Reiseziel Utopia

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Als sie gelandet waren, nahm Kerr allen Mut zusammen und schlüpfte aus dem Pod.

»Vielen Dank, Kerr. Der Betrag wurde abgebucht.«

Die Straße war leer. Der Schein der gelbweißen Straßenbeleuchtung erhellte sie zwar und die Stadt schickte eine trübe Helligkeit herüber, aber in praktisch keinem der Fenster war das Licht an. Wie unheimlich. In der Stadt brannte immer und überall Licht.

Gleichzeitig war alles so still.

Der Löwe strampelte in ihren Armen und sie setzte ihn auf den Boden. Mit zwei Sätzen war der Kleine um die nächste Ecke verschwunden.

»Warte!«, rief Kerr und rannte ihm hinterher.

Kaum war sie in die Straße eingebogen, prallte sie mit etwas zusammen, was sie auf ihren Hintern bugsierte.

»He!«, sprach eine raue Stimme über ihr.

Kerr schrie vor Schreck, sprang auf die Beine und hetzte in die andere Richtung davon. Sie wusste nicht, wovor sie wegrannte, aber sie spürte, dass man sie verfolgte. Auf einmal kam es ihr vor, als wäre der Boden aus Gummi. Sie strauchelte und fiel der Länge nach hin.

Sofort lagen Hände auf ihren Schultern und fassten sie grob an. Nur einen Moment später stand sie wieder auf den Füßen. Ein Mann hatte sie aufgestellt und redete auf sie ein, doch sie hörte nicht hin. Sie schüttelte vehement den Kopf und versuchte sich zu befreien.

»He«, drang es zu ihr durch. »Ganz ruhig.«

Der Griff um ihre Schultern lockerte sich, aber der Mann ließ sie nicht gehen. Als sie die Ausweglosigkeit erkannte, verharrte sie und wagte es, ihn direkt anzuschauen.

Er sah nicht aus wie ein Ausgestoßener. Sein Gesicht war jung und ernst, aber er hatte freundliche Augen und gar keine Narben oder so. Die Ausgestoßenen hatten nämlich keine Medizin, hatte sie gehört. War er möglicherweise gar keiner? Kerr konnte weit und breit keine Nanocloud sehen, also musste er doch einer von ihnen sein?

»Hast du dir weh getan?«, fragte er.

Kerr schüttelte nur den Kopf, ihren pochenden Hintern ignorierend.

»Hier.« Der Mann ließ sie los und hob etwas vom Boden auf. Dann streckte er ihr lächelnd ihren Roboterlöwen hin. Kerr nahm das Haustier entgegen und hielt es fest in den Armen.

»Keine Angst. Dir passiert schon nichts. Warum bist du so ...« Er blinzelte mehrmals verwirrt, als sein Blick auf ihre NanoBloxx fiel. Kerr begann unweigerlich zu zittern.

»Oh«, sagte er langgezogen. »Wie bist du denn hierher gekommen, Kleine?«

Erneut brachen Tränen aus Kerrs Augen und sofort ließ sich der Mann vor ihr auf die Knie nieder.

»Hast du dich verirrt?«

Kerr schüttelte den Kopf, versuchte, tief durchzuatmen, und strich sich dann die Tränen von den Wangen.

»Nein«, sagte sie mit so fester Stimme wie möglich. »Ich bin mit dem Taxipod gekommen.«

Der Mann lachte auf. »Mit dem Taxi? Aus der Stadt? Das hört sich nach einem echten Abenteuer an. Weißt du was, lass uns drinnen weiter reden.«

Er streckte ihr die Hand entgegen und mangels Alternativen ergriff sie Kerr. Er schien ihr nichts Übles zu wollen, nur weil sie die NanoBloxx dabei hatte.

Er führte sie zwei Straßen weiter und öffneten eine Tür für sie, ganz altmodisch mit einem externen Signal von seinem Handcomputer.

Fasziniert betrat Kerr einen Aufzug, der ohne Sprachsteuerung auskam, bis sie schließlich im Wohnzimmer in einer kleinen Wohnung standen.

»Ich bin Janier«, sagte der Mann und wies auf das Sofa.

Kerr setzte sich schüchtern, den Löwen immer noch an sich gepresst, obschon dieser sich los zu strampeln versuchte.

