Berufen statt zertifiziert (E-Book)

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Die Geschichte des Ausbildungssystems

Der Mensch ist der zentrale Produktivfaktor im kapitalistischen Gefüge, so lautet also das herrschende Paradigma, wie es sich im 19. Jahrhundert ausprägt und im 20. Jahrhundert zur Richtschnur allen bildungspolitischen Handelns wird. Dabei stellt sich immer wieder von Neuem die Frage: Wie schafft es eine Gesellschaft, dass möglichst viele Menschen eine Berufsfähigkeit erlangen, die volkswirtschaftlich sinnvoll und individuell leistbar ist? Die Antwort lautet bis in heutige Zeiten hinein: Durch Bildung, ist doch klar. Aber diese «Bildung» auf die Berufsfähigkeit zu reduzieren ist immer wieder Stein des Anstoßes – im deutschsprachigen Raum. Mit Vermerk auf das Humboldt’sche Bildungsideal wird der Bildungsbegriff in hiesigen Kreisen gerne etwas verklärt:

«SOVIEL WELT ALS MÖGLICH IN DIE EIGENE PERSON ZU VERWANDELN, IST IM HÖHEREN SINN DES WORTES LEBEN.»

Wilhelm von Humboldt

Bildung gelte es demnach unabhängig von wirtschaftlichen Interessen zu denken, damit die Menschen mittels Kunst und ganzheitlicher Ausbildung sich selbst in Bezug zur Welt setzen und sich somit entsprechend ihrer inneren Potenziale entfalten können. Klingt gut und humanistisch, aber um mit Bertolt Brecht zu sprechen:

«ERST KOMMT DAS FRESSEN, DANN DIE MORAL.»

Bertolt Brecht

Humboldt war Aristokrat mit einem Hang zur Exzentrik. Entsprechend war sein Ideal von Beginn an eine bildungsbürgerliche Attitüde, die sich vor allem an die Elite richtete. Nicht alle Menschen haben die Muße, sich entsprechend ihrer inneren Potenziale zu entfalten. Das Gros der Menschen arbeitet vielmehr irgendwas, um Geld zu verdienen und die Familie zu ernähren. Und dazu braucht es bis in heutige Zeiten hinein meist entsprechende Ausbildungen, um einen besser dotierten Job zu finden. Mehr «Berufung» ist da selten. Humboldt hin oder her.[12]

Berufsfähigkeit in diesem Sinne ist also das herrschende gesellschaftliche Paradigma, um das eigene Überleben würdevoll zu gestalten. Im Hintergrund wirken die eigentlichen zentrifugalen Mächte: Es geht darum, die Volkswirtschaft weiter auszubauen und «Wohlstand zu schaffen», wie es so schön heißt. Was braucht es also für eine Ausbildung, um in diesem Sinne langfristig beruflich handlungsfähig zu sein?

Eine über eine längere Ausbildung generierte «Berufsfähigkeit» zeichnet sich durch folgende Aspekte aus:[13]

1Eine qualifizierte Tätigkeit kann später selbstständig ausgeübt werden.

2Mit den Fähigkeiten lassen sich verschiedene Tätigkeiten ausführen und Funktionen ausfüllen.

3Eine permanente Befähigung zur Weiterbildung sollte gegeben sein, um berufliche wie persönliche Aspekte weiterzuentwickeln.

Aus diesen persönlichen Voraussetzungen leiten sich dann weitere historisch erkämpfte Kriterien für die Berufsausbildung ab:

4Eine überbetriebliche Qualifizierung ermöglicht es, einen Betrieb auch wechseln zu können.

5Durch eine Einheitlichkeit in der Berufsausbildung lassen sich die in den Abschlüssen fixierten Fähigkeiten leichter in das Tarif- und Sozialrechtssystem integrieren. Daraus folgt ein höheres Maß an sozialer Sicherheit.

