Reiseziel Utopia

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Gail Lisani trat durch das Singularitätsportal auf die Planetenoberfläche. Das Portal war von der Sigourney aus errichtet worden und ermöglichte einen direkten Übergang vom Schiff hierher. Katharina Mbode, die Leiterin der Sicherheitsteams, erwartete sie bereits und war nicht glücklich darüber, dass Gail als Kapitänin den

Planeten und damit quasi ein Kampfgebiet betrat. Am Ende hatte sie aber die Entscheidung akzeptiert.

Die Kommandantin spielte unwillkürlich an den akustischen Empfängern ihres Schutzanzuges der Klasse III, dann warf sie Mbode einen überraschten Blick zu. »Ich höre keine Neuroschocker. Sind die Kämpfe vorbei?«

Die Sicherheitsfrau in dem gepanzerten Anzug nickte. »Ja, Kapitänin. Es ist uns gelungen, ein Energiefeld zu errichten, das so kalibriert wurde, dass es die Zenorier an einem Durchkommen hindert und dabei keine Schäden bei ihnen verursacht.«

Gail konnte das Aber in den Augen der Frau bereits sehen, bevor diese fortfuhr. »Vorher haben wir sie mit den Neuroschockern problemlos betäuben können. Doch leider haben die Zenorier ihre Aggressionen gegen ihre ohnmächtigen Artgenossen gerichtet. Mindestens fünf von ihnen sind dabei zu Tode gekommen, drei weitere wurden verletzt. Paulmann kümmert sich um sie.«

Gail schloss kurz die Augen, als sie die schlechte Nachricht verarbeitete. Fünf Tote! Noch etwas, was sie vor der Ethik-Kommission verantworten musste. Sie atmete tief ein. Nicht nur vor der Kommission. Auch vor sich selbst.

»Danke.« Ihre trübe Stimmung erhellte sich ein wenig, als sie Cuta auf sich zukommen sah. Ihre Lebenspartnerin hatte immer noch diese Wirkung auf sie. Jedes Mal. Seit nun fast sechzig Jahren.

»Wie sieht es aus, Cuta?«, fragte sie die Wissenschaftlerin und erwiderte deren Lächeln.

»Es gibt gute und schlechte Neuigkeiten, Gail. Wie erwartet, handelt es sich bei diesen Örtlichkeiten wirklich um die Brutstätten der Zenorier und sie werden immer noch benutzt.«

»Ich vermute mal, das waren die guten Nachrichten.«

»Ja, genau.« Cuta lachte. »Die anderen sind zwar schlecht, aber nicht hoffnungslos. Hier kriechen eine Menge Larven herum. Das Virus hat bei ihnen bereits Wirkung gezeigt. Leider. Zum Glück beschränkt sich ihre Aggressivität uns gegenüber auf ein böses Fauchen und einen olfaktorischen Schutzmechanismus. Du solltest deine Riechsensoren also lieber ausgeschaltet lassen.« Cuta

zwinkerte ihr zu. »Unsere Hoffnung sind die Eier. Wir haben noch keinen Überblick, aber dort unten befinden sich vermutlich Dutzende davon.«

»Inwieweit können die uns helfen, Cuta?«

»Uns ist aufgefallen, dass die von uns untersuchten Zenorier verkümmerte psionische Zellen besaßen. Nun hoffen wir, dass diese Spezies während des Beginns ihrer Reifung über telepathische Eigenschaften verfügt. Möglicherweise wird über eine Art telepathischem Gruppenbewusstsein die Entwicklung von Intellekt und Persönlichkeit bereits vor dem Schlüpfen gefördert.«

»Du meinst, Bobby könnte die Botschaften aus seinem Ei gesendet haben?«

»Es ist eine Möglichkeit, ja. Bedauerlicherweise würde es auch den Abbruch des telepathischen Kontaktes erklären. Bobby ist vermutlich geschlüpft.«

»Beim Axiom! Das würde bedeuten ...«

»Ja, die Eierschale scheint das Kittarrow-Virus abhalten zu können, zumindest für eine Weile. Der Schlüpfvorgang ist dann das Ende für ihre gerade erst geformte Intelligenz.«

»Die Geburt bedeutet den Tod«, flüsterte Gail und ihr schauderte.

Sie hatten die unterirdische Brutstätte betreten. Im dämmerigen Licht war nicht auszumachen, ob es sich um eine natürliche Höhle handelte oder um ein Bauwerk. Auch die Ausdehnung war nicht absehbar.

