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Trotzdem rutschte es ihr irgendwann heraus: »Und euer Papa? Den seht ihr doch bestimmt auch ab und an. Vielleicht können wir ihn ja anrufen.«

Sie merkte sofort, dass sie einen Riesenfehler begangen hatte. Idiotin, beschimpfte sie sich selbst. Wie eine Anfängerin. Mit ihrem Heile-Welt-Denken von Komplettfamilien. Sie wusste ja, dass Frau Mertens alleinerziehend war. Trotzdem hatte sie dem Familiensystem sofort einen existenten Vater angedichtet. Als wenn sie es nicht kennen würde, die Sorgerechtsstreitigkeiten, die Umgangsverbote von Seiten der Mütter, die abgetauchten Väter, die nicht zahlen wollten. Natürlich kannte sie das. Die ganze Palette. Bis hin zu Gewalttaten und Frauenhaus. Nur hier war sie wohl reingefallen mit ihrer fatalen Neigung zu Friede, Freude, Eierkuchen. Als wenn es das Komplementärprogramm zu ihrem Job wäre.

Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass die Kinder sie immer noch entsetzt anschauten und nicht antworteten. Verlegen griff sie zu der Kanone und richtete sie auf die herumstehenden Piraten. »Na, ist ja auch egal, da können wir uns später drum kümmern«, versuchte sie, mit Gemurmel ihre Frage abzuschwächen. »Spielt ihr weiter mit, oder wollt ihr lieber etwas anderes machen?«

Nicole schielte auf ihre Armbanduhr. Hoffentlich war das Jugendamt bald da und konnte übernehmen. Sie hatten doch Erfahrung in solchen Dingen. Es ging ja diesmal um deutlich mehr als um ein am Strand verloren gegangenes Kind, mit dem sie sich auf Norderney manchmal beschäftigen mussten.

Die Geschwister rührten sich immer noch nicht.

Dann räusperte sich Mattis. Täuschte sie sich oder klang die Stimme des Jungen deutlich tiefer als vor wenigen Minuten? Erwachsener sah er auf jeden Fall aus, als er sich halb aufrichtete und sich zwischen seine Schwester und Nicole schob. »Unser Vater? Unser Vater lebt doch nicht mehr. Schon lange.«

*

»Gert Schneyder, guten Tag, Herr Ziegler. Wir kennen uns dem Namen nach, oder?«

Martin Ziegler hatte sich neben dem Polizeiwagen ausgestreckt und den Kopf im Nacken rollen lassen, als sich hinter dem Pritschenwagen ihrer Dienststelle eine Kolonne von Einsatzwagen näherte. Er bereute nach wie vor jeden Schluck der ostfriesischen Teezeremonie von gestern Abend und die fehlenden Stunden Schlaf, weil er lange mit Anne bei Daniela und Frank geblieben war, auch, als Frau Dirkens sich schon in ihre Wohnung unter dem Dach zurückgezogen hatte. Die Aussicht auf die Mordkommission vom Festland ließ seine Laune in den Keller sinken. Wenn er an das letzte Mal dachte, wünschte er sich nichts lieber als einen klaren Kopf.

Umso erstaunter reagierte er auf den Kollegen. Irritiert schaute er hinter ihn, in der Erwartung, dass ein blonder Haarschopf auftauchte, der ihm in unliebsamer Erinnerung geblieben war.

Der Mann grinste: »Falls sie Frau Lichterfeld vermissen, da muss ich Sie enttäuschen. Sie ist leider im Urlaub. Dieses Mal müssen Sie mit mir vorliebnehmen.«

Martin sah, wie sich das Grinsen verstärkte, als er hörbar ausatmete. Wenigstens das blieb ihm erspart. Alles andere konnte nur besser sein, als der despektierliche Blick, dem er beim letzten Mordfall ausgesetzt war. Die Reaktion des Hauptkommissars, der heute im Einsatz war, deutete darauf hin, dass die Unstimmigkeiten zwischen Aurich und Norderney durchaus nicht unbemerkt geblieben waren. Mit welcher Bewertung wollte er lieber gar nicht so genau wissen.

