Inselduell

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»Wissen Sie denn nicht, was für eine Katastrophe das für die Insel ist?« Die Faust des Amtsinhabers fiel auf den Tisch. Martin konnte sich die Röte seines Gesichts vorstellen, ohne sie zu sehen, denn Schneyder nahm ihm die Sicht. Die cholerische Ader des Bürgermeisters war stadtbekannt, und keiner war böse darüber, dass er aus Altersgründen nicht erneut zur Wahl antrat. Im Gegenteil: Mit gleich drei Kandidaten hatte niemand gerechnet. Anfangs entstand fast eine euphorische Stimmung, ein demokratischer Aufbruch, ein Neuanfang. So hatte es von allen Seiten geheißen.

»Es tut mir leid, Herr Thies. Leider liegt es nicht in meiner Macht, das Ganze ungeschehen zu machen. Glauben Sie mir. Nichts wäre mir lieber angesichts der wirklich tragischen Umstände.«

Martin bewunderte, wie gelassen Gert Schneyder blieb. Anders als heute Morgen am Fundort, wo er sein Auftreten übertrieben fand. Überhaupt lag eine unheilvolle Ruhe in dem Raum, trotz der vielen Menschen. Nur die Heizung, die die drückende Stimmung zu forcieren schien, gab brummende und blubbernde Geräusche von sich. Zu Beginn der Zusammenkunft war das anders gewesen. Aggressiv und vorwurfsvoll waren die drei Parteien aufeinandergeprallt. Erst auf Schneyders Bitte, angesichts des Todes von Frau Mertens ein Mindestmaß an Pietät walten zu lassen, waren alle zurückgerudert. Nur Joseph Thies hielt sich nicht daran.

»Es ist ja wohl hoffentlich ausgeschlossen, dass es ein politisches Motiv gibt«, blaffte er.

Gert Schneyder setzte sich auf den Stuhl, hinter dem er bisher gestanden hatte. Martin konnte von seinem Platz aus sehen, dass sich an dessen Hinterkopf eine leichte Tonsur zu bilden begann. Was ihn irgendwie freute, wie er zugeben musste. Schneyder war doch bestimmt noch keine 40. Im gleichen Augenblick schämte er sich seiner Gedanken. Unfassbar, mit welchen Nebensächlichkeiten sich der Mensch doch unterbewusst beschäftigen konnte, selbst wenn das Grauen so nah war.

Das Stimmengewirr hatte als Reaktion auf die Frage wieder eingesetzt, allerdings deutlich abgeschwächter als zuvor. Prompt schoss Thies hinterher: »Wobei wir ja zwei Parteien von vorneherein ausschließen können – meine und selbstverständlich die ZUP. Letztere wird ja nicht ihre eigene Kandidatin auf diese Weise aus dem Verkehr gezogen haben.«

Augenblicklich war die Hölle los. Niemand im Raum saß mehr, auch Thies war nach seinen letzten Worten aufgesprungen, und Martin sah, wie er mit ausgestrecktem Arm auf Häusler zeigte, den Kandidaten der Fortschrittspartei.

»Ruhe! Verdammt noch mal, Ruhe!«, brüllte Gert Schneyder nun.

Martin hörte nur einzelne Sätze aus dem Sprachgetümmel, ohne sie zuordnen zu können: »Ist er jetzt komplett verrückt geworden?« – »Anzeige wegen Verleumdung« – »Grenzen der politischen Auseinandersetzung« – »Denken Sie doch an die Insel und ihr Ansehen«. Letzteres schien vom Kurdirektor zu kommen, der flehentlich mit den Händen rang und sich mit seinen Worten an alle wandte.

Gert Schneyder ging auf ihn zu. Martin konnte nicht verstehen, was die beiden besprachen, aber kurz danach traten sie an Thies heran und kamen dann gemeinsam zu ihm und Nicole.