Im Schein der aufgebauten Lampen vermochte sie die Umrisse mehrerer Dutzend Eier zu erkennen, alle etwa einen Meter hoch. Mehrere Dutzend, dachte Gail. Hoffentlich waren es genug. Und hoffentlich würden sie mit ihnen kommunizieren können.

Jetzt war sie froh, dass Brogoff ebenfalls auf dieser Mission war. Wie es aussah, stellte ein psionischer Kontakt die letzte Möglichkeit dar, um die Bevölkerung von Zenori evakuieren zu dürfen.

Der ältere Mann kniete ein paar Meter entfernt und umarmte eines der Eier. Durch das Visier des Schutzanzuges konnte die

Kapitänin sein hoch konzentriertes Gesicht mit den völlig schwarzen Augen sehen.

An den Kontaktsensoren ihres Handschuhs spürte Gail, wie Cutas Finger sich um die ihren legten.

»Seit wann kniet er da?«, flüsterte die Kapitänin, nachdem sie einen persönlichen Kanal zu ihrer Lebenspartnerin geöffnet hatte.

»Seit fast einer Stunde«, antwortete Cuta. »Völlig bewegungslos. Wenn Bobby wirklich von dieser Welt stammte, dann muss er ein Ausnahmetalent gewesen sein. Der Kontakt zu seinen Brüdern und Schwestern gestaltet sich sehr viel schwieriger.«

Niemand sagte ein Wort, während sie warteten. Wäre von den Sicherheitsteams nicht das Energiefeld errichtet worden, Gail hätte überlegt, die Bodenmission abzubrechen. Nichts schien zu passieren. Ein Fehlschlag. Was besonders bitter war, nachdem gerade erst die Flamme der Hoffnung neu entzündet worden war.

Dann spürte sie den Druck von Cutas Hand. Etwas geschah! Das Ei, das Brogoff umarmte, begann in einem warmen, roten Licht zu glühen. In seinem Inneren konnte man die Bewegung des Embryos erahnen.

»Sagt es etwas? Hast du Kontakt, Dru?«, flüsterte Cuta aufgeregt.

Die schwarzen Augen des Psionikers waren noch immer starr ins Leere gerichtet, als sein Mund begann, leise zu murmeln: »Ja, ich habe eine Verbindung. Es will nicht sterben. Es bittet um Hilfe. Die Gewalt und das Töten sollen aufhören.«

Cuta wirbelte zu Gail herum, die Begeisterung war ihr anzusehen. »Na, das ist doch was, oder? Was meinst du?« Gail lächelte. Es war immer schwierig, sich nicht von der Wissenschaftlerin mitreißen zu lassen. »Das ist ein Anfang, auf jeden Fall. Denke aber daran, dass wir mindestens fünfzig solcher Bitten haben müssen, wenn wir die ganze Rasse evakuieren wollen. Ich weiß noch nicht einmal, ob genügend Eier hier sind ...«

Sie verstummte, ihre Augen weiteten sich. Um Brogoff herum begannen nun weitere Eier in diesem warmen Licht zu glühen. Das Leuchten verbreitete sich, als immer mehr Embryonen den psionischen Ruf aufnahmen, verstärkten und weiterleiteten, bis

auch die Menschen, die nicht telepathisch begabt waren, in die Lage versetzt wurden, den Inhalt zu verstehen.

Helft uns! Wir wollen leben. Die Gewalt und das Töten sollen enden!

Immer mehr Eier glühten auf. Durch die Schalen konnte man die Embryonen erkennen, die aussahen, als würden sie tanzen.

»Beim Axiom, das müssen Hunderte sein«, murmelte Cuta.

»Nein.« Gail schüttelte den Kopf. »Es sind Tausende.« Sie hatte die Ausdehnung der Höhle völlig falsch eingeschätzt. Abertausende von Eiern bedeckten den Boden und die sanft aufsteigenden Wände. Das rote Leuchten, das den psionischen Wunsch nach Frieden und Zukunft darstellte, breitete sich wie ein Lauffeuer der Hoffnung aus. Die empfangenen Gefühle waren überwältigend. Gail weinte. Sie konnte nicht sagen, ob es aus Freude oder Trauer geschah.

Tausende und Abertausende von Lebewesen riefen telepathisch ihren Wunsch in eine grausame Welt, nicht bei ihrer Geburt sterben zu müssen. Es war ein zutiefst bewegender Moment.

