Gewaltkette

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»Und was war auf dem Revier so los?«, fragte Gowda.

»Es gibt gute Neuigkeiten, Sir!« David strahlte.

Gowda zog die Augenbrauen hoch. Er konnte sich keine Neuigkeit vorstellen, die wirklich gut war, es sei denn, ACP ­Vidyaprasad hätte den Dienst quittiert.

»Aber ich darf noch nichts verraten, Sir!«, sagte David fast ein bisschen kokett.

»Was soll das heißen?«

»Nein, Sir, Sie müssen warten, bis wir auf dem Revier sind. Head Constable Gajendra hat mir aufgetragen, Sie direkt dorthin zu bringen.«

Gowda runzelte die Stirn. Was war da los? War der alte Wasserkühler endlich ersetzt worden? Oder hatten sie eine neue Spurensicherungsausrüstung erhalten? Auch darauf warteten sie. Oder war der neue Drehstuhl gekommen, den er beantragt hatte?

Byrappa und Devraj kamen die Stufen des Lokals heruntergesprungen und stiegen in den Jeep. David konnte sein Grinsen kaum unterdrücken, als er fragte: »Fahren wir?«

Ein kleiner Ventilator auf dem Armaturenbrett wurde angestellt. David drückte am Radio herum, bis er einen Sender fand, der Hindi-Songs spielte. In gewisser Hinsicht ein Kompromiss. Weder Kannada noch englische Musik, stattdessen neuer Hindi-Pop, der klang, als würden Katzen jaulen und Affen auf Blechtrommeln einschlagen. Gowda saß mit zusammengepressten Lippen da, während David den Jeep schnell durch den dichten Verkehr lenkte. Er schien sich in den letzten fünf Tagen in Ayrton Senna verwandelt zu haben und die Straßen der Stadt als seine Formel-1-Rennstrecke zu sehen. Nachdem sie fast einen Motorradfahrer umgenietet hatten, reichte es Gowda. »Runter vom Gas – was immer die Neuigkeit ist, sie kann warten!«

David wurde rot, sagte aber nichts.

Es war fast halb zwei, als der Jeep durch das Tor des Neel­gubbi-Reviers fuhr. Das grüne Gebäude schien vor Aktivität zu ­vibrieren.

Das Dorf Neelgubbi hatte sich in den letzten Monaten sehr verändert. Aus einem verschlafenen kleinen Flecken mit Kuhherden und Kleinbauern war ein Tummelplatz der Grundbesitzer und Immobilienhändler geworden. Bangalore war in alle Richtungen gewachsen, doch der Nordosten blieb lange relativ unberührt, bis in Devanahalli der neue Flughafen gebaut wurde und die großen Bauunternehmen begriffen, dass sogar in Dörfern wie Neelgubbi die Möglichkeiten grenzenlos waren.

Im Umkreis von acht Kilometern wurden gerade ein Golf­resort, ein dreiunddreißig Stockwerke hoher Wolkenkratzer, eine Web City, etliche Gated Communities und viele teure Apartmenthäuser hochgezogen. Zwei Colleges und mehrere internationale Schulen wurden gegründet und unterrichteten Kinder aus aller Herren Länder. An den Wochenenden füllten sich die Straßen mit Radfahrern in Lycra und Helm, die die Reize einer Radtour durch das Nebeneinander von ­Zuckerrohrfeldern, Rosengärten, Blumenkohlbeeten, Baustellen, Weingütern und Müllbergen entdeckt hatten.

Das Polizeirevier von Neelgubbi, einst ein ruhiger Außenposten, hatte im Zuge dieser Entwicklungen stark an Bedeutung gewonnen, und die vielen Beschwerden und Anzeigen, die die Seiten des Revierbuchs füllten, ließen Gowda beinahe glauben, das Zentrum des Verbrechens in der Stadt läge genau hier. Glücksspiel, Wettgeschäfte, Schwarzbrennerei, Drogenhandel, Raub, Vergewaltigung, Mord, Einbruch, Prostitution und illegaler Waffenbesitz … was ist bloß aus dir geworden, Neelgubbi?

Trotzdem hatte er das Gefühl, nach Hause zu kommen. Und erbleichte aufs Neue bei dem Gedanken: Wie bin ich zu einem Mann geworden, für den der Arbeitsplatz sein Zuhause ist?