»Ich heiße Kerr.«

»Ich mach dir was zu trinken, Kerr. Möchtest du heißen Kakao?«

Sie nickte und Janier verschwand in einem angrenzenden Raum. Sie hörte die Geräusche, die sie aus veralteten Filmen kannte, wenn jemand mit manuellen Küchengeräten hantierte, das Knirschen, Knacken und Surren alter Motoren. Die ganze Wohnung sah irgendwie aus wie aus einem Film.

Kurz darauf setzte Janier eine dampfende Tasse vor ihr ab und platzierte sich mit einer eigenen ihr gegenüber auf einen Sessel.

»Also Kerr. Erzähl doch mal, warum du alleine in den Straßen von Basic unterwegs bist.«

»Basic?«, fragte sie und pustete in den Kakao.

Janier lächelte. »Irgendwer hat irgendwann damit begonnen, unser Quartier so zu nennen. Du weißt doch, wo du hier bist, oder?«

»Ja«, sagte sie langgezogen. »Bei den Ausgestoßenen.« Kaum hatte das Wort ihren Mund verlassen, verschüttete sie vor Schreck etwas Kakao.

Sie blickte Janier aus großen Augen an und hoffte, dass er ihr den Ausdruck nicht übel nahm.

Aber Janier lachte nur. »Ausgestoßene. Erzählt man sich diese Ammenmärchen immer noch in den Unterrichtsstunden? Faszinierend, wie beharrlich sich gewisse Dinge halten.«

Kerr biss sich auf die Lippen und sagte nichts. Janier beugte sich verschwörerisch zu ihr hinüber.

»Wir sind keine Ausgestoßenen. Jeder von uns lebt freiwillig hier. Und jeder darf auch zurück in die Stadt, wann immer er oder sie will.«

»Aber hier hat es so wenig Licht. Und keine Menschen auf der Straße«, sagte Kerr ungläubig.

»Das stimmt. Aber das ist so gewollt. Wir sind der Meinung, dass die Stadt schon hell genug leuchtet. Weißt du, dass man ganz weit außerhalb sogar die Sterne am Himmel sehen kann?«

Kerr schüttelte den Kopf.

»Außerdem haben wir Arbeits- und Ruhezeiten, die die meisten hier einhalten. In der Nacht sind darum nur wenige Leute unterwegs. Auch wegen der Wildhunde, die sich ab und zu hierhin verirren.«

»Hunde?« Kerr machte große Augen. »So richtige?«

»Ja. Sie finden hier Futter und Wärme und in der Nacht ist es ruhig, weshalb sie sich bis zu uns vorwagen. Wenn man weiß, welche Ecken man im Dunkeln meiden sollte, machen sie keine Probleme.«

»Oh«, sagte Kerr fasziniert. »Und warum lebt ihr so?«

»Es gefällt uns schlichtweg besser. Technik ist schön und gut, aber im Großen und Ganzen gibt es in der Stadt einfach etwas zu viel davon. Wir finden es so angenehmer und der Stadtrat hat keine Probleme damit.«

»Und die Nanocloud?«

»Haben einige von uns nie kennen gelernt, andere haben sich von ihrer trennen lassen, als sie hierherkamen. Ganz unterschiedlich.«

Bevor sie eine weitere Frage stellen konnte, hob Janier den Zeigefinger. »Jetzt bin ich an der Reihe, junge Dame. Warum bist du ganz alleine in einem Taxipod hierhergekommen?«

Kerr ließ sich tief in die Polster zurücksinken. Der Geruch von Kunstleder überschwemmte sie. Und was war das, was ihr in der Nase kitzelte? Staub? Wie ungewöhnlich für das Innere einer Wohnung. Sie bemerkte, wie ihre Gedanken abschweiften, und zwang sie zum Gespräch mit Janier zurück.

»Ich ... ich möchte bei euch leben. Ohne Nanocloud.«

Janier hob überrascht eine Augenbraue. »Du hast erst die Bloxx, warum weißt du, dass du gar nicht erst die Cloud willst?«

»Ich weiß es einfach«, antwortete sie trotzig.

»Ich verstehe.«

Für einen Moment starrten beide in ihre Tassen.

»Weißt du«, sagte Janier dann. »Wenn du später keine Nanocloud willst, lässt du dich einfach mit keiner koppeln. Aber es ist ziemlich schwierig, die Behörden zu überzeugen, dass du die Bloxx abstoßen möchtest.«

»Habt ihr sie euch denn nicht selber entfernt?«, fragte Kerr kleinlaut.