»Wir haben kurz überlegt, wie wir am besten weitermachen.« Schneyder riss seine blauen Augen unnatürlich auf, wohl, um ihm mitzuteilen, dass er versuchte, die Situation zu deeskalieren. »Herr Ziegler, wären Sie so freundlich und würden mit den beiden Herren hier«, er zeigte auf den Kurdirektor und den Bürgermeister, »das Gespräch an einem ruhigeren Ort fortsetzen? Bitte nehmen Sie alles an Hinweisen auf. Alles könnte nützlich sein.«

Thies brummte zustimmend. Anscheinend fühlte er sich von Schneyder bekräftigt, aber Martin erkannte an dessen Miene, dass er vor allem jeden weiteren Eklat vermeiden wollte. Die Sache konnte brisant genug werden, ohne dass sich schon der innerste politische Zirkel zerfleischte.

»Klar. Übernehme ich«, antwortete er schnell.

»Wenn Sie mir Ihre Kollegin hierlassen würden? Sie kann mir behilflich sein, die anderen Meinungen einzuholen.«

Augenblicklich plusterte sich Thies wieder auf, die Röte seines Gesichts nahm weiter zu, obwohl das kaum möglich schien. »Sie wollen mich aus meinem Amtsbüro hinauskomplimentieren, damit diese«, er rang um Worte, »diese Kreaturen vernommen werden können? Ausgenommen natürlich meinen Parteikollegen Klaas Wilko.«

Martin schüttelte den Kopf. Er verstand Thies nicht, verstand ihn schon lange nicht mehr. Dabei hatte er seine Sache als Bürgermeister viele Jahre ordentlich gemacht. Die Insulaner mochten ihn, und er war über fast die gesamte Dienstzeit meist ein besonnener Erneuerer der Insel gewesen, dem die Meinung seiner Wähler nie egal war. Aber seit etwas mehr als einem Jahr war aus ihm ein hoffnungsloser Patriarch geworden, der sich für allwissend und allmächtig hielt. Hinter vorgehaltener Hand hatte es schon Gerüchte gegeben. Eine degenerative Erkrankung, mutmaßten die einen. Die anderen sahen es als normalen Verlauf eines Menschen, der zulange am Machthebel saß. Werden sie denn nicht alle so, wurde argumentiert. Deswegen kann man doch keinem von denen auf lange Sicht trauen, hatte manch einer gemeint. Das sollte ja jetzt ein vorläufiges Ende haben. Neue Besen kehren gut, und das konnte sich nach der Wahl beweisen. Mit dem heutigen Tag allerdings lagen die Dinge anders. Was für Voraussetzungen für den nächsten Amtsinhaber, egal, wer gewinnen würde. Was für eine Bürde.

*

»Und sie hat die Kinder wohin mitgenommen?«, fragte Anne, während sie die Lauchstangen putzte.

Martin stellte die Colaflasche zurück in den Kühlschrank und drehte sich mit dem gefüllten Glas zu ihr herum. Er mochte es, wenn sie ihre Stirn so konzentriert in Falten legte. Kochen war nichts, was sie gerne tat, das war fast immer sein Part, aber heute hatte sie ihm angeboten, zusammen die Suppe zuzubereiten. »In eine Inobhutnahmestelle. Man will so schnell wie möglich versuchen, Angehörige ausfindig zu machen.«

»Das kann doch nicht sein, dass es niemanden gibt, der sich für die Kinder verantwortlich fühlt, oder?«

»Soll ich die Zwiebeln übernehmen?«, fragte er statt einer Antwort, die er selbst nicht hatte, und griff in den Keramiktopf, der auf dem Kühlschrank stand.

Anne nickte. »Gerne. Und bitte die Möhren. Ich schäle die Kartoffeln.«

»Okay. Welche Toppings möchtest du? Paprika? Dann würfele ich sie schon mit.«

»Kannst du machen. Für mich ansonsten nur Sonnenblumenkerne.«

»Gut, dann heute das kleine Programm. Ich habe nichts dagegen. Mir ist das alles ziemlich auf den Magen geschlagen.«

»Kann ich mir denken.« Anne fuchtelte mit dem Messer in der Luft, als sie gestenreich ihre Worte unterstrich. »Peng. Und das war’s, dein Leben. Einfach so. Gerade noch voller Träume und Ziele, und dann kommt einer daher und löscht alles aus. Heftig. Was aber wirklich unfassbar ist, das alles passiert auf unserem kleinen Sandhaufen und nicht in einem drittklassigen, vorausschaubaren Hollywoodfilm.«