»Also, was gibt’s denn?«, fragte dieser Schneyder und schien sich nicht zu wundern, dass Martin ihm nur wortlos die Hand gereicht hatte. »Eine weibliche Leiche? Wissen Sie schon mehr?« Er blickte zur Fundstelle herüber, hob den Daumen und lobte: »Vorbildlich. Soweit ich sehen kann, habt ihr nur abgesichert und keine Spuren vernichtet.«

Der joviale Ton entspannte Martin sofort. Kein Vorwurf, keine Skepsis in den ersten Sätzen. Er straffte seine Schultern und gab in wenigen Worten wieder, was sie wussten: »Ein Dauercamper ist heute Morgen mit dem Segway hier entlanggekommen. Er hat die Frau gefunden und sowohl den Notarzt als auch uns verständigt. Eine Reanimation war nicht mehr möglich. Auf den ersten Blick sieht es nach einer Schussverletzung aus. Eine Waffe ist allerdings bisher nicht sichtbar. Wir wollten nicht …«

»Vollkommen richtig.« Der Kripobeamte klopfte auf Martins Schulter, was selten jemand wegen seiner Größe tat. Aber Schneyder, der sicher an der Zwei-Meter-Marke schrappte, überragte ihn noch. »Alles richtig gemacht. Vielleicht liegt sie unter dem Körper oder in den Gräsern. Je nachdem, wie stark der Rückstoß war.«

»Wenn es ein Suizid sein sollte, ist das Aufgebot groß, aber angesichts der Brisanz wollen wir auf Nummer sicher gehen.«

»Der Brisanz? Was genau ist damit gemeint?« Schneyder sprach unaufgeregt und gelangweilt. Martin war sich nicht sicher, ob er das mochte oder nicht. Seltsam fand er es auf alle Fälle.

»Ich dachte, wir hätten es am Telefon erwähnt.«

»Was?«

»Nun, wir gehen davon aus, dass es sich bei der Toten um unsere Bürgermeisterkandidatin handelt. Petra Mertens. Gebürtige Rheinländerin, lebt aber schon einige Jahre in Norddeutschland. Seit drei Jahren auf Norderney. Hat in einer Forschungseinheit gearbeitet.«

»Mit absoluter Gewissheit?« Schneyder knibbelte an seinen Fingern, auf die er angestrengt starrte.

Martin irritierte der fehlende Blickkontakt, aber er holte weiter aus. »Das Konterfei der Frau lächelt uns seit Wochen von jedem dritten Wahlplakat an. Da kann man sich schon relativ sicher sein.«

»Ha! Sie sagen es. ›Relativ‹ sicher. Nicht hundertprozentig.« Das Grinsen flackerte erneut auf, um dann in eine überaus ernste Mimik überzugehen, bei der die Mundwinkel sich drastisch absenkten.

Martin starrte ihn verwundert an. Er wurde nicht schlau aus diesem Mann.

»Bürgermeisterkandidatin, sagen Sie?«, murmelte dieser vor sich hin.

Martin nickte. Es war ihm egal, ob Schneyder das sah. Er schien in seiner eigenen Welt.

»Brisant, brisant, brisant.«

Martin rollte ansatzweise mit den Augen. »Sag ich doch.«

»Gut, das werde ich gleich mit Aurich besprechen. Lassen Sie uns aber erst einmal Orientierung schaffen. Was ist denn mit dem dunklen Gegenstand da hinten bei der Leiche? Ein Koffer?«

»Dazu komme ich gleich. Vorab: Es gibt etwas, was uns sicher macht, dass es sich um Frau Mertens handelt. Sie ist alleinerziehende Mutter. Gerade heute Morgen wurden die Kollegen aus der Wohnung von Frau Mertens verständigt. Eine Nachbarin hat uns informiert, dass die Kinder alleine sind. Ohne zu wissen, wo sich die Mutter aufhält. Die über Nacht einfach verschwunden ist. Was sonst nie vorkommt.«

»Herrgott, wie dramatisch ist das denn?«

Martin zwinkerte mit den Augen. Dramatisch fand er sein Gegenüber mit den überzogenen Reaktionen.

»Ja. Wir sind in großer Sorge. Im Moment sind zwei Kollegen bei den Kindern. Zwölf und acht Jahre im Übrigen. Wir haben das Jugendamt verständigt. Für alle Fälle. Ich dachte, das sollten Sie wissen.«

»Sehr gut. Vorbildlich. Umsichtig.« Schneyder nickte und sah ihn diesmal mit wasserblauen Augen an. »Gute Arbeit bisher, Herr Kollege. Und nun zu meiner Frage – was ist das dort hinten?«

»Ja, das ist wirklich seltsam. Wir haben uns nur einen oberflächlichen Eindruck verschaffen können.« Martin nickte mit dem Kinn in Richtung Fundstelle. »Stichwort Spuren. Aber der Koffer steht weit auf und …« Er stockte. Alles kam ihm unwirklich vor. Hatte er nicht richtig hingeschaut? Konnte das überhaupt sein? Entschlossen packte er Schneyder am Ärmel seiner braunen Öljacke. »Lassen Sie uns nicht reden. Schauen Sie es sich einfach mal an!«

*

Ruth Keiser atmete hörbar aus, als mit der roten Stange, die hoch hinausragte, der Bonner Verteilerkreis in Sichtweite kam. Obwohl sie heute Morgen früh losgefahren war, hatte der Verkehr auf der Autobahn sie geschafft. In ihrem Mini Cooper fühlte sie sich angesichts der Kolonnen von LKW neben ihr äußerst unwohl. Jetzt aber freute sie sich auf das Wochenende und auf Oskar.