Doch ihm blieb keine Zeit zum Grübeln, denn Head Constable Gajendra hatte den Jeep gehört, kam an die Tür und schob Gowda in sein Büro. Beim Anblick der Person, die mit dem Rücken zu ihm saß, blieb Gowda wie angewurzelt stehen. Ein Atemzug verfing sich in seiner Kehle. Wie konnte das sein?

Der Mann stand auf und drehte sich um. Lächelte. Ein breites, vergnügtes Grinsen über Gowdas Verblüffung. Eine bogenförmige weiße Narbe an seinem Hals schien das Grinsen nachzuahmen.

Sub-Inspector Santosh.

Als Gowda ihn zuletzt gesehen hatte, hing Santosh an Schläuchen und war mit Schmerzmitteln vollgepumpt, um die lange Fahrt heim nach Dharwad zu überstehen. Da sich sein Zustand stabilisiert hatte, hielten die Ärzte es für das Beste, dass er sich zu Hause erholte. Niemand konnte sagen, wie lange seine Genesung dauern würde, hinzu kam das psychologische Trauma, einen Mordanschlag nur knapp überlebt zu haben. Gowda hatte nicht mit Santoshs Rückkehr gerechnet. Er hätte ihm auch keinen Vorwurf gemacht, wenn er nie wiedergekommen wäre.

»Guten Tag, Sir.« Santoshs klare helle Stimme war nur noch ein Flüstern.

Zum Erstaunen aller Anwesenden, Santosh eingeschlossen, der mit Überraschung, aber keinesfalls mit überschäumender Wiedersehensfreude gerechnet hatte, stürmte Gowda auf ihn zu, warf die Arme um ihn und stammelte: »Ich fasse es nicht! Du bist da und wieder auf den Beinen!«

Das kollektive Aufkeuchen brachte Gowda auf die Erde ­zurück.

»Das war also die Überraschung?«, fragte er David. Der grinste. Byrappa und Devraj ebenso. »Und ihr alle habt davon gewusst?«

Gajendra rief: »Bringt sie her«, und ein Constable kam mit einer Schachtel Laddukugeln herein.

»Der Sub-Inspector meinte, wir sollen nichts verraten, ehe Sie hier sind«, sagte Gajendra und gab dem Constable ein Zeichen, die Süßigkeiten zuerst Gowda anzubieten.

Als die Laddukugeln gegessen waren und sich alle wieder an die Arbeit gemacht hatten, betrachtete Gowda Santosh genauer. »Wie ist es dir ergangen, Santosh?«

»Ich glaube, ich kann den Dienst wieder antreten, Sir«, sagte Santosh, ohne Gowda direkt anzusehen. Und ohne meine Frage direkt zu beantworten, dachte Gowda. »Wie geht es Madam, Sir?«, fragte Santosh, bevor Gowda etwas sagen konnte.

Gowda war perplex. Welche Madam meinte er? Mamtha oder Urmila?

»Sie hat mir vor ein paar Monaten eine Genesungskarte geschickt«, sagte Santosh lächelnd.

»Ach«, murmelte Gowda. Dann musste es Urmila sein. Mamtha schickte keine Genesungskarten. »Aber wie ist sie an deine Adresse gekommen?«

»Per E-Mail, Sir. Sie hat mir eine E-Card geschickt.«

Gowda nickte. Ganz sicher Urmila. Aber was zum Teufel war eine E-Card?

»Und Ihr Sohn, Sir? Wie geht es ihm?«, fragte Santosh.

»Setz dich, Santosh.« Gowda seufzte. »Oder nein, lieber nicht. Ich will nach Hause. Du kommst mit. Dann können wir reden. Ich muss duschen und mich rasieren. Und etwas essen. Hast du schon zu Mittag gegessen?«

Santosh blickte sich unschlüssig um. »Sir, fahren Sie nach Hause, ja? Ich komme heute Abend vorbei. Ich habe noch ­einen Termin am Stimmtherapie-Institut in Lingarajapuram.«

Zum ersten Mal an diesem Nachmittag trafen sich ihre ­Blicke. Keiner hatte es erwähnt, aber Santoshs heisere, flüsternde Stimme war eine stete Erinnerung an die Geschehnisse vor sieben Monaten. An die glasummantelte Drahtschnur, die Santosh halb die Kehle durchtrennt und ihn fast das Leben gekostet hatte.