»Das trifft genau die Stimmung auf der Insel, nachdem sich die Nachricht verbreitet hat.« Martin strich sich vorsichtig mit dem Handrücken über die Wange. Die Zwiebeln brannten in den Augen, obwohl er erst die Schale entfernt hatte. »Die Tatsache, dass Frau Mertens erschossen wurde – und dass es wohl eine kalkulierte Tat mit Botschaft war.«

»Also doch politisch motiviert? Das geisterte sofort als Gerücht herum.«

»Das ist das Seltsame. Da hat jemand eindeutig versucht, die Tat mit einer Bedeutung aufzuladen. Aber noch ist unklar, in welche Richtung das geht. Erstens: Warum sollte uns der Täter einen Hinweis geben wollen? Also ist davon auszugehen, dass er uns an der Nase herumführt. Ablenken will.«

»Und zweitens?«, hakte Anne nach, als er nicht weitersprach.

Er wandte den Blick vom Küchenfenster ab. Eine grölende Gruppe Jugendlicher hatte für einen Augenblick die Aufmerksamkeit auf sich gezogen.

»Ach so, ja, zweitens. Es ist doch beileibe nicht so, dass sich die drei Parteien im Wahlkampf bis auf das Blut bekämpft hätten. Du weißt doch selbst, was geredet wurde: Wen soll man denn da wählen? Pest oder Cholera? Die kümmern sich doch alle nur um den eigenen Vorteil. So ungefähr.«

»Schon.« Anne zog das Wort in die Länge, was Martin stutzen ließ.

»Es gibt also aus deiner Sicht ein Aber?«, wollte er wissen.

»Na ja, es gab schon Unterschiede.«

»Das habe ich nicht geleugnet. Aber die großen Themen waren doch mehr oder weniger bei allen gleich. Allein die Nuancen …«

»Da konnte sich der ein oder andere schon in Rage reden. Und hast du die Wahlplakate gesehen? Die sind alle verziert worden. Und zwar ziemlich übel, wenn du mich fragst.«

»Hm. Ja, habe ich mitbekommen, wenn auch nur am Rande. Nach dem Schock wollte keiner der Parteien mehr über beschmierte Plakate reden.« Er öffnete den Mülleimer und streifte die Zwiebelschalen vom Schneidebrett. »Die Möhren gewürfelt oder in Scheiben?«

Anne schaute ihn irritiert an. »Was?« Dann lachte sie. »Blödmann. Du willst mich bloß ärgern mit der Frage, wie jedes Mal. Wird doch nachher alles püriert.«

»Nicht ärgern. Nur prüfen, ob sich deine Kochkünste langsam verbessern.« Er gab ihr einen Kuss.

»Du lenkst mich ab. Lass uns weiterdenken. Die Plakate. Immerhin waren alle davon betroffen. Es war nicht so, dass sich jemand gezielt Petra Mertens herausgegriffen hätte.«

»Stimmt. Wobei man unterschiedlicher Meinung sein kann, wie bösartig diese Symbole zu bewerten sind. Kommt ja auf den eigenen politischen Standpunkt an.«

Anne zeigte diesmal mit dem Sparschäler auf ihn. »Genau. Ich persönlich finde, dieses Bärtchen geht gar nicht. Und du weißt, dass ich das nicht sage, weil ich auf einmal KWKs Politikstil gut finde.«

 

»Zumindest zuletzt nicht mehr, meinst du.«

»Egal. Was ich sagen will, ist, dass ich dieses eindeutig sexistische Geschmiere bei Petra Mertens am ekelhaftesten fand. Ja, ich hätte sie gewählt.« Anne hob beide Arme. »Das lässt mich parteiisch sein. Aber schon aus Frauensolidarität finde ich das Geschmiere zum Kotzen. Und ehrlich: ein paar Dollarzeichen in den Augen? Das ist doch eher zum Gähnen.«

»Okay.« Martin ließ die Zwiebeln in einem Topf mit heißem Öl aus. »Unterm Strich heißt das, unser dynamischer Politprofi soll auf die Verdächtigenliste. Deiner Meinung nach.«

»Du hörst dich so flapsig an.«

Martin schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. So ist es überhaupt nicht gemeint. Ich bin genauso geschockt wie alle anderen. Kennst das doch, das mit dem Kompensieren. Zu Hause wirkt das alles, als wäre es nie geschehen. Als wäre es ein Krimi im Fernsehen und wir rätseln ein bisschen mit.«

»Ich bin schuld. Sorry. Ich habe es in die banalen Bahnen gelenkt.« Anne kam zu ihm und schmiegte sich an ihn.

