfanden. Nicht nur in Danielas Hostel, sondern auch in anderen Häusern waren Ferienwohnungen. Das war doch eine Arbeit, die sich auf später verschieben ließ.

Marthe lehnte sich weiter vor. Aber wirklichen Sichtkontakt hatte sie nicht. Nun gut. Sie konnte nicht mehr schlafen, und Joseph musste gesagt werden, dass so etwas einfach nicht ging. Warum also nicht gleich Tatsachen schaffen? Unten könnte sie dann anschließend Daniela zur Hand gehen und beim Frühstück für die Gäste behilflich sein.

Während sie sich anzog, lauschte sie weiter nach draußen. Erneut hörte sie ein lang gezogenes Scheppern, dann schien Ruhe, oder ihre eigenen Tätigkeiten überdeckten die Geräusche. Mittlerweile war sie genauso wach, wie sie erbost war, und sie beeilte sich, in den Garten zu kommen.

Im Flur prallte sie fast mit Daniela zusammen, die sie erstaunt ansah.

»Nichts, nichts, mein Kindchen«, kam sie der wahrscheinlichen Frage zuvor. »Ich bin gleich zurück. Dann trinken wir einen Kaffee und ich gehe dir zur Hand. Aber erst habe ich etwas zu erledigen.«

Im Garten schnappte sie sich eine Harke, um die Büsche beiseite biegen zu können. Nichts war schließlich lächerlicher als ein Streitgespräch am Gartenzaun, bei dem man sich nicht in die Augen sah.

»Joseph! Joseph Thies«, rief sie und legte ihre ganze Empörung in die Stimme. »Was fällt dir eigentlich ein?«

Mit einem Ruck zog sie die immergrünen Sträucher beiseite. »Du als Bürgermeister, und das bist du ja noch, solltest es doch besser wissen.«

Was sie sah – war Leere. Kein Hut. Kein Mann. Kein Bürgermeister. Gar nichts.

Enttäuscht ließ sie die Harke sinken. Dann aber bog sie erneut die Zweige beiseite und kämpfte sich weiter zum Zaun nach vorne. Irgendwo musste er doch sein, sie hatte das Klirren ja bis vor ein paar Minuten gehört.

»Joseph?«, rief sie, so laut es ihr angemessen schien, auf das nachbarliche Grundstück.

Aber es kam keine Antwort. Wie überhaupt Haus und Garten in Ruhe und Frieden zu liegen schienen. Mit zugezogenen Jalousien an allen Fenstern. Ob sie sich so geirrt hatte? Etwas gesehen hatte, was gar nicht gewesen war?

Sie schüttelte den Kopf. Alt war sie, aber nicht senil oder verwirrt. Noch konnte sie ihren Sinnen trauen.

Sie zog mit der Harke einen weiteren Zweig weg. Die Äste kratzten über den Stoff der Hose und der Wolljacke. Sie hätte doch besser nach der Überjacke gegriffen, aber das war ihr egal. Wegen ein paar Kratzern an den Händen oder einiger gezogener Fäden ließ sie sich nicht abhalten. Dafür war sie zu neugierig.

»Joseph?«, rief sie erneut, schon nicht mehr in dem Glauben, eine Antwort zu erhalten. Schnell ließ sie ihren Blick rechts und links des Zauns wandern.

Und siehe da! Dort, wo sie das Geräusch verortet hätte, war frisch gegraben worden. Ein Rechteck unter einem Strauch von ungefähr einem Meter Länge, einem halben Meter Breite war eindeutig zu erkennen, schien aber nicht nur platt geklopft und getreten, sondern mit ein paar herumliegenden Ästen und Blättern aus dem letzten Herbst kaschiert worden zu sein. Oder bildete sie sich das nur ein?

Marthe überlegte. Ob Thies ein Haustier begraben hatte? Verbotenerweise? Eigentlich war der Tierfriedhof draußen auf der Düne dafür der richtige Ort. Das wusste er als Bürgermeister sicher besser als jeder andere. Seltsam. Sehr seltsam.