Gail aktivierte einen Kommunikationskanal. »Kapitänin Lisani an die Sigourney. Bitte Kontakt zum Kommando der Erkundungsflotte. Wir brauchen hier mehr Schiffe. So schnell wie möglich. Wir müssen die Zukunft einer Spezies bewahren.«

ENDE


Olaf Stieglitz

Olaf Stieglitz wird von zwei Katzendamen in einer gemeinsamen Wohnung in Wuppertal geduldet.

Nach längerer Schreib-Abstinenz hat er 2016 wieder begonnen, an seiner Karriere als weltberühmter Schriftsteller zu arbeiten. Zur Zeit versucht er sich dabei überwiegend an Kurzgeschichten, mit denen er sich bei verschiedenen Ausschreibungen bewirbt und auch schon erste Erfolge verbuchen konnte.

www.facebook.com/Olaf-Stieglitz-906197966187903/

Der FernhÄndler

Ingo Muhs

Leider hatte ich den erhöhten Sauerstoffverbrauch erst bemerkt, als es für eine Umkehr bereits zu spät war. Also tat ich das Zweitbeste, was man in dieser Situation tun konnte und räumte auf. Das tat ich gewöhnlich nur zu den 1000-Jahres-Treffen.

Der Wohn- und Arbeitsbereich war für drei Menschen ausgelegt, aber ich flog das Handelsschiff schon seit einigen Pejott solo. Da schleifen sich bei uns Junggesellen durchaus ein paar Nachlässigkeiten ein, die ich nun beseitigte.

Ein blinder Passagier war nichts Ungewöhnliches oder Gefährliches für uns Raumfahrer, tatsächlich rekrutierten wir so neue Piloten. Auf vielen Planeten glaubte man, dass irgendwo eine mythische Raumakademie existiere, in der wir Fernhändler ausgebildet werden. Aber das war natürlich Unsinn. Ein klassisches Cockpit hatten die interstellaren Schiffe schon lange nicht mehr, die komplette Steuerung lief über die gleiche Konsole wie die Unterhaltungseinheit. Ich hatte auch direkten Zugriff auf alle Schiffssysteme durch meinen iMplantat (kleines i, großes M, wird gesprochen: »Eimplantat«). Jeder Idiot konnte so ein Schiff fliegen, Reparaturen waren selten notwendig und wurden von den Nanoschwärmen ausgeführt.

 

Was einen Fernhändler also auszeichnete, waren nicht seine Fähigkeiten, sondern vielmehr die Geisteshaltung. Ob abenteuerlustig oder eigenbrötlerisch, wir mussten in der Lage sein, uns auf fremde Kulturen einzustellen, und wir mussten Dinge hinter uns lassen können. In der alten Weisheit, dass ein Fernhändler jede Welt nur einmal besuchte, steckte viel Wahres.

Ein blinder Passagier, der also gerade seine Heimatwelt für immer hinter sich gelassen hatte und genügend Grips bewies, sich mit den Vorräten an Bord zu schmuggeln, brachte schonmal gute Voraussetzungen für einen Fernhändler mit. Und ich musste gestehen, dass ich mir schon länger einen Assistenten und Lehrling gewünscht hatte – idealerweise jemanden, der meine Leidenschaft teilte. Es konnte natürlich auch sein, dass ich ihn beim nächsten Aufenthalt hinauswerfen musste oder er nach ein paar Stopps das Schiff verließ, um mit einer exotischen Schönheit auf einer freizügigen Welt ein bis drei Familien zu gründen. So etwas konnte man vorher nicht wissen, und umso gespannter war ich, wer wohl mein Gast sein würde.

Als ich mit dem Zustand des Wohn- und Arbeitsbereiches zufrieden war, schaltete ich eine Verbindung zum Vorratslager.

»Herzlich willkommen auf der Axon Zwölf«, ließ ich über das Intercom verlauten. »Ihre Anwesenheit wurde bemerkt und wird mit Skepsis betrachtet. Bitte verlassen Sie Ihr Versteck und zeigen Sie sich der Kamera.« Den Spruch hatte ich geübt und manchmal nach der Abreise von einer hochtechnisierten Welt auch einfach so in den Laderaum übertragen. Man weiß ja nie.