»Quatsch.« Abrupter, als er wollte, löste er sich von ihr. »Mir hilft das ja. Wenn ich mit dir rede. Weil ich dann anders sortieren kann als auf der Dienststelle. Wo ich nach zwei Seiten zu schauen habe: um mit meinen Leuten weiterhin die Insel zu sichern und um gleichzeitig den Fallermittlern die Arbeit zu erleichtern.« Es zischte, als er das angeschmorte Gemüse mit einer Brühe ablöschte. »In einer Viertelstunde können wir essen. Was willst du trinken? Soll ich einen Wein öffnen?«

Anne winkte ab. »Nein, nur ein Wasser, bitte.« Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Arbeitsfläche und beobachtete ihn. »Das ist schon alles sehr seltsam. Du hast recht. Es gibt nichts, was ein politisches Motiv wahrscheinlich macht. Keine Riesenaufreger. Keine Anschuldigungen. Keine In­trigen. Zumindest, soweit wir das wissen.« Anne kam zu ihm. Diesmal ließ er es zu, dass sie sich an ihn schmiegte. Er nahm sie in seine Arme. Wie schmal und zierlich sie doch neben ihm war. Er küsste sie auf die Haare und sog den vertrauten Duft ein.

Für einen Moment schwiegen sie beide und hingen ihren Gedanken nach.

»Ach, verdammt. Der Fundort.«

Martin schreckte zusammen, weil Annes Stimme unvermittelt schrill klang. »Was ist damit?«

»Du hast erzählt, es gab einen Koffer, eine Tarotkarte, eine Schärpe, aber du hast gar nichts zum Fundort gesagt.«

»Wieso? Doch, habe ich.« Martin verstand nicht, worauf Anne hinauswollte. »Am Planetenweg.«

»Ja, ja, das ist schon klar.« Sie wedelte ungeduldig mit der Hand, als wolle sie unnütze Bemerkungen vertreiben. »Aber wo da genau? Ich meine, an welcher der Stationen?« Sie schien aufgeregt und löste sich von ihm, um zum Fenster zu gehen. Dort drehte sie sich zu ihm. »An welchem Planeten genau wurde sie gefunden?«

*

»Ich freue mich so sehr, dass du bei mir bist.« Oskar erhob sein Glas und ließ es gegen ihres klingen. »Drei Tage – das ist fantastisch!« Seine Augen glitzerten, aber sein Gesichtsausdruck war so ernsthaft, dass Ruth laut auflachte. Irritiert schaute er sie an. »Was ist los? Habe ich etwas Falsches gesagt?«

Ruth prustete, je mehr sie sich bemühte, ihren Lachanfall in den Griff zu bekommen. Sie wusste, es war sinnlos. Einmal losgelassen, war die Lachsalve nicht so leicht zu stoppen, besonders nicht durch fragende Blicke. Erst als sie merkte, dass Oskar wirklich verunsichert war, konnte sie stotternd hervorbringen: »Es tut mir leid. Ich dachte wirklich, du kennst das schon von mir. Bitte, sei nicht böse. Es ist nichts gegen dich.«

»So ist es nicht. Hm, was dann? Ein unkontrollierbarer Tic? Oder lachst du über den Kellner? Verrate es mir.« Mit jedem Wort hatte sich der Schelm wieder in seine Augen geschlichen.

»Ein Tic, das trifft es gut.« Sie war kurz davor, erneut loszulachen. »Auf jeden Fall ist es meine Art, mit Situationen umzugehen, die mich beunruhigen.«

»Die dich beunruhigen?« Oskar sah sich im Restaurant um. Ruth folgte seinem Blick. Der Raum war nur knapp zur Hälfte gefüllt. Klar, sie waren spät dran und konnten froh sein, dass die Küche noch geöffnet hatte. »Stimmt. Ziemlich unheimliche Location«, frotzelte er und zog die Stirn kraus, was seine Brille ins Rutschen brachte. Mit einem Finger schob er sie wieder hoch.