»Selber? Du meinst uns gegenseitig hier in Basic? Aber nein, warum sollten wir? Wir gehen zu den entsprechenden Zentren in der Stadt für sowas, wie alle anderen auch. Die machen das umsonst und wissen, wovon sie reden.«

Kerr sackte in sich zusammen und krallte die Hände ins Fell ihres Löwen. »Das heißt, ich kann nicht hier leben?«

Janier stand auf und ging um den Stubentisch herum zum Sofa hin. »Nicht ohne Einwilligung deiner Eltern. Das verstehst du doch sicher? Wissen sie denn, dass du hier bist?«

Kerr presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. Der Kloß in ihrem Hals schnürte ihr die Luft ab und Tränen füllten ihre Augen. Sie sprang auf die Beine und rannte zur Tür.

Das sollte alles viel einfacher sein!

»Kerr!«, rief Janier und lief ihr hinterher.

Doch sie wollte nicht mehr mit ihm reden. Sie wollte raus aus dieser stickigen Wohnung mit all dem Staub und weg aus Basic, wo man sie offenbar auch nicht haben wollte. Hinter ihr polterte es und sie hörte Janier fluchen.

Sie packte ihren Rucksack und eilte die Treppe hinab. Auf der Straße rannte sie ziellos in eine Richtung, nahm Gassen, überquerte Plätze und glaubte fest daran, irgendwann wieder in der Stadt ankommen zu müssen.

Sie lief und lief, bis sie schwer keuchte und ihre Beine sie nicht mehr tragen mochten. Sie befand sich an einer Kreuzung einiger schmaler Straßen, wo es nur spärliche Beleuchtung gab.

Kerr setzte sich schluchzend an die Straßenecke und presste ihren Rucksack an ihre Brust.

Alles war umsonst gewesen. Niemand hier würde ihr helfen und dieser Janier wollte sie nur zurückbringen zu ihrer Mutter. Dabei würde sie ihr damit nur noch mehr Kummer bereiten.

Um den mächtigen Kloß in ihrem Hals runterzuspülen öffnete Kerr ihren Rucksack. Als sie nach ihrer Wasserflasche tastete, spürte sie auf einmal etwas Ungewöhnliches. Sie zog es heraus und hielt das Nanoboard ihrer Mutter in den Fingern. Kerr schlug die Hand vor den Mund und riss die Augen auf. Wie war das hierher gekommen? Der Löwe mauzte leise und rieb seinen Kopf an ihren Beinen.

»Oh du«, keuchte Kerr und drehte das Board vor ihrem Gesicht.

Der Haarreif war von filigranen silbernen Fäden umwickelt und mit blauen Perlen versehen. Das Schnittstellenplättchen glänzte perlmuttfarben, als sie es im spärlichen Licht drehte. Ohne zu überlegen, setzte sie es auf und spürte sofort ein leises Kribbeln an ihrer Schläfe, als sich der Reif automatisch an ihre Kopfform anpasste. Danach spürte sie es schon beinahe nicht mehr. Ihre Mutter zog das Board nur aus, wenn sie sich schlafen legte, da sie Angst hatte, es zu beschädigen. Was würde sie sagen, wenn sie am Morgen erwachte und es war weg? Wie würde sie ihren Tag bestreiten, ohne die Möglichkeit, ihre Nanobots zu kontrollieren?

 

Verzweiflung überkam Kerr und sie presste das Gesicht in den Stoff des Rucksackes.

»Du dummes Tier du.«

Der Plüschlöwe fauchte auf und Kerr zuckte zusammen. Er mochte einfache Sprache verstehen, hatte jedoch noch nie aggressiv reagiert, wenn sie ihn rügte. Ruckartig blickte sie auf. Hörte sie Schritte? Überall tanzten die Schatten der großen Stadt, aber sie konnte nichts in ihrer unmittelbaren Nähe erkennen.

»Janier?«, fragte sie zaghaft.

Anstelle von einer Antwort erklangen ein tiefes Knurren und ein Schaben auf dem Beton.

Kerr sprang auf die Beine und presste sich gegen die Fassade hinter ihr, als könnte sie durch sie hindurchschlüpfen.

Das war nicht Janier. Es waren keine Menschen. Als ein Paar runde Augen im Dunkel aufleuchteten, rannte Kerr los.

Hinter sich hörte sie nun deutlich das schnelle Kratzen von Krallen auf dem Boden und ein Hecheln. Ihr Herz raste so schnell, dass ihre Füße nicht mitkamen. Sie strauchelte, fing sich und lief weiter. Nun erklang ganz deutlich ein Bellen, schnell gesellten sich zwei weitere hinzu.