Als sich auch nach einer Weile nichts rührte, fügte ich hinzu: »Sie können natürlich auch in Ihrem Versteck verweilen, das ist mir einerlei. In diesem Fall werde ich Sie auf dem nächsten Planeten wieder entladen. Das wird allerdings ein paar Tage dauern.«

Schließlich rührte sich etwas, und der blinde Passagier wühlte sich durch die Verpackungen ins Freie. Verflucht, blinde Passagiere waren in der Regel zwar jung, aber selten so jung. Das Mädchen war bestenfalls 12 Standardjahre. Mit verheulten Augen blickte sie in die Kamera und schluchzte, so dass man kaum ein Wort verstehen konnte: »Ich habe Mist gebaut. Ich will wieder nach Hause.«


Marja – so hieß unser Ausreißer – saß am Tisch mit einem heißen Tee zwischen ihren Händen (Earl Grey – alte Raumfahrertradition). Ich hatte sie in warme Decken gepackt, denn im Lagerraum war es naturgemäß recht kühl. Bislang hatte ich außer Schluchzen, ihrem Namen und dass sie nach Hause wollte, nicht viel aus ihr herausbekommen. Intensiv starrte sie in die Tasse, als wären dort die Lösungen aller Probleme, und ließ gelegentlich ein leises Schniefen hören.

»Kann es sein, dass ich dich auf dem großen Empfang gesehen habe? Du warst dort mit deinen Eltern, einem Diplomatenpaar vom südlichen Kontinent. Wie hieß er doch gleich? Ich kann mir diese Namen nie merken.«

»Neuropa«, kam eine schüchterne Antwort. Das ist genau der Grund, warum ich mir keine Mühe machte, diese Namen zu lernen. Jeder zweite Kontinent hieß Neuropa, Neu-Afrika oder Neurasien. Viele Städte hießen Perth, Mexiko, Luanda etc. (mit oder ohne »Neu« davor) und Planetennamen waren entweder Terra Novas (in verschiedenen Versionen toter Sprachen), Abarten des Wortes Paradies oder – in einigen Einzelfällen – von Hölle. Planetennamen merkte ich mir. Zum einen gab es davon weniger als Städte und Kontinente, zum anderen gebot das auch die Höflichkeit.

»Ja, genau, Neuropa! Gemäßigte Zone, landwirtschaftlich geprägt«, las ich vom iMplantat ab. »Oh, und der Sitz der Unterhaltungsindustrie.« Sie sah mich fragend an. »Bücher, Filme, Spiele, Cortexdramen?«, spezifizierte ich. »Naja, Cortexdramen eher nicht, dazu ist das technische Niveau nicht ausreichend.«

»Ich hab von Cortexdramen gehört, die sind gefährlich und machen dumm«, beteiligte sie sich endlich am Gespräch. Das Eis brach.

»Das hat man von den anderen Dingen auch irgendwann behauptet«, gab ich lakonisch zurück.

»Aber bei Cortis stimmt es«, schniefte sie in den Tee. Ich zuckte mit den Schultern. Im Moment stand mir wenig der Sinn danach, das Für und Wider verschiedener Medien zu diskutieren.

Mit »Also, was …«, und »Können wir bitte …«, versuchten wir beide gleichzeitig, das peinliche Schweigen zu durchbrechen. Ich bedeutete ihr, auszusprechen.

»Könn … Können wir bitte wieder umkehren? Bitte?« Mit großen Augen sah sie mich an. Ich schluckte.

»Ich fürchte, das ist nicht möglich. Einmal initiert kann der Sprung in ein anderes Sonnensystem nicht mehr abgebrochen werden.«

»Aber dann können wir doch zurückspringen? Ja?«

»Das ist natürlich denkbar, aber ...«

»Und wie lange dauert so ein Sprung?«

»Puh, also, du warst jetzt zwei Tage im Lager, also noch fünf Tage bis zur Ankunft in Neu-Mekka. Jeder Sprung dauert sieben Tage Rel...« Wieder unterbrach sie mich.

»Also etwa zwei Wochen. Das ist ganz schön lang. Mama macht sich bestimmt Sorgen.« Nach kurzen Überlegen fügte sie hinzu: »Und Papa.«

»Ich habe bereits eine Nachricht abgesetzt, dass du als blinder Passagier an Bord bist und es dir gut geht. Standardprozedur, sobald der Name bekannt ist. Ich vermute, es sind an dem Tag nicht viele Marjas verschwunden, also dürfte klar sein, dass du gemeint bist.«

Panisch blickte sie auf, dann schien ihr klar zu werden, dass sie ohnehin in dicken Schwierigkeiten steckte und ihren Ausflug unmöglich noch verheimlichen konnte. Oh Mädchen, du hast ja keine Ahnung, in was für einem Schlamassel du steckst!