Ruth legte für einen Moment den Kopf in den Nacken. Wie sollte sie bloß erklären, dass sie in manchen Situationen nicht die taffe Frau war, für die sie alle hielten? Es fiel ihr schwer, das zuzugeben, aber wenn sie sich hinter ihrer burschikosen Art versteckte, kam sie immer wieder zu kurz. Es gab nun mal keine zwischenmenschliche Nähe ohne Risiko. Wer sollte das besser wissen als sie selbst. Geschiedene Polizeipsychologin mit erwachsener Tochter, die um der Karriere willen die Familie geopfert hatte. So zumindest lautete die gekürzte, die vereinfachte Rechnung. Dass es komplexer war, konnte sich wahrscheinlich jeder denken, aber die meisten Menschen mochten lieber die einfachen Antworten.

Sie beschloss, weiter ehrlich zu sein. Oskar wusste, dass sie Zeit brauchte. Weil es zuletzt etwas gegeben hatte, was sie in ihrem Selbstverständnis und ihrer optimistischen Art vollkommen erschüttert hatte. Trotzdem konnte sie nachvollziehen, dass ihr Verhalten auf Oskar seltsam wirken musste.

Sie nahm seine Hände und schaute ihn an. Seine Augen waren etwas, dem sie sich nicht entziehen konnte. Sie spürte, wie die Verlegenheit weniger wurde. Ein warmes Ziehen im Bauch konnte sie nicht länger ignorieren. Verdammt. Sie mochte diesen Mann. So sehr, wie sie sich das nicht hätte vorstellen können.

Er schaute sie fragend an. Auch dafür war sie ihm dankbar. Dass er diese Pausen, diesen Stillstand aushielt. Nicht gern. Nicht ohne Zweifel. Aber er tat es.

»Du weißt, dass ich das nicht gut kann, oder?«, flüsterte sie.

»Was genau meinst du? Den Restaurantbesuch?«

Er machte es ihr einfach. Lockerte die Stimmung auf. Bot ihr Ausflüchte. Auf die sie aber nicht zurückgreifen wollte. Diesmal nicht.

»Ich bin nun mal nicht so die Romantikerin.« Sie hob kurz die Hand und deutete durch den Raum und auf das Fenster, hinter dem auf der anderen Seite des Rheins der Posttower mit wechselnden Farben auf sich aufmerksam machte. »Wenn du mit mir anstößt und dich auf drei gemeinsame Tage mit mir freust, dann …« Sie stockte.

»Dann?« Er drückte die Hände, mit denen sie ihn immer noch hielt.

»… dann bekomme ich Panik.«

»Ich weiß das doch. Du hast von Anfang an mit offenen Karten gespielt.«

»Ja. Nein. Schon. – Ach, es ist kompliziert.«

»Das muss ich aber nicht als Statusangabe wie auf Facebook verstehen, oder? Da bedeutet eine komplizierte Beziehung fast immer, dass noch jemand Drittes im Spiel ist. Muss ich da etwas wissen?«

Nun war es an Ruth, erschrocken zu sein. »Nein, nein, falsche Fährte. Das darfst du auf keinen Fall denken. Nein, es ist viel mehr, dass ich Panik im wortwörtlichen Sinne bekomme. So steinzeitmäßig. Hoher Puls, flache Atmung, Leere im Kopf und nur auf Flucht gepolt.« Sie hörte, dass sie witzig klang, obwohl sie jedes Wort genauso meinte.

»Du denkst an Flucht, weil wir zum ersten Mal drei ganze Tage miteinander haben?« Oskar schien sich nicht sicher zu sein, ob sie ihn hochnahm.

Ruth nickte. »Leider.«

»Tatsächlich kompliziert.«

Sie sah die Angst vor Zurückweisung in seinen Gesichtszügen. Alles zog ein wenig mehr nach unten: Die Augen, die Mundwinkel, selbst die Brille rutschte die Nase herunter.

»Zu kompliziert?«, fragte sie leise.