Die Hunde waren ganz nah.

Kerr rannte einfach weiter die Straße entlang. Bis diese aufhörte. Ihr entfuhr ein Schrei, als sich auf einmal eine Mauer vor ihr auftat.

»Nein!«

Sie warf einen Blick hinter sich. Drei Wildhunde waren dicht hinter ihr stehen geblieben, bellten und sabberten. Da sprang etwas an ihr vorbei in Richtung der Bestien. Der kleine Plüschlöwe wurde im Flug von einem der Hunde gepackt und so lange hin und her geschüttelt, bis der Körper erschlaffte und an die nächste Wand geworfen wurde. Die Hunde entblößten ihre Zähne und traten näher, bis ihre Tatzen einen breiten Streifen Licht betraten, den eine Lampe auf den Grund warf.

Kerr sank an Ort und Stelle zu Boden und schloss die Augen, um nicht sehen zu müssen, was auf sie zukam. Helle Punkte blitzten vor ihren Lidern auf, so fest presste sie sie zusammen. Wie tanzende Lichter.

Wie unter dem VR-Helm.

Das Kribbeln in ihren Schläfen wurde stärker und auf einmal war sich Kerr ihrer NanoBloxx bewusster als jemals zuvor. Sie riss die Lider auf und fixierte die Lichtfläche vor ihr. Vor ihrem inneren Auge entstand eine Bühne. Darauf tummelten inexistente Partikel, stapelten sich aufeinander und begannen, sich zu einem Gebilde aufzutürmen. Kerr hielt den Atem an und starrte wie gebannt auf das Bild, von dem sie wusste, dass es nur in ihrem Kopf existierte. Sie konzentrierte sich auf die Einzelteile, rief die

Routinen ab, die sie längst verinnerlicht hatte und gab der Gestalt eine Form.

Da erwachten die Partikel zum Leben.

Kerr schrak zurück, als ein lautes Brüllen erklang. Neben ihr thronte der undeutliche Schemen eines grau schimmernden Löwen, mehr als doppelt so groß wie die Hunde, die Vorderpfoten angriffslustig in den Boden gestemmt. Ein weiteres Mal riss das Konstrukt den Rachen auf und brüllte. Die Wildhunde vor ihm legten die Ohren an und jagten winselnd in die andere Richtung davon.

Kerr starrte mit offenstehendem Mund auf die Kreatur. In dem Moment fielen die NanoBloxx ineinander zusammen und sammelten sich wieder über ihrer Schulter. Der Löwe war verschwunden.

Ein verstörtes Lachen drang über Kerrs Lippen, gleichzeitig mit einer Welle der Erleichterung.

Als sich ein neuer Schatten über sie legte, zuckten die Nano- Bloxx bereits vor, doch dann erkannte sie Janier.

»Ho«, sagte er atemlos. »Das war beeindruckend. Bist du in Ordnung?«

Sie atmete tief durch die Nase ein und aus, dann nickte sie.

»Was für ein Glück! Ich dachte, ich komme zu spät.« Er ließ sich neben ihr zu Boden sinken und zog etwas zu sich heran. »Oh je.«

Kerr blickte betrübt auf das, was von ihrem Roboterlöwen übrig war. Der zerrissene Stoff gab die desolate innere Mechanik und Elektronik preis.

»Keine Angst«, sagte Janier und legte ihn in ihre Arme. »Den kriegen sie in der Stadt schon wieder hin.«

Ein Zittern überkam Kerr urplötzlich, und als es nicht aufhören wollte, umfasste Janier ihre Hand.

»Es ist alles in Ordnung. Du hast sie vertrieben.«

Ein müdes Lachen entwich ihr. »Ich?«

»Deine NanoBloxx waren ganz schön angsteinflößend. Wie hast du das geschafft?«

Ja, wie?

Auf einmal war da die Bühne gewesen, geflutet vom Licht der Straßenbeleuchtung. Oder vielmehr ihr Kreationsraum? Sie hatte die einzelnen Partikel vor ihrem inneren Auge gesehen und hatte sie formen und befehligen können. Warum war ihr das sonst noch nie gelungen?

»Weil es immer dunkel war«, schoss es ihr durch den Kopf. »Unter dem Helm herrscht immer diese eiskalte Dunkelheit. Wie damals.«

Sie betastete das leichte Nanoboard auf ihrer Stirn.