Die Jungs und ich warteten noch ein bisschen im Zug, dann stiegen wir aus. Mein Ziel war es, zwischen all den Familien nicht aufzufallen. Das war nicht mehr so einfach wie früher. Eine Gruppe von Kinderschützern patrouillierte auf den Bahnsteigen. Vielleicht, überlegte ich, wären wir besser am Cantonment-Bahnhof ausgestiegen, doch dort hielt der Zug höchstens zwei Minuten, und ich war nicht sicher, ob die Jungs schnell genug aussteigen konnten. Sie schienen zu schlafwandeln. Außerdem wären sie am ruhigeren Cantonment-Bahnhof eher aufgefallen.

Eine Frau kam an uns vorbei und blieb abrupt stehen. Sie sah ganz normal aus, trug keine Uniform oder so, doch meine Jungs drängten sich sofort dichter aneinander. Wie Schafe, die auf die Weide gebracht werden. Nicht Ziegen, die waren zu ungestüm, sondern Schafe. Dümmlich blöde Schafe, die man führen und schubsen und zerren musste, damit sie den Weg nahmen, den sie gehen sollten. »Lauft weiter«, murmelte ich. Die Jungs gehorchten, aber sie hatten sich bereits verraten. Ich sah, wie die Frau telefonierte. Oben an der Treppe warteten zwei Männer auf uns. »Denkt daran, was ich euch gesagt habe«, ermahnte ich die Jungs.

Einer der Männer war groß und stämmig, trug Khakihose und ein dunkelblaues Hemd. Sein Haar war kurz. Irgendetwas an ihm verriet, dass er bei der Polizei oder der Armee war. Der andere Mann war jung und hatte einen kleinen Bart. Wo kriegen sie die bloß her, fragte ich mich, als die beiden sich uns in den Weg stellten. Die anderen Passagiere warfen uns neugierige Blicke zu, gingen aber weiter.

»Wer sind diese Kinder?«, fragte der Jüngere. Sein Odiya war holprig, wie aus einem Wörterbuch zusammengesucht.

»Meine Neffen«, erwiderte ich auf Kannada.

»Haben Sie Papiere für sie?«, fragte er.

Ich zückte meine Brieftasche und gab ihm meinen Führerschein. Er warf einen kurzen Blick darauf. »Nein, für die Jungen«, sagte er.

Ich zuckte die Achseln. »Es sind Kinder. Was für Papiere sollen die schon haben?«

»Zeigen Sie mir die Fahrkarten.«

Ich reichte sie ihm. Er betrachtete sie. »Ihr kommt aus ­Andhra?«, fragte der ältere Mann die Jungs auf Telugu.

Sie sahen ihn verständnislos an. Sie hatten keine Ahnung, welche Sprache er da mit ihnen sprach. Ich überlegte, mit wenigstens einem der Jungs loszurennen. Doch der Mann kam mir zuvor.

»Ihr kommt mit«, sagte er entschlossen und griff zwei der Jungs an den Händen. Der andere Mann nahm den dritten. Sie führten sie auf die Bosco-Rettungsstation zu. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihnen zu folgen.

Die Jungs waren hungrig und müde. Ich wusste nicht, ob sie einer Befragung standhalten würden.

 

Die Jungs hockten sich auf die Kante der schwarzen Kunst­lederbank in der Station. Noch zwei Kinder waren da, ein Junge und ein Mädchen mit verfilzten Haaren, verhärmten Gesichtern und fadenscheiniger Kleidung. Sie waren völlig verdreckt.

Ein weißer Mann saß hinter einem an die Wand genagelten Schreibpult. Er trug die Antworten der Kinder in ein Formular ein. Sie sprachen Tamil. Was verstand der weiße Mann von dem, was sie sagten? Ich lachte im Stillen. Dann sprach er Tamil mit ihnen. Hatten diese Typen nichts zu tun in ihren eigenen Ländern? Warum mussten sie hierherkommen und uns auf die Nerven gehen?

Die Kinder sagten, sie wären aus einer Ziegelfabrik bei Hosur weggelaufen. So wie ich einst.

Der Brennofenaufseher gab uns zwar Verpflegung, aber ein paar Dinge musste man kaufen, daher durften wir einmal in der Woche auf den Markt. Aber auch dort wurden wir streng bewacht. Immer kamen zwei Männer mit. Ich hatte kein Geld, um mir etwas zu kaufen, aber mein Onkel und die anderen brauchten jemanden, der ihnen die Sachen schleppte. Ich beobachtete, dass die Bewacher uns bei jedem zehnten Pulsschlag einen Blick zuwarfen. Mehr brauchte ich nicht. Zehn Sekunden, um zu verschwinden.

Meine Jungs hielten den Blick gesenkt.