Von diesem sozialpolitischen Anspruch ausgehend entwickelt sich im Laufe der Zeit ein ausgeklügeltes Aus- und Weiterbildungssystem der Berufsbildung, das maximal machtpolitisch entlang der verschiedenen Interessenvertretungen geprägt ist, die bis heute die Zügel fest in den Händen halten. Oft zum Leidwesen vieler. Später mehr …

Bildungspolitisch relevante Interessenvertretungen in Deutschland:

—Kultusministerkonferenz (KMK)

—Berufsinstitut für Berufsbildung (BIBB)

—Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK)

—Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA)

Neben der formalen Qualifikation für einen konkreten Beruf etabliert sich auf der anderen Seite ein ausdifferenziertes System an Hochschulen, das heutzutage auch auf den Arbeitsmarkt ausgerichtet ist. Allerdings weniger orientiert an der aktuellen, alltäglichen beruflichen Praxis denn an zukünftigen Optionen. Im Idealfall.

—Den Selektionsprozess, wer in die Hochschulen und wer in die berufliche Ausbildung gelangen kann, verdanken wir in Deutschland dem hierarchischen dreigliedrigen Schulsystem, das die Bevölkerung schon in sehr jungen Jahren grob differenziert in Hauptschule, Realschule und Gymnasium.[14]

—Wie problematisch eine solche frühzeitige Ausmusterung bestimmter Bevölkerungsgruppen für deren Selbstwertgefühl ist, vermag man nachempfinden zu können. Entsprechend umstritten ist dieses Verfahren auch seit dem Entstehen der Reformpädagogik.[15]

—In der Schweiz verfährt man hingegen anders, eher so, wie es W. v. Humboldt ursprünglich auch für deutsche Schulen vorsah. Dort bauen Schulstufen aufeinander auf. Erst später entscheiden sich die Heranwachsenden, welchen Weg sie fortan gehen möchten. In der Folge sind dort bis heute die berufspraktischen Ausbildungswege sehr angesehen.


Das formale deutsche Bildungssystem[16]

Wir sehen hier, wie sich der Aufbau der beiden Bildungssysteme grundlegend ähnelt. Gleichzeitig wird die systemische Benachteiligung im deutschen System, ausgelöst durch die Sekundarstufe I, direkt erkennbar.


Das schweizerische Bildungssystem[17]

—Zudem verstärkt sich der Selektionsprozess in Deutschland durch die soziale Herkunft, die beeinflusst, inwiefern ein «Aufstieg» durch das Bildungssystem und damit in durchschnittlich besser dotierte Jobs verhindert, erschwert oder begünstigt wird.

—Von 100 Nichtakademikerkindern in den Grundschulen beginnen «nur» 21 ein Studium, 8 von ihnen gelangen bis zum Mastertitel und lediglich 1 Person schafft es bis zur Promotion.

—Demgegenüber schaffen es 10 von 100 Kindern aus einem Haushalt mit mindestens 1 Akademiker*in bis zur Promotion und 63 Prozent absolvieren zumindest ein Bachelor-Studium.[18]


Bildungschancen von Nichtakademiker*innen- und Akademiker*innen-Kindern[19]

—Auch in der Schweiz existiert eine Chancenungleichheit hinsichtlich der sozialen Herkunft, sie ist aber nicht ganz so ausgeprägt wie in Deutschland.

—Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Akademikerkind eine Hochschule besucht, liegt in der Schweiz 1,2 Mal höher als bei einem Nichtakademikerkind.[20] Jedoch ist der anschließende soziale Aufstieg in der Schweiz weniger durchlässig als in Deutschland.[21]

—Dabei wird Ungleichheit nicht primär aufgrund der Einkommensunterschiede empfunden, sondern aufgrund der mangelnden Fairness, sich sozial mobil weiterbewegen zu können. Hier bietet Deutschland wiederum bedingt bessere Konditionen.[22]

Aber wie konnte es zu all dem kommen?

Die Bedeutung der Hochschulen

Bildungsgeschichte muss zunächst mit den Hochschulen starten, denn Universitäten gibt es schon lange.