Langsam holte Marthe die Harke ein und trat mit vorsichtigen Schritten den stacheligen Rückzug an. Sie stellte das Gartengerät zurück und rieb sich, mit einem letzten Blick auf das Nachbargrundstück, die Hände. Wirklich merkwürdig. Mal sehen, was Daniela dazu sagen würde.

*

»Moin, Schneyder, gut übergesetzt mit der Fähre?« Martin hatte sich im Gang zu seinem Büro aufgerichtet. Eine machtvolle Pose eingenommen, bevor er dem Ermittler aus Aurich unter die Nase treten musste. Manchmal hing es an Kleinigkeiten, wie man wahrgenommen wurde.

Aber der Stuhl hinter seinem Schreibtisch war unberührt, als er schwungvoll in sein eigenes Zimmer abbog. Immerhin zollte er Schneyder Respekt. Anscheinend war er nicht so übergriffig wie erwartet.

»Martin, hier sind wir, in der Teeküche.«

Er folgte dem Stimmengemurmel, aus dem sich Olafs Ruf herausgeschält hatte. In dem kleinen Raum mit dem altertümlichen Mobiliar hatte sich der gesamte Frühdienst um Gert Schneyder gescharrt. Alle schienen in ein lebhaftes Gespräch verwickelt.

»Prima, Leute, so brauchen wir das.« Schneyder hob den Daumen. »Also, weiter Augen und Ohren auf. Wenn euch etwas komisch vorkommt: Meldung an mich.« Er zeigte auf seine Brust und machte eine kurze Pause. »Oder gerne an euren Chef, okay?« Mit einer Handbewegung in Martins Richtung lenkte er die Aufmerksamkeit auf ihn. »Mir ist sehr an einer engen Zusammenarbeit gelegen. Also, danke für eure Unterstützung und für den Kaffee.«

Martins Blick ging zur Kaffeemaschine mit der üblichen schwarz-braunen Brühe. Wenn Schneyder dieses Gesöff lobte, konnte es mit seiner Motivationsrede für die Kollegen nicht weit her sein. Aber alle machten zufriedene Gesichter, und Martin schob die Gedanken beiseite. Ihm konnte es egal sein, wenn sie sich Honig um den Mund schmieren ließen.

Einer nach dem anderen verließ den Raum, alle mit einer kurzen Information, wer welche Streife führe und wer sich an den üblichen Papierkram machte.

»Moin, gut geschlafen?« Gert Schneyder rieb sich die Hände, als wollte er damit seinen Tatendrang unterstreichen.

»Nun ja, entspannt sicher nicht.«

»Das geht uns allen so, keine Frage. Ich habe mir übrigens vorsichtshalber einen Rucksack mitgebracht.«

»Einen Rucksack?« Martin schaute auf einen dieser schwedischen Designerrucksäcke mit Lederriemen auf der Vorderseite, der das Ausmaß eines Treckingrucksackes hatte.

»Nur für den Fall der Fälle. Ich will nicht mitten aus den Ermittlungen raus, nur, weil die letzte Fähre drängt. Beim Winterfahrplan ist nicht viel Luft nach hinten. Und da Sie ja über Gästezimmer verfügen, war ich so frei, für den Notfall vorzusorgen.«

 

»Aha.« Martin rieb seine Bartstoppeln. »Na ja, die Verstärker sind noch nicht da. Das passt. Von mir aus können Sie bleiben. Komfortabel ist das bei uns nicht unbedingt.«

Schneyder winkte ab. »Habe alles dabei, was ich brauche. So, und nun an die Arbeit.« Er ging zur Kaffeemaschine, füllte die Tasse erneut auf, stellte sie auf dem Tisch mit der Resopalplatte ab und zog den Stuhl hervor. Anschließend holte er aus seinem Rucksack einen Laptop, klappte ihn auf, und während er hochfuhr, checkte er sein Handy, das bisher in der Hosentasche gesteckt hatte. »Leider werden wir kaum etwas machen können, solange nicht die Ergebnisse der Obduktion und der KTU vorliegen.«

Martin öffnete den Mund. Und schloss ihn wieder. Es konnte doch nicht sein, dass Schneyder sich ernsthaft in der Teeküche niederlassen wollte. Andererseits freute es ihn, dass er ihm nicht seinen Arbeitsplatz streitig machte. Da hatte er schon anderes erlebt. Martin rieb an seiner Nasenspitze, unschlüssig, was er tun und sagen sollte.