Sichtlich erarbeitete sie sich den Mut für die nächste Frage.

»Darf ich vielleicht solange an Bord bleiben? Wenn es keine Umstände macht? … Bitte?«

»Na, ich kann dich ja wohl schlecht aus der Schleuse werfen, oder? Für die kommenden Tage werden wir uns wohl arrangieren müssen.«

»Danke sehr.«

»Sag mal, nach zwei Tagen im Lager – und der Computer zeigt keine Verunreinigungen an – musst du da nicht dringend aufs

Klo?« Sie nickte heftig. Ich wies ihr die Richtung und sie verschwand in der Hygienezelle.

Irgendwie musste ich ihr die schlechten Nachrichten klarmachen. Wenn sie zurückkam? Oder später, ich hatte ja noch fünf Tage Zeit, sie langsam an das Thema heranzuführen. Ich alter Schisser kann mit sowas nicht umgehen.


Historischer Exkurs, Teil I

Die Menschheit hatte sich auf der Heimatwelt – Erde, Earth, Tierra, Земля́, 地球 oder wie man sie in dem Sprachwirrwarr noch nannte – beinahe selbst ausgelöscht. Kaum hatte man die Gefahr der atomaren Verstrahlung technologisch in den Griff bekommen, bombte sich die Nordhalbkugel zurück in die Steinzeit. Zum Schluss musste irgendein Idiot dann doch die schmutzigen Bomben zünden, und wenn erstmal einer anfängt …

Zentren der neuen Zivilisation wurden Südamerika, Afrika und Australien – in dieser Reihenfolge. Es war die selbe krude Mischung, wie man sie heute auch auf weiteren Welten nach planetaren Katastrophen findet. Auf der einen Seite lebte ein Großteil der Bevölkerung auf niedrigstem technischen Niveau. Ich rede hier von Holzhütten und Ochsenkarren – ihr habt doch Ochsen auf eurer Welt? Auf der anderen Seite gab es Zentren der Hochtechnologie. Es gab noch Satelliten, so dass man sich global austauschen konnte. Rohstoffe und Spezialanfertigungen wie etwa Computerchips wurden Mangelware, denn die Förder- und Produktionsstätten lagen – soweit überhaupt noch vorhanden – zu weit auseinander, und die Versorgung mit Treibstoff war vollständig zusammengebrochen.

Es gibt viel Spannendes aus dieser Zeit zu erzählen, von Militärdiktaturen, dem Hungerschwarm und so weiter, aber letztendlich konnte sich die Kooperation durchsetzen. Mit dem, was an Technologie noch vorhanden war und mit dem Wissen, was technisch

möglich ist, baute die Kooperation die Welt langsam wieder auf, hob das allgemeine Niveau erneut auf den alten Stand und breitete sich von den Zentren Mexiko, Perth und Luanda auch auf die Nordhalbkugel aus. Ja, ich weiß, technisch gesehen liegt Mexiko auf der Nordhalbkugel. Schalt die Karte ab und halt die Klappe.

Durch die enge Kooperation in der Kooperation (Daher der Name. Hör auf zu kichern) hat sich auch eine neue Verkehrssprache entwickelt, die zunächst zur Gelehrtensprache und schließlich zur Weltsprache wurde. Nahezu jedes alte Idiom hat Lehnwörter in der Gemeinsprache hinterlassen, aber den größten Einfluss hatten natürlich die afrikanischen Sprachen, Spanisch, Englisch und erstaunlicherweise Deutsch. Zum einen sind viele deutschsprachige Wissenschaftler nach Afrika geflohen, zum anderen gab es in Südamerika einige deutsche Enklaven. Aber ich sehe, ich langweile dich, lassen wir die Linguistik erstmal beiseite.

Die Kooperation hatte, nachdem das Goldene Zeitalter eingeläutet war, ein gewaltiges Problem, meiner Ansicht nach eines der besten Probleme, die man haben kann. Es gab keine Rüstungsindustrie mehr, die zuvor einen großen Wirtschaftsfaktor dargestellt hatte. Wie schon bei den alten Ägyptern mit dem Bau ihrer Pyramiden brauchte man also ein neues Großprojekt als Ausgleich. Schau nicht wie ein Ochse – schlag es nach. Frühgeschichte, Heimatwelt, Ägypten. Halt, nein, nicht jetzt. Mach das später.