Beim Gedanken an ihn drehte sie die Musik, die sie auf der ganzen Fahrt begleitet hatte, etwas lauter. Die ›Seaside Season‹ von Blank and Jones erinnerte sie nicht nur an die gemeinsame Zeit auf Norderney und in der Milchbar, sondern half ihr, beim Autofahren die Gedanken schweifen zu lassen.

»Dich hat es ganz schön erwischt«, hatte Lisa-Marie, ihre erwachsene Tochter, beim letzten Telefonat lakonisch festgestellt.

Ruth hatte nicht widersprochen, auch wenn es ihr selbst seltsam vorkam.

»Wie oft hast du mich eigentlich am Bodensee besucht, seit ich hier studiere?«

Nur einen winzigen Moment erfasste Ruth das schlechte Gewissen, dann lachte sie hell auf. »Sag nur, das hätte dir gefallen, wenn ich ständig bei dir aufgelaufen wäre? Ich hatte immer das Gefühl, dass du uns deswegen dankbar bist.«

Lisa-Marie hatte prompt in ihr Lachen eingestimmt. »Hast ja recht. Hab keinen Bock auf Heli-Eltern. Es reicht, was ich bei den Kommilitonen mitbekomme.«

»Ich habe gerade von einer Studie gehört, die besagt, dass das Konzept der Helikopter-Eltern aufginge. Die Kinder seien erfolgreich …«

»Drehst du den Spieß jetzt um und machst mir einen Vorwurf? Weil ich nicht straight genug zum Abschluss komme?«

»Blödsinn. Ich bin froh, dass du dir Zeit nimmst.«

»Anders als du, wolltest du sagen, was?«

»Vielleicht.«

»Ach Muttchen, komm, du hast alles richtig gemacht. Ihr habt beide alles richtig gemacht.«

Ruth lachte erneut. »Du weißt, wie du mich kriegst. Sag du noch mal ›Muttchen‹, dann fällt die nächste Überweisung etwas kleiner aus.«

»Erpressung.«

»Kindererziehung besteht zu großen Teilen aus Erpressung, weißt du doch.«

 

»Stimmt nicht. Ihr habt das besser gemacht. Bis jetzt.«

»Apropos: Wie geht es Michael? Hörst du was von deinem Vater?«

»Ja. Er kommt demnächst vorbei, auf dem Weg nach Italien. Ich habe ihm von Oskar und dir erzählt.«

Ruth stockte einen Moment der Atem. »Echt?«

»Mama. Chill mal. Ihr seid ewig getrennt. Papa bekommt keinen Herzinfarkt, weil du nach über 20 Jahren wieder richtig verliebt bist.«

»Nach über 20 Jahren«, murmelte Ruth und fasste in ihre Haare, als fände sie dort Halt. »Wie sich das anhört.«

»Ist ja nicht so, als wenn Papa und ich glauben, dass du in all den Jahren keusch gelebt hast. Sondern eher, dass du es verstanden hast, große Geheimnisse um dein Liebesleben zu machen. Aber Papa findet es gut. Das mit Oskar.«

»So. Findet er gut.« Ruth wusste selbst nicht, warum sie so fahrig daherredete. Plötzlich hatte sie wie befreit geantwortet: »Weißt du was? Ich finde es auch gut!«

Und so war es. Sie fühlte sich in den letzten Monaten wie ausgewechselt. Als hätte irgendetwas sie angeknipst. Sie wachte erfrischter auf, ging beschwingt durch den Tag, erfreute sich an Kleinigkeiten, die sie zuletzt oft vor lauter Grübelei kaum gesehen hatte, und kam sich vor allem wieder jung vor. So banal das klang. Würde eine ihrer Freundinnen sich so geäußert haben, dann hätte Ruth ihr einen Rückfall in pubertäres Verhalten attestiert, ohne wirkliches Verständnis aufbringen zu können. Psychologin, die sie war, hin oder her. Wie schon gesagt, Verliebtheit war zu banal für ihre Verhältnisse. Normalerweise.