Als sie nicht antwortete, stand Janier auf und streckte ihr die Hand entgegen. »Komm. Lass uns verschwinden.«

Kerr versuchte, ihre rasenden Gedanken in geordnete Bahnen zu lenken. Als sie das Surren der NanoBloxx neben sich vernahm, beruhigte sie sich und nickte.

»Ja. Ich möchte nach Hause. «

ENDE


Carmen Capiti

Carmen Capiti wurde 1988 in der Zentralschweiz geboren und arbeitet im Bereich der Informationssicherheit. Ihr Debüt-Roman »Das letzte Artefakt« erschien im März 2015 und wurde nominiert für den SERAPH 2016 – Bestes Debüt. Seither veröffentlichte sie unter anderem den phantastischen Roman »Die Geister von Ure«, den Zukunftsthriller »Maschinenwahn« und diverse Kurzgeschichten.

2015 gründete sie mit drei weiteren Autorinnen den Verein Schweizer Phantastikautoren.

www.carmencapiti.ch

Das Feld der BÄume

Gerhard Huber

Die Männer und Frauen, die vor Cebou gingen, überschritten gerade die Hügelkuppe und verschwanden gemächlich aus seinem Blickfeld. Ein Anblick voll prophetischer Kraft. Bald würde die Gruppe die Kolonie für immer verlassen; nur wenige Tage nach dieser Wanderung zum Feld der Bäume. Dem alten Mann erschien es nachgerade, als suchten die verbleibenden Lebensjahre leise vor ihm zu entwischen.

Cebou schüttelte den Kopf, als wollte er den Gedanken vertreiben, und blickte zurück. Die drei jungen Männer schlenderten im Gegensatz zu ihm geradezu aufreizend langsam hinter ihm her und holten dennoch stetig auf.

Nein, sie schlendern nicht, Cebou. Das bildest du dir ein. Sie gehen so, wie es junge Kerle eben tun. Kraftvoll und selbstsicher. Wie du es selbst einmal warst, alter Narr.

Doch lag das so weit zurück. Dem alten Mann wollte es nicht gelingen, ein Bild aus dem Gedächtnis zu zerren, das ihn als schwungvoll ausschreitenden Jüngling zeigte. War das denn wirklich so lange her? Ja, da war ein Bild: Cebous dunkle Haare flattern in einer kräftigen Meeresbrise auf dem Weg zum Strand, wo er Celeste treffen würde. Das war vor über 50 Jahren.

Cebou atmete tief ein und aus, während er seinen Blick wieder nach vorne zu der leeren Hügelkuppe richtete. War es im vergangenen Jahr ebenso eisig gewesen?

Die klirrende Kälte kroch Cebou allmählich bis in die Knochen. Dieses Jahr hatte sich der Winter länger gehalten als letztes. Oder? Er war sich nicht sicher.

Im vorigen Jahr war es um diese Zeit bereits wärmer gewesen. Bei der letztjährigen Wanderung zum Feld der Bäume hatte er doch nicht so gefroren. Lag das etwa auch am Alter? Oder erinnerte sich Cebou einfach falsch? Viel zu kalt war es jedenfalls nach seinem Geschmack. Dabei hatte das milde Tauwetter der vergangenen Tage schon vom bevorstehenden Frühling gekündet. Über Nacht waren Schnee und Frost zurückgekehrt und erschwerten zudem den Weg durch die Hügel.

Für die Männer und Frauen, die den Alten begleiteten, bedeutete es weniger Mühen, dem Weg zu folgen. Sie waren kräftig und jung. Die, die vorangingen, waren im Durchschnitt älter als die jungen Männer, die Cebou folgten. Aber alle waren sie jünger als der alte Cebou, dem mit seinen nunmehr dreiundsiebzig Sommern der Weg zum Feld der Bäume mit jedem Jahr schwerer fiel.

Die Gruppe hätte den Weg auch zu Pferd und mit Wagen zurücklegen können, doch das untersagte die Tradition. Die Vorfahren der Feldgänger waren vor über zweihundert Jahren an diesem Küstenstreifen schiffbrüchig gelandet und hatten sich hier ohne jede Hilfe und nur mit den wenigen Dingen, die sie an Land retten konnten, eine neue Heimat geschaffen.

Zur gesamten Tradition der Feldwanderung gehörte das Gebot der Einfachheit dazu und so legten die Männer und Frauen den Weg stets zu Fuß zurück.