Über zwei Jahrhunderte steckte die Kooperation einen Großteil der Ressourcen in den Bau von Generationsraumschiffen zur Besiedelung anderer Welten. Wie gesagt, es füllte die Lücke der Rüstungsindustrie, außerdem wollte man verhindern, dass bei einem möglichen erneuten Zusammenbruch die Menschheit als solche ausgelöscht wurde. Man erstellte also quasi Backups auf fremden Planeten. Und schlussendlich – denn auch in der Kooperation war nicht alles eitel Sonnenschein – nutzte man einige der Schiffe zur ethischen Säuberung der Heimatwelt. Umbringen wollte man Andersdenkende nicht mehr, aber behalten auch nicht, also stellte man diversen Gruppen Raumfahrzeuge zur Verfügung und überredete sie mit Nachdruck, als komplette Einheit die Erde zu verlassen. Die Sklavenhalter von Madagaskar, religiöse Gruppen, Genoptimierte, Anarchisten jeglicher Couleur. Einige gingen freiwillig und mit Freuden, andere wurden geradezu interniert, besonders in der Endphase vor dem Zusammenbruch der Kooperation. Von hier an reden wir nicht mehr über Heimatweltgeschichte, hier beginnt die interstellare Geschichte.


»Nuckelavee! Nuckelavee! Nuckelaviihihihi!« Das letzte Wort in ihrem Song ließ Marja in einem Wiehern enden. Dann fing sie wieder von vorne an. Den gesamten Shuttleflug von Neu Mekka zurück zum Schiff ging das nun so, und wäre ich nicht leicht angetrunken, wäre es mir wahrscheinlich ziemlich auf die Nerven gegangen. Als Teil des Handels hatte ich ein dreitägiges Entertainmentpaket für eine Zwölfjährige erbeten, mit ganz klarer Beschränkung, welche Themen absolut Tabu sind. Marja kommt von einer eher traditionellen Welt, und nicht jeder Planet legt das Mindestalter für Erwachsenenthemen auf dieselbe Weise fest. Auch das Thema Flugdauer und Relativität ließ ich aus offensichtlichen Gründen sperren. Anscheinend hatte sie den letzten Tag im großen Nuckelavee-Freizeitpark verbracht, welcher auf einer Kinderserie beruht, die derzeit auf ganz Neu-Mekka beliebt war. Sie besteht hauptsächlich aus knuddeligen Pferde-Hamster Hybriden, die Abenteuer erlebten und von Freundschaft sangen. Nach kurzer Recherche im iMplantat hatte ich beschlossen, Marja den Tag nicht zu vermiesen, in dem ich sie über die Herkunft des Wortes »Nuckelavee« aufklärte. Für die Produzenten war es wohl einfach ein knuffiges Wort, das irgendwas mit Pferden zu tun hat, und damit war es gut.

»Oh Mann, das war sooo toll!«, begann sie eine weitere Erzählung ihrer Erlebnisse, die nach persönlicher Wichtigkeit sortiert war statt nach Chronologie. Trotz meiner beruflichen Erfahrung mit unterschiedlichsten Erzählstilen konnte ich ihr nicht folgen, allerdings schien es mir, dass pferdeartige Tiere anscheinend eine

ganz besondere Faszination auf junge Mädchen ausübten. Insbesondere, wenn sie bunt waren und sangen.

»Wenn diese ‘Vees einen Pferdekörper, aber einen Hamsterkopf haben, wieso wiehern sie dann? Müssten sie nicht eher pfeifen?«, versuchte ich einen Einwand, aber Marja ereiferte sich bereits über unseren Besuch im Greater Canyon. Wie gesagt – keinerlei Chronologie.

 

Schließlich ging aber auch ihr die Energie aus, und sie wurde etwas ruhiger.

»Danke, dass du mich überredet hast, den Planeten zu besichtigen, bevor wir zurückfliegen.«

»Naja, wann sieht man schon mal einen fremden Planeten?«

»Das war so ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte.«

»Enttäuscht?«

»Nein, nein, überhaupt nicht!« Sie boxte mich auf den Oberarm, wissend, dass ich sie nur aufziehen wollte. »Ich dachte nur, dass die Leute da ganz anders drauf sind. Wegen dem Namen und so.«

»Wieso das?«

»Naja, Mekka war doch so eine heilige Stadt auf der Heimatwelt, und die Siedler waren streng religiöse Arabier.«

»Woher weißt du denn etwas über Araber?«, hakte ich nach.