Ein Mann, der als Koordinator bezeichnet wurde, setzte sich neben sie. Auf Hindi fragte er: »Wo kommt ihr her?«

Die Jungen sahen mich an. Dann sagte Jogan, der Anführer: »Aus Andhra!«

»Wo in Andhra seid ihr in den Zug gestiegen?«, fragte der Koordinator auf Telugu.

Wie viele Sprachen konnten diese Bosco-Leute? Sie waren clever, das musste man ihnen lassen. Und sie machten Menschen wie mir die Arbeit schwer. Was ist so schlimm daran, wenn Kinder arbeiten? Ich habe mit sechs angefangen, und seht, wie weit ich es gebracht habe. Zur Schule gehen ist gut und schön, wenn man einen vollen Magen hat. Sonst kann man nur an eins denken: an den Hunger. Ich fragte mich, ob sie das kannten, so hungrig zu sein, dass man Mülleimer durchwühlt und sich mit den Straßenkötern um ein Stück Brot balgt, das grün vor Schimmel ist. Am liebsten hätte ich gesagt: Lasst mich erst dafür sorgen, dass sie ihre Bäuche füllen können, danach könnt ihr sie immer noch zur Schule schicken oder sonst wohin.

Jogan starrte den Mann verständnislos an. Diese Mistkerle wussten, wie sie meine Jungs aus der Fassung bringen konnten. Jogan schaute fragend zu mir, was uns endgültig verriet.

Der Koordinator fragte mit sanfter Stimme auf Odiya: »Wie heißt du?«

»Jogan«, sagte mein Junge erleichtert. Endlich konnte er eine Antwort geben.

»Wenn du also aus Odisha kommst, warum hast du dann gesagt, du wärst aus Andhra?« Der Mann klang fast ein wenig gekränkt.

Endlich tat Jogan, was ich ihm gesagt hatte. »Ich verstehe Sie nicht«, sagte er auf Odiya.

Der Mann schwieg eine Weile. Dann versuchte er es von Neuem. »Wo wohnst du? Ich kenne Odisha gut.«

»In Satpada«, sagte Jogan. Die anderen zwei, Ikshu und ­Barun, piepsten: »Wir sind auch aus Satpada. Und er«, sie ­sahen mich an, »ist unser Dada.« Und so ernannten sie mich, Krishna, zu ihrem großen Bruder. Ich wusste, ich musste mich brüderlich geben.

»Wie lange dauert das hier? Die Kinder haben seit zwei ­Tagen nichts gegessen«, unterbrach ich auf Kannada. Ich wollte mich nicht durch mein eingerostetes Odiya verraten.

»Sie haben ihnen zwei Tage nichts zu essen gegeben?«, fragte eine Frau. Ich sah sie wütend an. Diese Art Gutmenschen ­kenne ich. Alternde Frauen mit leeren Nestern, die ihrem ­Leben Sinn zu geben versuchen, indem sie sich als Mutter Erde gebärden. Sie zogen sich sogar entsprechend an, schlammfarbene Kleider, die wie Säcke an ihren Körpern hingen. Eine ­hatte mich einst irgendwo aufgelesen und mit in ihr Haus nach Bangalore genommen. Ich war sieben Jahre alt. Sie machte mich einen Sommer lang zu ihrem Lebensinhalt, dann wurde ich in einem Waisenhaus abgesetzt und konnte sehen, wie ich klarkam.

Die hier hatte einen wohlgeformten Hintern, den ihre Jeans betonte. Die Größe ihrer Titten konnte ich nicht erkennen. Sie trug einen rostroten Angarakha. So einen hatte mein Großvater immer an Markttagen getragen.

Lange Ohrringe, Silberarmreife und ein Diamantstecker in der Nase. Ich bedachte sie mit meinem Blick, der Erdmütter normalerweise einschüchtert. Die hier zuckte nicht mit der Wimper. Also ließ ich meine Augen sagen, was ich alles mit ihr machen wollte. Wenn ich mit dir fertig bin, wirst du um Gnade winseln. Sie senkte den Blick. Da sagte ich in meinem demütigsten Tonfall: »Die Kinder mochten das Essen im Zug nicht. Sobald ich mit ihnen zu Hause bin, bekommen sie die erste richtige Mahlzeit.«

»Ach«, sagte sie. »Selbstgekochtes, klar.«

Ich tat, als würde ich den Sarkasmus nicht bemerken. »Ja, ­alles frisch.« Am liebsten hätte ich ihr auf den Mund geschlagen. Wollte ihre Lippe aufplatzen und das Blut fließen sehen.