—Ab dem 6. Jahrhundert n. Chr. geben Mönche und Nonnen Unterricht in den mittelalterlichen Kloster- und Domschulen. Daraus gehen die ersten scholae publicae hervor. Diese werden zum einen staatlicherseits von wenig zufriedenen Prälaten auf der Reformsynode zu Paris und dem Reichstag zu Worms (beide 829) gefordert, zwecks «Heranbildung tüchtiger geistiger Lehrer»[23]. Zum anderen werden sie auch aus eigenem Antrieb von Klosterschulen aufgebaut, die durch deren guten Ruf entsprechend attraktiv für viele talentierte, junge Kleriker sind– so zum Beispiel die Schulen in Fulda und St. Gallen. (Letztere bildet bis zur Säkularisation des Klosters 1803/1805 sowohl Novizen als auch weltliche junge Menschen aus. Seit 1898 setzt die Universität St. Gallen den guten Ruf des Klosters als säkulare Bildungsstätte fort.)

—Auch im Nahen Osten entwickeln sich aus den Koranschulen heraus schon früh erste Hochschulen. Die 859 gegründete Universität al-Qarawiyin in Fès (Marokko), die al-Azhar-Universität (972) in Kairo und die al-Nizamiyya Universität (1065) in Bagdad gelten als erste bis heute noch tätige Universitäten der Welt.

—Als erste Universitäten in Europa entstehen die Rechtsschule von Bologna (1088) und die Medizinschule von Salerno (1057). Ab dem 12. Jahrhundert breitet sich dann eine Gründungswelle aus mit Paris (1150), Oxford (1167), Cambridge (1209), Salamanca (1218), Montpellier (1220), Padua (1222) und vielen weiteren.

—Im deutschsprachigen Raum gilt die Prager Karlsuniversität als die älteste «deutsche» Universität, weil diese 1348 durch den römisch-deutschen Kaiser Karl IV. gegründet und von sächsischen und bayerischen Studierenden gern besucht wurde. Innerhalb der heutigen politischen Grenzen gilt Wien (1365) als die älteste Universität des Staates Österreich, Erfurt (1379/1392) und Heidelberg (1386) als die ältesten Universitäten der Bundesrepublik Deutschland und Basel (1460) als die älteste Universität der Schweiz.[24]

 

Über die Jahre und Jahrzehnte hat sich das Hochschulsystem dann immer weiter ausdifferenziert. Heute existiert eine Vielzahl an Universitäten, Fachhochschulen, Kunst- und Musikhochschulen und Akademien, entweder staatlich, privat oder kirchlich getragen. Im Jahre 2020 stehen in Deutschland 505 unterschiedliche Hochschulen zur Auswahl; in der Schweiz existieren 45 anerkannte oder akkreditierte Hochschulen.

—Ein Studienabschluss gilt für viele Anstellungen als Einstiegsbedingung, um eine erfolgreiche Karriere anzugehen. Dabei ist die konkrete Auswahl der ersten Hochschule im deutschsprachigen Raum eher vernachlässigbar für die zukünftige Berufswahl. Wichtiger sind die darauffolgenden Karriereschritte im Lebenslauf, die sich idealerweise entlang renommierter Institute und Unternehmen vollziehen sollten.

—Allerdings orientiert man sich auch in hiesigen (pseudo-)elitären Kreisen gerne am Leuchtturm USA. Dort gelten die Ivy-League-Universitäten (Harvard et. al.) mit ihren hohen Semestergebühren als Hort vor allem für Elitekinder, ergänzt um wissenschaftlich talentierte Unter- und Mittelschichtkinder.[25] Hauptanliegen dieser Hochschulen ist nicht nur einen konkreten Abschluss zu fördern, sondern vielmehr die globale Vernetzung zu fördern. Dabei erfahren die Studierenden den Geruch des gestaltenden Weltbürgertums, das den Anspruch erhebt, gewisse Statuspositionen in Politik und Wirtschaft einzunehmen und entsprechende Seilschaften mitzubringen.[26]

—Dieses symbolische Kapital, dessen Aneignung selbstverständlich nicht Teil der formalen Grundausbildung ist, wird als eine Art Geheimwissen der Elite quasi unter der Hand vermittelt. Daneben existiert das bürgerliche Spiel der Netzwerke und Beziehungen.