»Hab ich nachgelesen! Aber die Leute da waren gar nicht so, sondern richtig nett.«

»Was hattest du dir denn so vorgestellt?«

»Naja«, sie wurde rot, »mehr arabisch halt. Turban und Bart und Pluderhosen, sowas in der Richtung.«

»Meine Güte, wo hast du das denn her? 1001 Nacht?«

Sie nickte. »Aber hier waren ganz normale Leute. Ich musste kein einziges Mal zu Allah beten oder einen Schleier tragen oder so.«

»Ja, so ist das mit den Menschen. Egal was du für eine Gruppe Kolonisten nimmst, nach ein paar Generationen wächst sich das alles raus und du hast wieder dieselbe alte Mischung. Die Welten sind ständig im Wandel.«

»Aber wenn man jetzt zum Beispiel nur superschlaue Leute nimmt …«

»… dann muss immer noch jemand die schwere Arbeit machen. Falls die Schlauköpfe die Aufbauphase der Kolonie überleben, hast du hinterher ganz schnell wieder Gruppen von mehr und von weniger Gebildeten.«

Marja wirkte enttäuscht. »Also sind alle Planeten gleich?«

»Aber überhaupt nicht! Sie sind sich zwar ähnlich, so wie sich zwei Menschen ähnlich sehen – Kopf, Arme, Beine, Nase, Augen – aber trotzdem grundverschieden sein können. Fandest du, Neu-Mekka war genauso wie dein Planet?«

»Die haben hier fliegende Autos! Aber auf dem Klo benutzen sie noch Papier.« Marja kicherte. »War schon anders als zu Hause, aber doch irgendwie ähnlich.«

»Was hältst du davon, dir noch eine Welt anzuschauen?«, wagte ich den Vorstoß. »Auf die eine Woche kommt es jetzt auch nicht mehr an. Wann wirst du jemals wieder eine solche Gelegenheit bekommen?«

Jubelnd fiel sie mir um den Hals. Anscheinend hatte sie selbst schon versucht, den Mut für die Frage aufzubringen. Ich hatte eine Gnadenfrist gewonnen.

Später sichteten wir die Geschenke, die sie von Neu-Mekka mitgebracht hatte. Neben erstaunlich viel Nuckelavee-Merchandising brachte sie besonders ein Prinzessinnen-Diadem in Verzückung. »Das muss unglaublich wertvoll sein!«, vermutete sie.

»Darf ich mal? Das sind wahrscheinlich bloß Diamanten«, erwiderte ich. Reiner Kohlenstoff in Gitterstruktur, das war das Einfachste, was der Assembler zusammensetzen konnte.

»Ja, Diamanten«, bestätigte ich nach der Analyse. »Sehr hübsch gemacht und sicher ein tolles Geschenk, aber das Wertvollste, das du bekommen hast, ist das da.« Ich zeigte auf den Datenträger mit der kompletten Nuckelavee-Serie. »Dafür, mein Kind, fliege ich durch das All. Dafür bin ich Fernhändler.«

»Für Kinderserien?«, fragte sie erstaunt.

»Quatsch, ich handele doch nicht mit Kinderserien!”

»Aber womit handelst du denn dann? Ich hab eigentlich keine Ahnung, was du so durchs All fliegst.«

»Außer blinden Passagieren, meinst du? Also gut, da muss ich etwas weiter ausholen. Zeit für die nächste historische Lektion!«

Sie seufzte gespielt auf, fügte sich aber und hörte mir brav zu.


Historischer Exkurs, Teil II

Das Aussenden der Kolonieschiffe hatte eine gewisse Endgültigkeit. Die ersten Jahre konnte man noch Kontakt halten, aber selbst der beste Richtfunk kann nur beschränkte Entfernungen überwinden, und zumindest die Schiffe verfügten ab einer bestimmten Distanz einfach nicht mehr über Sender mit der ausreichenden Präzision und Stärke. Und da Signale auch nur Lichtgeschwindigkeit erreichen, vergingen Jahre zwischen Sendung und Empfang. Der Philosoph Tayo Osei sagte: »Im Prinzip besteht kein Unterschied zwischen Genozid und dem Exodus – sie sind von dem Planeten getilgt. Wir können lediglich besser schlafen.«

Einige der Kolonien scheiterten kläglich, manche Schiffe erreichten ihr Ziel nie. Der Rest, einschließlich der Heimatwelt, unterlag dem Puls der Zivilisationen. Im ewigen Auf und Ab erlangte immer mal wieder ein Planet die Reife zur interstellaren Raumfahrt. Weitere Kolonieschiffe wurden ausgesandt, aber eine wichtige Variable hatte sich inzwischen verändert. Man wusste nun, dass es da draußen andere von Menschen besiedelte Welten gab, und man wollte erfahren, wie es den Brüdern ergangen war. Man wollte sich mitteilen und man wollte selbstverständlich an den besonderen Reichtümern der Planeten teilhaben.