Die Blicke der Jungs huschten zwischen mir und der Frau hin und her. Plötzlich zog der Mann ein Bündel Tausend-­Rupien-Scheine aus der Tasche. »Es ist heiß hier drin. Ich gehe Getränke holen. Möchtet ihr Jungs etwas? Jogan, einen Saft?«

Die Jungs zögerten nur den Bruchteil einer Sekunde. Dann nickten sie. Ich verfluchte mich dafür, ihnen nicht früher etwas gegeben zu haben. Ohne Hunger und Durst wären sie weniger leicht zu ködern. Doch nun überwältigte sie die Kombination aus Erschöpfung, Hunger, Angst und dem Anblick von so viel Geld, und ihre Loyalität geriet ins Wanken.

Die Rettungsstation füllte sich. Die Frau, die uns erwischt hatte, war gerade mit einem weiteren Jungen angekommen. Hatten diese Leute sonst nichts zu tun? Der weiße Mann und der Koordinator traten mit der Frau vor die Tür. Blieb nur die Erdmutter. Ich dachte an die Worte des Thekedar. Alles in diesem Leben hat seinen Preis. So steht es in der Bhagavad Gita. Lies die Gita, mein Junge. Da steht alles drin. Wie man leben soll, und wie man aus einer schwierigen Lage herauskommt.

Was wäre wohl ihr Preis, fragte ich mich. »Akka«, sagte ich, »brauchen Sie zufällig gerade Hilfe im Haushalt?« Sie runzelte die Stirn. »Ich habe mehrere Freunde hier in Bangalore, die immer einen guten Arbeitsplatz suchen.«

Ihr Stirnrunzeln verstärkte sich. »Ich stelle keine Kinder ein.«

»Keine Kinder. Erwachsene, sogar ein Paar. Sie kommen aus Assam. Sie wären genau richtig für Sie.«

»Hmm …«, sagte sie und schrieb die Nummer der Rettungsstation auf einen Zettel. »Hier ist meine Nummer. Sie sollen mich anrufen.«

Ich gab die Nummer pflichtschuldig in mein Handy ein. »Würde etwas Geld helfen?« Ich musste es versuchen. Sie sah mich verständnislos an. Ich fügte hinzu: »Würde etwas Geld helfen, das hier zu beschleunigen? Sehen Sie sich die Kinder an. Sie sind erschöpft.«

Ihre Miene wurde weicher. »Das ist alles Vorschrift. Es dauert seine Zeit. Vielleicht noch eine halbe Stunde.«

Der Mann kam herein, er telefonierte. Ich hörte das Wort »Schutzunterkunft«.

Und wusste, es war Zeit, zu Plan B überzugehen. Dem Flug der Pfeile.

Er machte sich wieder daran, die Angaben der Jungen in ein rosa Formular einzutragen. Ich beobachtete ihn und plante den nächsten Zug.

»Aus welchem Grund seid ihr hergekommen?«

»Zum A–«, setzte Ikshu an, doch Jogan legte ihm die Hand aufs Knie und brachte ihn zum Schweigen.

»Um uns die Stadt anzusehen«, sagte mein kluger kleiner Jogan.

»In welche Klasse geht ihr?«

»Sie gehen nicht zur Schule«, sagte ich. »Da, wo sie leben, gibt es keine Schulen.«

Der Mann warf mir einen harten Blick zu. Die Erdmutter fragte: »Wenn sie nicht zur Schule gehen … was tun sie dann?«

»Sie arbeiten.« Es würde mir nicht reichen, sie nur zu schlagen, stellte ich fest. Ich wollte sie beißen, in die fleischige Unterseite ihres Arms.

»Sind sie nicht zu jung zum Arbeiten?«, wollte sie wissen.

»Wenn sie nicht arbeiten, essen sie nicht«, sagte ich leise.

Das brachte sie zum Schweigen.

»Wir bringen die Kinder in eine Notunterkunft. Warum bitten Sie die Eltern nicht, herzukommen und sie abzuholen?«, sagte der Mann. Wieder klingelte sein Telefon. Er nahm das Gespräch an und betrachtete mich dabei.

Ich nickte. Wir machten uns auf den Weg zum Ausgang, wo uns das Auto erwarten würde. Bahnsteig 2 entlang und dann die Stufen runter zum Aufzug.

Der Mann hatte seinen Arm fest um Ikshu gelegt. Die Erdmutter hielt Jogan und Barun an der Hand.

Auf der Treppe schubste ich die Frau. Sie stolperte und ließ los.