Ruth setzte den Blinker und fuhr kurz vor dem Verteilerkreis auf die Stadtautobahn Richtung Südstadt. Als Erstes würde sie einen Kaffee trinken gehen. Danach ihre Reisetasche in Oskars Wohnung vorbeibringen und ihm eine kurze Nachricht schicken, dass sie da war. Und dann? Museum oder Rhein? Beides war verführerisch. Zumal er am Telefon davon gesprochen hatte, dass die ersten Bäume blühten.

Sie bog in die Straße ein, in der ein Café lag, in dem sie gerne ihren Cappuccino tranken, als ihr Handy klingelte. Oskars Nummer erschien auf dem Display. Sie drückte den Knopf der Freisprechanlage.

»Hallo. Bist du gut gelandet?« Er wartete gar nicht ab, dass sie sich meldete.

»Wenn du den Verteilerkreis als Bonner Flughafen betrachtest, dann ja. Den kann man mit seiner Stange kaum verfehlen.«

»Das ist nun mal verbindende Kunst. Köln hat an seinem Verteiler das Gegenstück.«

Ruth schnaufte gespielt. »Ich weiß. Und ja, es soll Kunst sein. Habe ich verstanden.«

»Nicht? Du bist doch die große Kunstexpertin von uns beiden.«

»Das glaubst du.«

»Nun, ich kenne wenige Leute, die so viel zeitgenössische Malerei an ihren Wänden haben wie du. Und deine eigenen Werke …«

»Versuche, meinst du wohl. Nicht Werke.«

»Stell dein Licht nicht unter den Scheffel, Frau Keiser mit Ei. Ich habe mich in die selbstbewussteste und in sich ruhendste Frau, die mir seit Langem untergekommen ist, verliebt.«

»Da muss eine Verwechslung vorliegen, das kann nicht ich gewesen sein«, raunte Ruth, die sich trotz allem über seine Worte freute.

»Never ever. Und das weißt du auch.«

»Vielleicht. Das musst du mir später noch einmal persönlich sagen.«

»Das werde ich, darauf kannst du wetten. Warte nur ab.« Seine Stimme hatte sich abgesenkt. Ruths Körper kribbelte.

»Vielleicht sollte ich doch lieber nach Osnabrück zurückfahren.« Dass sie bei ihren Worten verträumt lächelte, bemerkte sie erst, als sie der Mann neben ihr an der roten Ampel anfangs irritiert anschaute, dann aber mit einem Winken reagierte. Schnell drehte sie den Kopf beiseite.

»Unterstehe dich. Ich habe uns ein schönes Wochenendprogramm zusammengestellt. Lass dich mal überraschen. Ganz viel Kunst und Kultur dabei, aber keine roten Stangen.«

»Na, das beruhigt mich ja ein wenig. Dann sollte ich vielleicht heute noch nicht ins Museum? Ich hatte mir das Macke-Haus vorgenommen.«

»Doch, doch. Mach ruhig. August Macke habe ich nicht geplant. Bei mir wird es übrigens heute länger, dafür muss ich morgen nur kurz in die Redaktion. Ach ja: Ich habe von einer Nachbarin ein Fahrrad für dich abgestaubt. Steht bei mir im Keller. Der Schlüssel dafür hängt am Bord neben der Tür. Ist beschriftet.«

»Das ist ja genial. Kannst du Gedanken lesen? Dann mache ich beides. Museum und mit dem Fahrrad am Rhein entlang.«

»Hört sich nach einem guten Plan an.«

»Finde ich auch.« Sie räusperte sich kurz. Manche Sätze fielen ihr immer noch schwer. »Übrigens, habe ich es schon gesagt? Ich freue mich auf dich. Sehr.«

Bevor er antworten konnte, beendete sie die Verbindung. Verliebtsein war kein Zustand, der ihr leichtfiel. Aber sie würde sich hoffentlich daran gewöhnen.

*

»Was soll das denn? Haben Sie eine Erklärung dafür?« Schneyder richtete sich auf.