—Ein Universitätsabschluss gilt dabei als selbstverständliches Merkmal, mit dem suggeriert wird, dass Aufgaben auch jenseits der Sinnhaftigkeit erfolgreich zum Abschluss gebracht werden können. Mit dem späteren Job braucht er unter Umständen kaum etwas zu tun zu haben. Diesen erlernt man bekanntlich on-the-job.

—Wie genau dies funktioniert und wie man sich selbstständig und selbstorganisiert darauf vorbereitet, ist wiederum nicht Teil des grundständigen Curriculums, sondern ergibt sich durch informelle Kreise, in die man zufällig hineingerät oder eben nicht.

Das formale Bildungssystem und die Wirklichkeit des beruflichen Alltags klaffen meilenweit auseinander. Zumindest in den allermeisten Fällen.

Universitäten als Männerdomäne

Um die heutige Welt mit ihren Wirkmechanismen zu verstehen, lohnt immer ein Blick zurück.

—Selbstverständlich ist das Studium bis zur Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert nahezu ausschließlich eine Angelegenheit für junge Männer.

—Es gibt jedoch Ausnahmen wie Dorothea Erxleben, die auf Befehl des preußischen Königs 1754 als erste Frau Deutschlands zur Promotion im Fach Medizin an der Universität Halle zugelassen wird. Das Know-how hatte sie sich im Do-it-yourself-Verfahren und im «Homeschooling», wie man heute sagen würde, angeeignet. Ihr Vater, ein Arzt, wies sie theoretisch wie praktisch in die Arbeit ein. Für ein formales Studium wurde sie nicht zugelassen; dementsprechend wurde sie nach ihrer Praxiseröffnung von den Ärzten angefeindet.

—Eine weitere Ausnahme bildet Dorothea Schlözer, die 1787 in einer nicht öffentlichen Prüfung in deutscher Sprache als erste Dr. phil. an der Uni Göttingen promoviert wird. Auch sie durfte nicht offiziell an den Vorlesungen ihres Vaters et. al. teilhaben und musste kreative Wege gehen, um daran zu partizipieren.[27] Das ändert sich im deutschsprachigen Raum erst langsam.

—In den USA können Frauen mancherorts dagegen ab 1833 studieren.

—Die Universität Zürich lässt 1864 als erste deutschsprachige Universität Frauen als ordentliche Studentinnen zu.

—In Deutschland hingegen können Frauen erst ab 1886 überhaupt ihr Abitur absolvieren. Auf massiven Druck der anwachsenden Frauenbewegung überlässt der Reichstag 1891 die Entscheidung über das Frauenstudium den Ländern. 1896 startet dann Preußen mit der Zulassung von Gasthörerinnen. Das Großherzogtum Baden folgt 1900 als erstes deutsches Land, dass Frauen als ordentlich Studierende an den Universitäten Freiburg und Heidelberg zulässt. So kann Mathilde Wagner 1901 in Freiburg als erste ordentlich immatrikulierte Studentin zum Doktor der Medizin promovieren. Ab 1919 steht Frauen dann auch die Möglichkeit zur Habilitation offen. Noch zwischen 1915 und 1917 scheitern in Göttingen mehrere Habilitationsversuche der hochbegabten Mathematikerin Emmy Noether, die damals mit Albert Einstein zusammenarbeitet.[28]

—Von Gleichstellung weiter keine Spur. 1934 wird mit einem Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen die Zahl der Hochschulzugangsberechtigten reichsweit auf 15 000 begrenzt. Nur maximal 10 Prozent dieser Studienplätze dürfen von Frauen besetzt werden.

—Ein Jahr später wird aufgrund des Mangels an Akademiker*innen am Arbeitsmarkt die Begrenzung für studierende Frauen wieder abgeschafft. Während des Zweiten Weltkrieges steigt der Frauenanteil an deutschen Universitäten auf über 50 Prozent. Aber danach sinkt der Anteil bis 1967 wieder auf 24 Prozent und ist damit im Vergleich mit anderen Ländern der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft am niedrigsten.