»He, Cebou, wie lange dauert es noch?« Einer der nachfolgenden Jünglinge hatte das gerufen. Eine rhetorische Frage. Jedes Kind der Kolonie kannte den Weg zum Feld der Bäume. Nach der Bodenerhebung, die die Gruppe vor Cebou bereits hinter sich gelassen hatte, ging der Weg in einer Kurve hügelabwärts und endete

dann unmittelbar vor dem Feld, das man von der Kuppe aus sehen konnte.

Wir sind angehalten, den Weg zum Feld der Bäume schweigend zu gehen. Wir erweisen den Vorfahren damit unseren Respekt, aber auch den Scheidenden, die uns vorangehen.

Cebou sprach diese Worte nicht laut aus. Im Grunde wusste ohnehin jeder von diesem Gebot. An Respekt vor den Scheidenden oder den Vorfahren mangelte es den Jünglingen nicht, jedoch hatte die Wichtigkeit der Wanderung immer mehr abgenommen in den letzten Jahren. Das Feld der Bäume und der Grund für seine Existenz war allen Bewohnern der Kolonie nach wie vor wichtig, aber die jährliche Wanderung, die den Beginn der Verabschiedung der Scheidenden bedeutete, hatte an Belang verloren. Für diese Wanderung gab es gewisse Regeln, die ebenfalls im Laufe der Jahre an Bedeutung eingebüßt hatten; dennoch, die gesamte Tradition des Feldes der Bäume war nicht mit Verboten belegt oder gar mit Maßregelungen versehen.

Die laut ausgesprochene Frage war von dem mittleren der Jünglinge namens Chelar gekommen.

Cebou ging nicht weiter darauf ein. Es ließ nicht zwingend auf mangelnden Respekt gegenüber der Tradition oder den Scheidenden schließen, sondern eher darauf, dass Chelar nicht unbedingt Cebous Nachfolge antreten wollte.

Bei den anderen Wanderungen zum Feld der Bäume ging der Verkünder hinter den Scheidenden, am Feld übernahm er dann die Führung und begann, die Geschichte der Kolonie zu schildern. Dabei führte er die Scheidenden jedes Jahr auf anderen Pfaden zum Ersten Baum. Auf dem Rückweg zur Ansiedlung schritt schließlich der Verkünder den Scheidenden voran, wandte ihnen den Rücken zu und zeigte ihnen somit bereits den bald bevorstehenden Abschied an, wenn sie selbst der Kolonie den Rücken zukehren würden.

In diesem Jahr folgten Cebou zudem drei Jünglinge, denn einer von ihnen sollte die Nachfolge des alten Mannes als Verkünder antreten und die Geschichte, die zu erzählen war, kennen

lernen, um dann nach zwei weiteren Wanderungen das Amt zu übernehmen.

Vor nunmehr vierundfünfzig Sommern hatte Cebou das Amt angetreten. Der Alte war diesen Weg der Vorbereitung ebenfalls insgesamt dreimal gegangen, vor über einem halben Jahrhundert; allerdings stets schweigend. Schließlich war er damals aus den drei in Frage kommenden Jünglingen ausgewählt worden.

Das Amt des Verkünders war wahrlich kein schweres, dennoch sollte es mit Sorgfalt und Respekt ausgeübt werden – wenn nicht schon vor der Tradition oder dem Amt an sich, so doch wenigstens vor den Scheidenden, die die Wanderung zum Feld der Bäume stets sehr ernst nahmen. Es war ihr letzter Gang zum Ersten Baum und der letzte Kontakt mit ihrer Tradition für den Rest ihres Lebens.

Auch dem Verkünder selbst wurde in der Kolonie durchaus Achtung und Respekt für seine Aufgabe entgegengebracht, allerdings war es kein Amt, das mit besonderen Vergünstigungen oder gar einer Bezahlung versehen war.

 

Die Kolonie war in sich abgeschlossen, so dass es keinem Bewohner zum Vorteil gereicht hätte, mehr an Reichtum oder Gütern zu erwerben als andere.

Dennoch war manch ein Traditionsamt mit einem höheren Maß an Anerkennung und materieller Gegenleistung verbunden und so für die jungen Leute erstrebenswerter.

Auch die Ehre an sich, das Amt über Jahrzehnte auszuüben, barg für die Jugend keinen Reiz, sondern stellte eher eine lästige Verpflichtung dar. Selbst wenn keiner der neuen Generation es jemals zu handwerklicher Meisterschaft bringen und somit irgendwann vielleicht zu den Scheidenden gehören sollte.