Martin fuhr sich über seine Bartstoppeln und genoss das leicht kratzende Geräusch, das ihn stets beruhigte. »Bisher nicht. Ist schwer einzuordnen bei so einer oberflächlichen Betrachtung. Vielleicht können die Kollegen von der Kriminaltechnik uns etwas mehr dazu sagen.«

»Aber auch auf den ersten Blick seltsam. Diese Kombination aus Schriftpapieren, die wie offizielle Dokumente wirken, einem toten Fisch und einer venezianischen Pestmaske. Das sieht verdammt nach Statement aus.«

»Das vermute ich auch, meine Herren.« Eine Frau, Mitte 30, mit sehr weißen Zähnen strahlte Martin an, als würde sie gerade den Small Talk auf einer Cocktailparty unterbrechen. »Hallo, ich bin Theresa Westerkamp, diensthabende Rechtsmedizinerin.« Sie hielt die behandschuhten Finger hoch wie im Operationssaal. »Hände schütteln gerne ein andermal.«

Gert Schneyder lächelte. »Theresa und ich haben schon den Ruf, miteinander verbandelt zu sein, so oft trifft es uns gleichzeitig bei den Bereitschaftsdiensten. Wie sagen wir dazu gern: ›It’s a match again.‹«

Die beiden strahlten sich dermaßen an, dass Martin verlegen zur Seite sah. Er war ja nicht spießig, aber irgendwie fand er das Verhalten etwas pietätlos. Deswegen räusperte er sich laut, nannte seinen Namen und seine Funktion auf Norderney und fragte dann geradewegs: »Ihre Bemerkung eben. Dass Sie das auch vermuten. Können Sie das näher erklären?«

»Ja, selbstverständlich.« Frau Westerkamp pustete sich ihren Pony aus den Augen und schüttelte leicht den Kopf, sodass ihr Pferdeschwanz von einer Seite auf die andere schaukelte. »Wenn Sie sich die Tote genauer anschauen, werden Sie wissen, was ich meine. Sie sind bisher wegen der Spuren auf Abstand geblieben? Vorbildlich, das muss ich einmal sagen.«

Der fröhliche Plapperton der Ärztin irritierte Martin weiterhin. Trotzdem bemühte er sich um Freundlichkeit und Professionalität. »Der Notarzt hat den Tod festgestellt. Ja, und er hat eine Bemerkung gemacht, dass es wirke, als sei die Tote ausgestellt. Genau dieses Wort hat er benutzt: ausgestellt.«

»Das trifft es auch meiner Ansicht nach ganz gut. Sie werden wissen, dass es sich um eine Schussverletzung handelt. Nach allem, was wir von außen sehen, mit letalem Schusskanal. Nach erstem Augenschein würde ich eher von einem Fremdverschulden als von einer Selbsttötung ausgehen. Aber Vorsicht: Nur aufgrund von Erfahrungswerten.«

Was mochten das für Erfahrungswerte sein, fragte sich Martin. Allzu lange konnte die Ärztin noch nicht in ihrem Fachgebiet tätig sein, oder er unterschätzte ihr Alter. Trotzdem musste er ihre Aussagen akzeptieren.

»Das Statement?«, erinnerte er sie an ihre Ausgangsaussage.

»Ach ja. Also zweierlei. Über die Brust verläuft diagonal eine Schärpe, wie Würdenträger sie tragen. Sieht aber so aus, als wenn sie nur aufgelegt worden sei. Nach dem Schuss, denn sie liegt über der Wunde, ohne dass das Projektil durch sie hindurchgegangen wäre. Durch die massive Blutung hebt sie sich kaum von der schwarzen Kleidung der Toten ab. Wenn ich das richtig sehe, gibt es auch eine Beschriftung, goldene Buchstaben, wenn mich nicht alles täuscht. Sagt Ihnen das etwas?«

Martin zuckte mit den Schultern. »Nein. Bei Würdenträgern stelle ich natürlich einen Zusammenhang her. Dass es sich bei der Toten vermutlich um unsere Bürgermeisterkandidatin handelt, wissen wir, aber sie war noch nicht gewählt. Außerdem trägt der Norderneyer Bürgermeister meines Wissens keine Schärpe.«

»Gut. Oder nicht gut. Könnte auf jeden Fall etwas zu bedeuten haben.«

Martin sah, wie Gert Schneyder mit einem Lächeln auf die Rechtsmedizinerin schaute. Sie hatte jedenfalls Ehrgeiz und schien neben ihrer originären Aufgabe die kriminalistische Fallarbeit miterledigen zu wollen.

»Du hast aber von zweierlei Dingen gesprochen«, versuchte Schneyder, die Ärztin auf die Spur zu bringen.

»Richtig. Das ist sogar noch eindeutiger. Auf dem Oberschenkel der Frau liegt eine Spielkarte. Sie könnte ihr aus der Hand gefallen sein.«

»Eine Spielkarte?«, fragte Martin nach. »So was wie eine Kreuz sieben oder ein Herz Ass?«

»Nein, nein.« Erneut wippte der Pferdeschwanz von einer Seite zur anderen. »Keine Skat- oder Canastakarte, oder wie man die nennt. Nein, so etwas Düsteres. Magisches. Ich glaube, es ist eine Tarotkarte. Ich kenne den Begriff, habe aber noch nie welche in der Hand gehabt.«

»Dass ich das noch erleben darf«, entfuhr es Schneyder. Martin sah ihn genauso erstaunt an, wie es Theresa Wes­terkamp tat.