»Also, natürlich können Sie, ich meine, mein Büro steht Ihnen selbstverständlich, also wenn Sie wollen, das geht ja hier schlecht …«, stotterte er vor sich hin.

Gert Schneyder blickte auf und sah ihn verwundert an. Er schien in Gedanken vertieft zu sein.

»Was ist los?«, wollte er wissen.

»Na ja, das ist wohl kaum ein ausreichender und zumutbarer Arbeitsplatz.« Martin deutete auf den Tisch.

»Oh. Das also. Blödsinn. Alles in Ordnung. Ich bin unbedingt ein Freund des mobilen Arbeitens. Darin liegt die Zukunft. Nicht in der eigenen Kaffeetasse auf dem Büroschreibtisch.«

Martin lächelte und merkte, wie gequält es wirken musste. Seine Tasse und sein Mousepad, beides Geschenke von Anne, würde er gleich verschwinden lassen.

»By the way, ich bin auch ein unbedingter Freund flacher Hierarchien. Und die beginnen bei mir schon mit der Anrede. Gert und Du, das wäre mir recht. Einverstanden?«

Martin war einen klitzekleinen Moment verführt, ihm ein lässiges ›nice‹ zu entgegnen. Nur um klarzustellen, dass er durchaus den Puls der Zeit mitbekam, auch wenn Außenstehende sie auf Norderney gerne etwas belächelten. Aber er war erleichtert über das Angebot, sich zu duzen, selbst wenn er fand, dass Schneyder in allem zu übertrieben wirkte.

»Martin. Absolut einverstanden«, antwortete er schließlich.

»Das gilt ebenso für die restlichen Kollegen. In Aurich haben sie das nicht so gerne, aber hier kriegt es ja keiner mit. Und ihr duzt euch untereinander auch, oder?«

»Schon.« Martin ärgerte sich über sich selbst. So stocksteif, wie er sich gab, war er doch gar nicht.

»Komm, dann setz dich einen Moment zu mir.« Gert schob ihm einen Stuhl zu. »Mich würde interessieren, was dein Bauch sagt. Jetzt, nachdem der erste Eindruck sacken konnte. Vielleicht hast du etwas aufgeschnappt auf der Insel.«

Martin setzte sich langsam und schüttelte dabei den Kopf. »Ich war gestern nicht mehr unterwegs. Der Kollege, Olaf, kann vielleicht etwas mehr sagen. Aber bisher ist alles nur Gerede, Spekulation, Gerüchte.«

»In welche Richtung?« Gert hatte sich zu ihm herumgedreht und vorgebeugt. Die Ellbogen drückte er in seine Oberschenkel, die Finger hatte er gefaltet. Im Gegensatz zu gestern sah er ihm direkt in die Augen.

»Nichts Konkretes. Im Grunde genommen wiederholen alle die Wahlkampffloskeln. Und fragen sich, ob ein politisches Motiv dahinterstecken kann.«

»Glaubst du das?«

»Eher nicht.«

»Warum?«

»Dafür bräuchte es diese Inszenierung am Fundort nicht.«

»Du hast eine Idee, was es damit auf sich hat?«

Martin seufzte und nahm das Tempo, das Gert vorlegte, raus. »Nein. Ehrlich gesagt, nein. Wir wissen ja noch nicht einmal genau, worum es sich handelt.«

»Eine Schärpe, ein Koffer mit Dokumenten, ein toter Fisch und eine venezianische Maske. Keine Idee dazu?«

»Keine Idee«, antwortete Martin nach einem Moment des Nachdenkens. »Aber vor allem reden alle über die Kinder«, schob er hinterher, obwohl er wusste, dass es zusammenhanglos wirken musste.