Cebou war sich im Klaren darüber, dass der Sohn des Schmieds lieber so lange wie möglich bei seinem Vater bleiben und es zu solcher Meisterschaft bringen wollte, um die Kolonie eines Tages zu verlassen.

»Da ist es endlich!«

Der Ausruf des jungen Cilander riss Cebou aus den Gedanken. Der alte Mann und die drei Jünglinge hatten die Hügelkuppe

gerade überschritten und wanderten den Weg zum Feld hinab, wo Cebou die wartende Gruppe der Scheidenden erblickte.

Cilander war ein sehr begabter Holzschnitzer und Zimmermann. Er hatte gute Chancen eines Tages nicht nur zu den Scheidenden zu gehören, sondern darüber hinaus sogar auf einem unter seiner Leitung gebauten Schiff die Kolonie zu verlassen. Cebou schätzte ihn jedoch anders ein. Er kannte Cilander schon seit seiner Geburt, denn der alte Mann wohnte neben dessen Familie und hatte den jungen Mann aufwachsen sehen.

Bei allem handwerklichen Können, das ihn zu einem Scheidenden machen könnte, war Cilander ein recht ruhiger und bescheidener Bursche und anders als viele andere seines Alters eher traditionsbewusst.

Er schien Cebou am ehesten geeignet für das Amt des Verkünders.

Weniger geeignet hielt er den dritten Jüngling, Cilou, den zweiten Sohn seiner Cousine Cedrice, den Cebou als gewissenhaften und zuverlässigen, aber ebenso wenig traditionsbewussten jungen Mann kannte.

Cebous Meinung in der Sache seiner Nachfolge war jedoch sowieso zweitrangig. Die Ratsmitglieder der Kolonie würden zwar seine Einschätzung zur Kenntnis nehmen, die Wahl würden sie allerdings ohne den Verkünder treffen.

Cilou war der einzige der drei Jünglinge, der bis zur Ankunft am Feld der Bäume schwieg. Als Cebou und die jungen Kerle schließlich die Gruppe der Scheidenden erreicht hatten, trat der älteste der Männer und Frauen vor den Alten, senkte den Kopf und sprach die traditionellen Worte:

»Geleite uns zum Ersten Baum und berichte, Verkünder!«

Mehr war nicht nötig, der weitere Ablauf war allen Anwesenden bekannt und so schritt Cebou an der Spitze der Gruppe voran auf das Feld der Bäume. Die drei Jünglinge mischten sich dabei unter die Scheidenden.

Das Feld der Bäume erstreckte sich vor den Kolonisten leicht ansteigend bis zu einer Hügelkette am Horizont, in westlicher

Richtung war es gesäumt von einer Klippenlinie und dem dahinter liegenden Meer, zur östlichen Seite hin endete das Feld an einem Waldesrand.

Den Weg, den Cebou einschlug, wählte er willkürlich, aber mit festem Ziel. Es gab keine festgelegten Pfade oder gar befestigte Wege. Die wenigen Tiere, die gelegentlich aus dem Wald über das Feld liefen, taten das zu selten, um Trampelpfade zu hinterlassen, und die Kolonisten suchten es nie auf; abgesehen vom Verkünder und den Scheidenden jedes Jahr.

Das Feld der Bäume war durch das raue Meeresklima kärglich bewachsen und, nachdem es die Kolonisten seit Jahrzehnten nicht mehr nutzten, lediglich mit Moosen, Flechten und spärlich mit Gras bedeckt. Pflanzen, die – so hatte es für Cebou den Anschein – sich auch gar nicht die Mühe machen wollten weiter zu gedeihen und schon gar nicht das zu überwuchern, was dem Feld den Namen gab.

Cebou führte die Kolonisten in gewundenem Wege über das Feld und begann mit seiner Erzählung, die er schon so oft vorgetragen hatte. Jedes Jahr hatte er die Abfolge und Wortwahl variiert, nur der Inhalt war stets derselbe gewesen:

»Ein Feld voller Bäume war dies alles hier einst, als unsere Vorfahren vertrieben worden waren aus ihrer Heimat.

Was ihr nunmehr seht und was uns einen gewundenen Weg einschlagen lässt zum Ersten Baum, das sind die Ursprungsreste unserer Kolonie.«

Der alte Mann breitete dabei seine Arme aus und die Menschen hielten inne mit der Wanderung, um das Feld zu betrachten. Ein Feld mit riesigen Ausmaßen. Ein Feld voller Baumstümpfe.