»Was meinst du?«

»Dein Eingeständnis, etwas nicht zu wissen oder zu kennen.«

»Blödmann«, entfuhr es der jungen Frau, und Martin konnte nachvollziehen, warum den beiden eine Affäre angedichtet wurde. Sicherlich nicht allein wegen übereinstimmender Dienstpläne.

»Seltsam, wirklich seltsam«, bemühte er sich, wieder mehr Ernsthaftigkeit herzustellen. »Auf all das kann ich mir keinen Reim machen. Frau Mertens hat nun beileibe keinen Ruf, obskuren Ideologien anzuhängen. Im Gegenteil. Sie ist bekannt für eine sehr saubere und objektive Analyse und hat einen eher akademischen Stil. Sie war Naturwissenschaftlerin. Da fällt es mir schwer, einen Zusammenhang zu Tarotkarten herzustellen.«

»Eine Bedeutung wird es haben.« Gert Schneyders Miene verhärtete sich plötzlich. »Es ist doch so: Der Täter oder die Täterin hätte das Opfer einfach erschießen können.« Er hob die Hand. »Bitte nicht missverstehen. Einfach bedeutet hier, ohne dass er Hinweise hinterlässt. Also: Warum sollte ein Täter so etwas machen?«

»Um seine Visitenkarte zu hinterlassen«, kommentierte Theresa Westerkamp blitzschnell.

»Kann man machen«, antwortete Martin. »So etwas kommt vor. Allerdings erhöht der Täter mit jedem ausgelegten Hinweis das Risiko, dass er Spuren hinterlässt oder wir Verbindungen herstellen können.«

»Es sei denn, er fühlt sich intellektuell überlegen und möchte das in einem Katz-und-Maus-Spiel demonstrieren.« Frau Westerkamp blitzte ihn mit ihrem Lächeln an. Der Wortwechsel machte ihr sichtbar Spaß. So ein Täterprofil würde auch auf sie passen, dachte Martin einen winzig kleinen Moment gehässig.

»Vielleicht ist es eine politische Botschaft, die dahintersteckt. Wenn es um den Wahlkampf geht, bekommt das Ganze eine Dimension, die ich Ihnen nicht wünsche.«

»Ich glaube das nicht«, wandte Martin ein. »Politische Dimension! Was soll das sein? Wir sind auf Norderney. Hier geht es nicht um große Posten oder die Weltwirtschaft. Nein, nein. Ich glaube, da steckt was anderes hinter.«

Gert Schneyder sah wieder auf seine Finger. »Also absichtlich falsche Spuren statt offensichtlicher Statements?«

»Meine Herren, wir lassen die KTU ran. Ich liefere bis morgen Mittag Ergebnisse, dann sehen wir weiter. Bis dahin habe ich mich in die Materie der magischen Prophezeiungen eingearbeitet.«

Martin stöhnte auf und fing sich einen missbilligenden Blick von Schneyder und Westerkamp ein.

»Schon gut.« Er hob abwehrend die Hände. »Ich habe nichts gesagt. Ich kümmere mich währenddessen um die Kinder. Denn das ist das Tragischste an der Geschichte. Dass Frau Mertens zwei minderjährige Kinder hinterlässt. Ach ja. Meine Kollegen und unsere Wache stehen Ihnen selbstverständlich zur Verfügung, Herr Schneyder. Also dann. Man sieht sich.«

*

»Sie sind sich sicher, dass es die Mutter der Kinder ist?«

Martin hatte den Namen der Mitarbeiterin vom Jugendamt, die ihm die Frage stellte, schon vergessen, so rotierten seine Gedanken, seit er in der Wohnung von Frau Mertens angekommen war. Eigentlich wäre es Schneyders Aufgabe gewesen, mit den Kindern und dem Amt zu sprechen. Aber da er nicht gleichzeitig überall sein konnte, hatten sie besprochen, dass Martin übernahm. Als die Kinder vor ihm gestanden und ihn mit Fragen überfallen hatten, ob er etwas über die Mutter wisse, hatte er die Angst in ihren Augen lesen können.

 

»Wir reden gleich«, hatte er zu den Kindern gesagt und dann zuerst mit seiner Kollegin Nicole gesprochen. Diese hatte Tränen in den Augen, als er den aktuellen Stand zusammenfasste.