»Nein, auf keinen Fall.« Er zog seine Hände zurück, weil der Kellner einen Korb mit Brot und Besteck vor ihnen abstellte.

»Die beiden Dips sind unser kleiner Gruß aus der Küche.« So schnell, wie er aufgetaucht war, hatte er sich schon wieder zurückgezogen, aber ihre Hände lagen nun nicht mehr aufeinander.

Ruth griff nach einem Stück Brot. Oskar wickelte das Besteck aus der Serviette und reichte ihr ein Messer. »Hier, der Dip ist herrlich, den musst du probieren.«

»Es ist also dein romantisches Stammlokal«, neckte Ruth ihn, in der Hoffnung, dem Gespräch mehr Leichtigkeit zu geben. Sie könnten ja später noch intensiver reden. Vielleicht wäre es dann sogar gut, wenn sie ein Thema hätten, bevor …

»Einen Penny, um deine Gedankengänge nachzuvollziehen.«

Ruth lachte laut auf. »Nein, die willst du nicht wissen.«

»Doch, das will ich.« Seine Augen wurden noch dunkler, als sie sowieso schon waren. »Ich will, dass du das weißt. Ich lasse dir alle Zeit der Welt. Egal, was vorher war. Das spielt für mich keine Rolle. Ruth, du bist die beeindruckendste Frau, der ich seit Langem begegnet bin. Und ich bin nicht so naiv, dass ich nicht wüsste, dass wir alle unsere Macken davongetragen haben. Also, entspann dich bitte. Es werden drei großartige Tage.«

»Weißt du, wie lange es her ist, dass ich drei Tage am Stück mit nur einem einzigen Menschen in solcher Nähe verbracht habe?« Ruth griff sich in die Locken und stöhnte leise auf. »Das willst du nicht wissen.«

»Muss ich auch nicht.« Jetzt lächelte er sie an. »Vollkommen egal. Wir sehen, was passiert. Und wenn du es gar nicht aushältst, dann finden wir eine Lösung, okay?« Er reichte ihr ein Stück Brot, das er sorgfältig mit einem der Dips bestrichen hatte. »So, und jetzt probieren – ohne Widerworte.«

Ruth biss hinein und verdrehte gespielt entzückt die Augen: »Köstlich.«

»Du nimmst mich nicht ernst.«

»Doch. Aber das sind meine kleinen Fluchten.«

»Nun gut. Wir sind uns also einig. Wir versuchen das.«

»Ich versuche es. Komm mir nicht später damit, ich wäre anstrengend.«

»Ich liebe anstrengende Frauen. Wo bliebe sonst die Herausforderung? So und nun noch einmal.« Er stieß mit seinem Glas an ihres. »Auf uns. Auf unser Wochenende. Und da wäre übrigens noch etwas.«

Ruth war auf einen Schlag alarmiert. »Noch etwas?«

»Na ja«, druckste Oskar herum, »da war der Newsletter und das Angebot nur kurzfristig, und ich dachte, ich mache dir, also besser gesagt uns, eine Freude, obwohl ich mir da jetzt gar nicht mehr so sicher bin …«

»Oskar, was ist los?«

»Also, ich habe über Ostern ein Doppelzimmer auf Norderney gebucht. Für dich und mich. Ich dachte, das wäre doch was. Da, wo wir uns kennengelernt haben.«

»Du hast was?« Ruth merkte, wie ihr die Gesichtszüge entglitten.

»Okay, okay, war wahrscheinlich ein Fehler. Ich sehe es ein. Zu schnell. Viel zu schnell. Ich werde sehen, was sich machen lässt. Stornomäßig, meine ich.« Oskar stotterte und verhaspelte sich immer mehr.

Und plötzlich war es, als sähe Ruth von außen auf sich und auf Oskar, und sie konnte es nicht fassen, wie kompliziert sie die Dinge machte. Oh Gott, dachte sie, er konnte einem regelrecht leidtun, sie hatte so etwas wie ihn gar nicht verdient. »Ach, Oskar«, sie nahm über den Tisch hinweg erneut seine Hände. »Da hast du dir mit mir was eingefangen. Du wirst es noch bereuen, mir begegnet zu sein.« Und zu seiner großen Verwunderung begann sie wieder, lauthals zu lachen.

*