—Das Normalarbeitsverhältnis (NAV) sieht den Mann als finanziellen Kopf der Familie – im Grunde bis heute, trotz aller Diskussionen. Am fehlenden Berufswunsch der Frauen liegt es nicht. Bis 2006 steigt der Studentinnenanteil auf 50 Prozent.


Entwicklung des Studentinnenanteils in Deutschland von 1908 bis 2018[29]

—Mit einem Anteil von durchschnittlich 25 Prozent sind die Professorinnen dagegen sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz weiterhin unterrepräsentiert.


Anzahl der hauptberuflichen Professoren und Professorinnen an deutschen Hochschulen 1999 bis 2018[30]

Bis heute setzt sich dieser Gendergap in den Chefetagen diverser etablierter Institutionen und Betriebe fort. Die Welt ist weiterhin eine sehr männlich geprägte. Vorwiegend von Frauen ausgeübte, oftmals systemrelevante Berufe und Carearbeiten werden im sozialpolitischen Diskurs zwar gerne beklatscht, spielen im kapitalistischen Kräftespiel allerdings nur eine reproduzierende Rolle und werden daher nur schlecht oder gar nicht vergütet.

Unsere heilige duale Ausbildung

Dem Wechselspiel von Industrialisierung und Aufklärung ist es also zu verdanken, dass sich der Beruf als Drehkreuz der männlich konnotierten Gesellschaft etablierte. Das hatte für das elitäre Bildungsbürgertum einen euphorisierenden Charakter; weniger für die Mehrheit der Bevölkerung, für die das berufliche Denken eher mit Pflichterfüllung und sozialer Selbstbehauptung verbunden war.[31] Aber für das bürgerliche Milieu glich die Wahl des individuellen Berufes nicht mehr einer vererbten Einbahnstraße wie im Mittelalter, sondern man konnte sich frei, entsprechend der persönlichen Eignung und Neigung, für eine bestimmte berufliche Laufbahn entscheiden. Welche Freiheit sich daraus ergab …

—Diesem Anspruch versucht die heutige Gesellschaft immer noch gerecht zu werden, natürlich auch, weil das Bildungsbürgertum mit eben jenem Wertekanon an gesellschaftlich relevanten Positionen sitzt. Insofern wird dem aufklärerisch-liberalen Ideal, dass den beruflich Tüchtigen ein gewisser Aufstieg und eine gewisse Reputation in der Gesellschaft zusteht, weiterhin gefrönt. Nur durch die bezahlte Arbeit erfährt der Mensch in diesem Blick einen Sinn, diesen Refrain können wir wohl alle mitsingen. Indem man produktiver Teil des Fortschritts sei, verbänden sich individuelle Aufstiegshoffnungen mit finanziellen Zugewinnen und einer gesellschaftlichen Reputation, die den sozialen Status widerspiegelt – so heißt es. Also schaffe, schaffe, Häusle baue, nicht wahr?!

—Und so zieht in Deutschland wie in der Schweiz die selbstverständliche Verberuflichung der Arbeitswelt ihre Bahnen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert.

—In der Schweiz entscheiden sich zwei Drittel der Jugendlichen für eine berufliche Grundbildung. Darauf aufbauend erfolgt die höhere Berufsbildung mit spezialisierten Berufsqualifikationen und als Vorbereitung auf Führungs- und Fachfunktionen. Hier stehen circa 400 Berufs- und höhere Fachprüfungen sowie 55 Fachrichtungen an höheren Fachschulen zur Wahl. Die Berufsmaturität öffnet dann den Zugang zu einer Fachhochschule. Mit einer Ergänzungsprüfung ist sogar (!) ein Studium an einer Universität oder Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) möglich. Dabei basiert das Berufsbildungssystem auf der Dualität zwischen Theorie und Praxis. «Die Anforderungen an die einzelnen Abschlüsse der beruflichen Grundbildung und der höheren Berufsbildung werden von der Wirtschaft [über Berufsverbände / Branchenorganisationen / Trägerschaften] festgelegt. Diese orientiert sich am künftigen Bedarf des Arbeitsmarkts. Die Berufsbildungsangebote orientieren sich an tatsächlich nachgefragten beruflichen Qualifikationen und an den von den Unternehmen zur Verfügung gestellten Arbeitsplätzen.»[32]