»Glücklicherweise ist bisher nichts über die Handys der Kinder reingekommen. Davor hatte ich die meiste Angst. Wir werden es den Kindern sagen müssen, bevor das auf der Insel rund ist.«

»Bisher ist anscheinend nichts durchgedrungen. Wir haben den Planetenweg weiträumig abgesperrt. Sicher haben viele mitbekommen, dass etwas passiert ist, aber noch nicht, was und wer.«

»Darauf möchte ich mich nicht verlassen«, hatte Nicole erwidert, bevor sie zu den Kindern zurückgekehrt war. Die Kinderzimmertür hatte sie zu sich herangezogen und sich herumgedreht. »Die armen Kinder.« Den einen Satz nur, in dem alles lag. Das Leid, das nie mehr gutzumachen wäre.

Nun saß Martin der Sozialarbeiterin gegenüber und hörte ihre Frage, ohne den Inhalt zu verstehen.

»Ob es sicher ist, dass es sich um Frau Mertens handelt, Herr Ziegler.« Sie legte ihm die Hand auf den Arm, wohl, um seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. »Ich kann nicht lauter reden. Die Kinder.« Sie deutete mit dem Kopf zur Tür.

Martin nahm sein Gegenüber jetzt erst bewusst wahr. Wie jung sie schien. Mitte 20 höchstens. Für ihn unverständlich, dass man in so einem Alter auf dem Jugendamt arbeitete und Eltern beriet. Aber das war anscheinend die sich verändernde Perspektive, die sich mit Fortschreiten des eigenen Alters verschob. Auch Annes Kollegen im Krankenhaus schienen ihm manchmal halbe Kinder zu sein. Und bei der Polizei – kaum vorstellbar, wie jung er in seinen Anfängen gewesen war.

»Herr Ziegler!« Er hörte, dass ihre Stimme panisch wurde.

»Ja. Ja. Anwesend. Und ja. Wir sind uns sicher. Das charakteristische Muttermal, das Frau Mertens neben dem Auge hatte, ist eindeutig. Und überhaupt.« Er deutete vage durch den Raum. »Was sollte das für ein Zufall sein?«

»Stimmt. Die Kinder haben mir erzählt, dass sie nie allein waren. Obwohl der Junge, Mattis, durchaus auf seine Schwester hätte aufpassen können«, sagte er. Die Sozialarbeiterin lächelte. »Aber entweder war die Nachbarin informiert oder eine Art Nanny engagiert. Anscheinend sogar ziemlich oft, gerade in der letzten Zeit. Jasmin Molitor. Sagt Ihnen das was?«

Ziegler überlegte, verneinte dann. »Aber das lässt sich rausbekommen.«

»Wäre nicht schlecht, wenn es jemanden gäbe, zu dem die Kinder Vertrauen haben. Wenn wir es ihnen sagen.«

»Das wollen Sie übernehmen?« Martin hörte den Zweifel in der eigenen Stimme. Es sollte nicht so abwertend klingen, wie es das tat.

»Ich überlege noch.« Die Sozialarbeiterin schien es ihm nicht übel zu nehmen. »Ich telefoniere gleich mit meiner Dienststellenleiterin.«

»Wie geht’s denn überhaupt weiter? Sollen wir nicht die Suche nach Angehörigen in die Wege leiten?«

»Schwierig. Der Vater scheint tot zu sein.«

»Tot?« Martin hatte den Eindruck, etwas falsch verstanden zu haben.

»Sie wissen nichts Näheres über den Familienstand von Frau Mertens?« Die Sozialarbeiterin hatte einen Block mit eingehaktem Kugelschreiber aus einer überdimensional großen Segeltuchtasche gezogen.

»Nein, wieso sollte ich?«

»Nun ja, so groß ist die Insel nicht.«

»Unterschätzen Sie das mal nicht. Die Norderneyer unter sich, die kennen sich. Aber Frau Mertens war zugezogen.«

»Mattis, der Sohn, erzählte, dass seine Mutter Bürgermeisterin werden will.« Sie stockte. »Wollte, muss ich sagen. Da wird doch einiges über sie bekannt gewesen sein.«