Ein zum Zweck des Handels gebautes Schiff konnte viel kompakter ausfallen. Es hatte eine kleinere Crew, da man keinen langfristig stabilen Genpool gewährleisten musste. Alle ansonsten wertlose Nutzlast zum Aufbau einer Kolonie ersetzte man durch Laderaum oder sparte sie sich komplett. Der Bau solcher leichteren Raumer war viel früher für eine Zivilisation umsetzbar. Der Nutzen erschloss sich potenziell aber nur für die Crew, die in

Stasis die Jahrhunderte des Fluges überdauerte. Jeder planetare Investor war bis zu der Rückkehr eines Schiffes entweder gestorben, falls es sich um eine Person handelte, oder von der Geschichte hinweggefegt, falls es sich um eine Institution handelte.

Sehr bald – und wir reden hier von Jahrhunderten – stellte man fest, dass sich materielle Güter nicht zum interstellaren Handel eigneten. Nehmen wir mal Rohstoffe, also Metalle, Kristalle, Hölzer und so weiter. Die Menge, die transportierbar ist, ist limitiert und für jede Zivilisation nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Erfährt eine Gesellschaft einen Mangel an einem bestimmten Rohstoff, so hat sie in der Zeit, bis der Stoff von außen geliefert wird, längst Alternativen gefunden, die ähnliche Materialeigenschaften haben. Da bedient man sich eher an den Ressourcen im eigenen Sonnensystem, als auf andere Systeme zurückzugreifen.

Verarbeitete Materialien sind noch schwieriger. Der Nutzen einer Ladung Nanochips hängt ab von dem technischen Niveau des Zielortes zur Zeit der Ankunft. Wer sich hauptsächlich mit Ochsenkarren oder Verbrennungsmotoren herumschlägt, kann mit den Chips nichts anfangen, und wer technologisch viel weiter entwickelt ist, hat nur ein müdes Lächeln für diese Chips übrig.

Klar, sicher, man könnte eine Spannbreite technischer Geräte laden und nur die jeweils Passenden handeln. Oder detaillierte Anleitungen mitgeben, um die Welt auf das jeweilige Niveau zu heben. Das wurde versucht, aber letztlich waren die Geräte den Lagerraum nicht wert. Die technologischen und wissenschaftlichen Daten hingegen, das waren für lange Zeit die wahren Schätze der Fernhändler.

Hier ergab sich ein anderes Problem: Wenn Materielles keinen Wert hat, wie bezahlt man dann den Händler? Nichts, was auf einer Welt gefördert oder produziert wird, hat einen Wert für ihn. Wenn nicht beide ein ähnliches Technologieniveau haben, ist der Austausch für eine Seite uninteressant. Die Lösung zeichnete sich hier schon ab, aber ich will noch kurz auf das Ende der Zeit des Technologietransfers eingehen.

Jeder Besuch eines Fernhändlers gab einer Welt einen gewaltigen potentiellen Schub, und das ist bis heute so. Ich habe an Bord eine komplette Datenbank allem von Menschen gesammelten Wissen. Doch irgendwann war das Plateau erreicht, irgendwann wussten wir alles, was man über dieses Universum in physikalischer, chemischer oder mathematischer Hinsicht wissen konnte. Wir können unsere Schiffe auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigen, wir haben Gravitationskontrolle, Materie-Assembler und eine Lebensspanne von über 150 Pejotts (= PJ = Persönliche Jahre). Aber wir wissen, dass wir unsere physikalischen Möglichkeiten in dieser Hinsicht ausgereizt haben. Überlichtgeschwindigkeit ist nicht zu erreichen, Punkt. Wahre künstliche Intelligenz – viele Jahrhunderte ebenso herbeigesehnt wie gefürchtet – ist nicht möglich. Sämtlicher Fortschritt bezieht sich nur noch auf minimale Verbesserungen in der Herstellung und dem Design von Luxusgütern. Kein Planet kann mir in technologischer Hinsicht irgendetwas wirklich Wertvolles mehr bieten.