—Die duale Ausbildung mit ihrem Anspruch, das Erlernen eines Berufs mit einer persönlichkeitsfördernden Allgemeinbildung in der Schule zu begleiten, eint das schweizerische und das deutsche berufliche Ausbildungsmodell. 1969 in Deutschland eingeführt, gilt die duale Ausbildung heute als Exportschlager. Viele Länder wünschen ein vergleichbares Modell. Dabei ist seit dem Ende des 20. Jahrhunderts die Erkenntnis im hiesigen Raum gewachsen, dass diese Fokussierung auf eine abgeschlossene berufliche Erstausbildung im Interesse eines lebenslangen Lernens wenig förderlich ist.[33]

In Deutschland ist man trotz dieser Diskussionen wenig reformbereit. Obwohl die gravierenden Probleme beim Übergang von der Schule in betriebliche Ausbildungen seit Jahren bekannt sind, und obwohl es alljährliche Passungsprobleme gibt im Hinblick auf offene Ausbildungsplätze, versucht die Politik weiterhin, möglichst viele, wenn nicht gar alle junge Menschen in einen Ausbildungsplatz zu lenken.[34] Das Berufsethos und die historisch gewachsene Ideologie der Berufung als Sinn des Lebens und Teilhabe an der Gesellschaft sitzt so tief in den tradierten Werten und machtpolitischen Gefügen, dass es davon kein Entkommen zu geben scheint. Immer wieder wird an der Ausbildungsorganisation kosmetisch geschraubt, jedoch seit Jahren versäumt, eine grundlegende Reform der beruflichen Aus- und Weiterbildung und/oder gesellschaftlichen Gestaltung anzugehen. Weder eine lang diskutierte Modularisierung und Differenzierung der Ausbildungen noch eine zuverlässige Anerkennung informell erworbener Fähigkeiten, die für berufliche Aufstiegsmöglichkeiten angerechnet werden können, ist bis heute grundlegend in Deutschland vorgesehen.[35] Weiterhin scheint das primäre Interesse der verantwortlichen Kammern zu sein, den Betrieben möglichst viele Azubis mit einer längerfristigen Verweildauer und geringem Salär zu überlassen.

So klingen solche Hoffnungen der Wissenschaft aus dem Jahre 2005 (!) für die damalige mittelfristige Zukunft aus heutiger Sicht weiterhin visionär: «Es kann folglich erst recht mit Bezug auf die ohnehin reduzierte Zahl der Ausbildungsplätze angenommen werden, dass ein modularisierter, flexibler Ausbildungsverlauf in Anlehnung an die individuelle Leistungsfähigkeit (potenzieller) Auszubildender, zunehmend Eingang in die gängige Ausbildungspraxis finden wird. Der fortschreitende Einfluss der Informations- und Kommunikationstechnologien wird es zudem begünstigen, dass sich die Anteile selbst gesteuerter zeitlich bzw. örtlich unabhängiger Lernprozesse sukzessive und sich folglich das Spektrum individueller Lernverläufe erweitern wird.»[36]

 

Den jungen Menschen selbst wird mit der dualen Ausbildung zwar formal ein humanistisches Bildungsideal und ein vergleichbarer Berufsabschluss mit viel Pathos im Interesse ihrer eigenen Zukunft zugebilligt. Inwiefern sie sich über ihre Erstausbildung aber tatsächlich für die Teilnahme am lebenslangen Lernprozess qualifizieren können, um sich an die sich verändernden Rahmenbedingungen kontinuierlich anpassen zu können, wird von vielen Experten und Expertinnen angezweifelt.[37]


To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?