Cebou setzte Bericht und Weg fort und die anderen folgten ihm zwischen den Stümpfen hindurch.

»Unsere Vorfahren wurden aus ihrer Heimat vertrieben. Warum das geschah, ist nicht überliefert. Doch überliefert ist, dass die Vorfahren begabte Menschen waren, so talentiert, dass ihre Fähigkeiten und Verdienste wohl Neid und Missgunst ihrer Mitmenschen schürten. Wir wissen es nicht und was immer die Gründe gewesen sein

mögen, die zur Vertreibung geführt haben, es ist überliefert, dass diese Menschen ein Schiff bauen durften, sie und ihre bescheidene Habe zu fassen. Es heißt, sie wurden alle von der ersten Erde fortgeschickt, weil alles so übervölkert und unübersichtlich und überfüllt war auf der einen Welt. Nach beschwerlicher Reise, bevor sie an hiesigen Gestaden anlanden konnten, wurde das metallene Schiff von einem fürchterlichen Sonnensturm erfasst. Wie durch ein Wunder starb kein einziger, das Metallschiff wurde jedoch zerstört und das Meiste, was unsere Vorfahren mitgenommen hatten, sank mit den Überresten des Schiffes auf den Grund des Meeres.«

Erneut hielt Cebou in der Erzählung inne. Ein gutes Stück des Weges hatten der Verkünder und seine Begleiter noch vor sich bis zum Ersten Baum und Cebou blieb ab und an stehen und sah sich um, um sich zwischen den schier unzähligen Baumstümpfen zu orientieren.

Schließlich setzte die Gruppe ihren Weg fort und Cebou erzählte weiter:

»Aber diese Menschen waren froh, allesamt gerettet zu sein, und besaßen Mut und Hoffnung genug, mit dem Wenigen, das ihnen geblieben war, einen Neuanfang zu wagen. Zudem waren sie in der glücklichen Lage, hier alles vorzufinden, was sie brauchten, um nicht nur eine sichere Behausung, sondern gar ein neues Leben zu schaffen.«

So wanderten Cebou, die Scheidenden und die drei Jünglinge über das Feld der Bäume, der Alte erzählte von den Anfängen und dem Aufbau der Kolonie, der Entdeckung der riesigen Wälder und wie die begabten Handwerker neue Häuser errichteten, was sie sonst noch alles aus dem wenigen an Raumschiffsmetall fertigten, wie sie Fischfang betrieben, Äcker anlegten, wilde Tiere fingen und zähmten und dergleichen mehr.

Immer wieder hielten sie inne und Cebou blickte sich um und setzte stets im Gehen die Erzählung fort.

Die Wanderung zum Feld der Bäume selbst setzte Cebou von Jahr zu Jahr mehr zu, doch am meisten bei alledem strengten ihn doch der Weg zum Ersten Baum und das begleitende Erzählen an.

So war der alte Mann froh, bald sein Amt an einen Jüngeren abgeben zu können und auch die Verantwortung und Bürde loszuwerden, die ihn nunmehr schon seit Jahren plagten.

»Schließlich bauten unsere Vorfahren ein hölzernes Schiff. Von Größe und Bauart ziemlich ähnlich dem Metallraumschiff, mit dem sie gekommen waren und das sie beinahe alle in den Tod gerissen hätte. Aber vielleicht gerade deswegen, um es als ein Zeichen des Neuanfangs und gleichzeitig der Stetigkeit, der Tradition zu formen, erbauten sie es dem gesunkenen Schiff so ähnlich. Allen Menschen an den neuen Gestaden ging es gut, keiner hatte Not zu leiden und es wollte auch niemand die neue Heimat verlassen. Das Schiff sollte nur genutzt werden, um die Umgebung der Küste entlang von der See aus besser zu erforschen. Vielleicht Kontakt zu anderen Wesen aufzunehmen, um Handel zu treiben, denn schließlich waren nicht alle Güter hier erhältlich oder zu fertigen. Und wie einst das erste Schiff niemanden in den Tod gerissen hatte, so brachte auch das neue Schiff den Vorfahren nur Gutes. Sie fanden Hafenstädte mit Menschenähnlichen, die ihnen wohl gesonnen waren und Handel treiben wollten. Die Güter, die unsere Vorfahren zum Tausch anboten, sagten den anderen durchaus zu, am meisten waren sie jedoch beeindruckt von dem hölzernen Schiff.