»Die Kinder. Das ist wirklich ein Trauerspiel.« Gert hatte sich seinem Laptop zugewandt und tippte langsam einzelne Wörter ein, hinter denen er mit Schwung die Returntaste drückte. »Die To–do–Liste für heute«, kommentierte er, als er fertig war. »Wie ich das hasse, auf andere warten zu müssen. Westerkamp, Jugendamt, KTU, vorher stochern wir nur im Nebel.«

»Die Aussagen der anderen Kandidaten und des Bürgermeisters.«

»Stimmt. Sind sicher abgetippt und wollen gelesen werden.«

»So ist es.«

»Danke an die Kollegen. Das mache ich gleich als Erstes.« Gert knibbelte an seinen Fingern, auf die er starrte.

Martin wusste wenig mit den abrupten Wechseln in dessen Mimik und Gestik anzufangen. Andererseits klang bisher alles vernünftig. Vielleicht machte es Sinn, doch etwas Bauchmäßiges hinzuzufügen. Es war ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen, seit er gestern mit Anne darüber gesprochen hatte. Er räusperte sich.

»Was gibt’s?« Sofort wandte sich Gert ihm zu. »Du hast noch was. Raus damit. Egal, was es ist.«

Die blitzartige Reaktion erschreckte Martin, aber andererseits sprach sie für Gerts Sensibilität. »Ich weiß gar nicht, ob das überhaupt etwas zu bedeuten hat«, sicherte er sich vorsichtshalber ab. »Aber in deiner Aufzählung eben fehlte die Tarotkarte.«

»Guter Mann!« Diesmal war es der Zeigefinger, der sich pfeilschnell in seine Richtung ausstreckte. »Richtiger Hinweis.«

Martin hob beide Hände. »Das sollte keine Kritik sein. Nur gestern Abend, als ich mit meiner Lebensgefährtin sprach, also nur so ganz unverbindlich …«

Gert wedelte mit den Händen, als wäre ihm diese Information egal und als wollte er, dass Martin zum Punkt komme.

»Da haben wir uns die Frage gestellt, warum die Leiche am Planetenweg lag. Ob sie dort ermordet wurde oder ob der Fundort eine Aussage darstellt, also Teil der Inszenierung sein könnte.« Martin wurde, nachdem er einmal angefangen hatte, lebhafter und sicherer. »Und deswegen haben wir uns Gedanken darüber gemacht, was es mit dem Planeten auf sich hat, an dem sie lag. Ob man irgendwelche Schlussfolgerungen ziehen kann. Vielleicht in Verbindung mit den Tarotkarten. Weil so etwas oft in eine ähnliche Richtung geht.«

»Ja, und zu welchem Schluss seid ihr gekommen, du und deine Lebensgefährtin?«

»Nun, der Planet, an dem Frau Mertens lag, ist der Jupiter. Und dieser –« Er brach ab, weil Olaf im Türrahmen stand und dagegen klopfte.

»Chef, du müsstest mal ans Telefon kommen. Marthe Dirkens will unbedingt mit dir reden. Wegen des Todesfalls, wie sie sagt.«

Martin sah Gert an, doch dieser scheuchte ihn mit einer Kopfbewegung auf: »Das hat Vorrang. Alles andere später. Ich komm darauf zurück. Jupiter also. Ich bin gespannt.«

*

»Was hat Martin denn gesagt?« Daniela, die neben der Spülmaschine stand, um das Frühstücksgeschirr der Gäste einzuräumen, hielt inne. Ihre Neugierde konnte sie nur schlecht unterdrücken.

Marthe Dirkens lächelte. So wäre es ihr umgekehrt ebenso ergangen. Das war schließlich eine mehr als dubiose Geschichte. »Dass er es weitergibt an die Mordkommission und dass sie dem Hinweis nachgehen«, versuchte sie, lax zu antworten.

»Frau Dirkens, das glaube ich nicht, dass Martin Sie so abgefertigt hat.« Eine feine Röte stieg in Danielas Gesicht, wie so oft, wenn sie über etwas richtig empört war.

»Ist ja schon gut, Kind, natürlich nicht, ich wollte dich nur auf die Folter spannen. Nicht die feine Art, ich weiß.«

»Was hat er denn wirklich gesagt?«