»Klar, das schon. Vor allem die Tatsache, dass sie als Alleinerziehende kandidiert, hat den Konservativen nicht gepasst. Übrigens waren in der Hinsicht beide Gegenkandidaten konservativ.« Letzteres hatte er leise vor sich hingemurmelt, weil es ihm plötzlich als etwas in den Sinn kam, dem nachzugehen sich im Rahmen der Ermittlungen lohnen würde. Was für verschwurbelte Gedanken, schalt er sich selbst. Manchmal dachte er im Beamtenjargon. Er versuchte, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. »Alleinerziehend, ja, das war ein großes Thema. Ich wäre allerdings nie auf die Idee gekommen, dass Frau Mertens verwitwet ist. Von so was geht man in dem Alter einfach nicht aus. Witwe – das ist was für alte Frauen.«

Die Sozialarbeiterin lächelte zum ersten Mal und sah dadurch erschreckenderweise noch jünger aus. Martin ärgerte sich, dass er ihren Namen vergessen hatte. Peinlich, später nachfragen zu müssen. Fürs Protokoll würde es sich nicht vermeiden lassen.

»Aber was viel schlimmer ist«, spann er den Gedanken an Frau Mertens weiter, »sie sind dann Vollwaisen.«

»So ist es. Leider.«

»Was machen wir nun mit den Kindern?«

»Wir –«, sie atmete aus, »das heißt, ich werde die Kinder wohl in Obhut nehmen müssen.«

»Aber es wird doch irgendjemanden geben, der beiden nahe steht.«

»Bestimmt.« Die Sozialarbeiterin schien nun ihn beruhigen zu wollen, so tief und nachdrücklich, wie sie dieses eine Wort aussprach. »Nur, wenn das niemand ist, der in den nächsten Stunden hier sein kann, wird es schwierig. Ich kann die Kinder ja nicht alleine zurücklassen.«

»Schon richtig. Haben denn die beiden nichts gesagt, wen wir verständigen können?« Alles in ihm wehrte sich, die Tatsachen anzuerkennen. Die armen Kinder – wie recht Nicole damit hatte.

»Sie ahnen ja noch nichts. Im Moment hoffen sie einzig und allein, dass ihre Mutter bald zurückkommt.«

Martins Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Ein Gefühl, das er seit Kindertagen in bedrohlichen Situationen hatte. Wie gern würde er dem Jungen und dem Mädchen all das ersparen, was auf sie zukam.

»Aber mein vorsichtiges Herantasten hat eher gezeigt, dass es niemanden in der Nähe gibt. Außer der Nachbarin und dieser Nanny. Nichts, was uns im Augenblick helfen könnte.«

»Oh Mann!« Martin schlug die Hände vors Gesicht.

»Die Erfahrung zeigt, dass fast immer jemand da ist, der die Kinder auf lange Sicht wird nehmen können. Das klassische Waisenkind von früher, das elternlos und ungeliebt im Heim aufwächst, gibt es kaum noch. Meist finden sich Verwandte oder Paten. Aber dafür brauchen wir Zeit. Deswegen werde ich jetzt mit meiner Dienststellenleiterin sprechen. Sie muss versuchen, zwei Notfallplätze zu sichern. Danach werden wir es den Kindern sagen müssen.«

»Ja, sicher.«

»Sie helfen mir, Herr Ziegler? Sie lassen mich dabei nicht im Stich, hoffe ich.«

»Nein, nein, natürlich nicht. Ich muss nur den Leiter der Mordkommission verständigen. Vielleicht will er ja …«

Aber es war, wie er es sich schon gedacht hatte. Gert Schneyder wollte nicht. »Das ist bei Ihnen in guten Händen, Herr Kollege.« Martin legte fluchend auf. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als an einem weit entfernten Ort ein Leben fernab des Polizeidienstes führen zu können. Er würde darüber nachdenken. Und mit Anne reden. Heute Abend. Ganz gewiss.

*

»Das ist doch nicht wahr, was Sie mir erzählen. Bitte sagen Sie, dass es ein verdammter Albtraum ist, in dem wir uns befinden.«

»Dass es ein Albtraum ist, kann ich Ihnen gerne bestätigen.« Gert Schneyder war hinter dem Stuhl stehen geblieben, den der amtierende Bürgermeister ihm zugewiesen hatte. »Allerdings keiner, aus dem wir mal eben so aufwachen werden.«

Martin stand weit hinten in der Tür und hörte die beiden in dem überfüllten Raum mehr, als dass er sie sah. Er ließ seinen Blick über die Anwesenden schweifen. Die konkurrierenden Bürgermeisterkandidaten mit jeweils einem weiteren Parteimitglied, der engste politische Kreis aus der Zukunfts- und Umweltpartei von Frau Mertens, der Kurdirektor. Mühselig hatte man aus den Nebenzimmern Stühle herbeigetragen, nur seine Mitarbeiterin Nicole und er selbst hatten abgewunken.