»Lauft!«, brüllte ich und rannte. Jogan und Barun standen einen Moment lang da wie versteinert und folgten mir dann in einem Tempo, das mich überraschte. Wer hätte gedacht, dass diese kleinen Kerle das in sich hatten?

Tumult brach aus. Laute Stimmen und trappelnde Schritte. Ich wusste, dass der Polizeiposten im Bahnhof auf Bahnsteig 6 war, aber ich wusste auch, dass aus dem Bahnhof so viele Wege hinausführten wie aus dieser Welt.

Wir schafften es zum Ende von Bahnsteig 4 und damit aus dem Bahnhof. Schließlich hielten wir an, um zu Atem zu kommen.

Ich lächelte sie an. Zwei von dreien ist nicht schlecht, dachte ich.

»Was ist mit Ikshu?«, fragte Jogan.

Ich zuckte die Achseln. »Sie bringen ihn in ein Heim oder schicken ihn zurück.«

Die Jungs machten lange Gesichter. »Du hast gesagt, du würdest auf uns achtgeben«, sagte Jogan beinahe rebellisch.

Ich packte seinen Ellenbogen und sagt in meinem strengsten Tonfall: »Du musst zuerst an dich selbst denken. Wenn du an andere denkst, wird alle Welt auf dir herumtrampeln.« Sie ­waren noch zu jung, um das zu verstehen. Also sagte ich ­etwas, von dem ich wusste, dass es wirken würde. »Wir befreien ­Ikshu aus dem Heim. Ich verspreche euch, dass wir ihn da raus­holen.«

Als der Jeep in die Greenview Residency einbog, empfand Gowda Erleichterung. Gleich war er zu Hause. Nichts war so tröstlich wie Vertrautes: der Winkel des Duschkopfs im eige­nen Bad, die Kuhle im Kopfkissen, ein Lieblingsstuhl, das Schlagen der Uhr, der Baum vor dem Fenster.

Der Jeep fuhr an leeren Grundstücken mit kniehoch wucherndem Gras und Eukalyptusbäumen vorbei.

»So ohne Nachbarn muss es ganz schön einsam sein«, wagte David zu bemerken.

Gowda war zu erledigt, um scharf zu kontern. Die Vorstellung von Nachbarn, mit denen er nachbarschaftlich umgehen und sprechen müsste, verursachte ihm eine Gänsehaut, aber anscheinend sahen alle Welt und Mamtha Nachbarn als lebensnotwendig an. Genau genommen war Mamtha nach Hassan geflüchtet, um endlich an einer belebten Straße samt Nachbarn, Klatsch und Tratsch zu wohnen. Gowda grunzte unverbindlich. Mochte David davon halten, was er wollte.

Als der Jeep davonfuhr, verspürte Gowda beim Öffnen seines Gartentors leichte Unruhe.

Seine Royal Enfield Bullet war von einer dünnen Staubschicht überzogen. Stirnrunzelnd strich er mit dem Finger über Tank und Sitz. Eigentlich sollte Shanthi das Motorrad jeden Tag abwischen. Auch das Auto war eingestaubt, und zwischen Scheibenwischer und Windschutzscheibe hatten sich trockene Blätter verfangen.

Den Garten schien sie auch nicht gewässert zu haben. Der Jasmin, der sich an der Säule in der Verandaecke hinaufrankte, sah durstig aus, die Topfpflanzen welkten. Überall lag trockenes Laub herum.

Auf der Fußmatte häuften sich die Zeitungen der letzten zwei Tage. Verdutzt schloss Gowda die Tür auf. Wo war Shanthi? Es sah ihr gar nicht ähnlich, einfach nicht aufzutauchen, ohne ihm Bescheid zu sagen. Im Haus roch es leicht muffig. Als wäre abgeschlossen worden, bevor die gewischten Böden ganz getrocknet waren. Er öffnete nacheinander alle Fenster.

Dann ging er in die Küche und drehte den Hahn auf. Ein dünner Wasserstrahl tröpfelte heraus und versiegte. »Zum Teufel!«, sagte Gowda laut und hieb mit der Faust auf die Granitarbeitsplatte. Einen Moment lang stand er ratlos da, unschlüssig, was er als Nächstes tun sollte.

Verdrossen stapfte er in den Hausarbeitsraum hinter der Küche. Irgendwo hier war der Schalter für die Wasserpumpe. Er gehörte zu den Glücklichen, auf deren Grundstück Wasser gefunden wurde, als er danach bohren ließ. Bei hundertzwanzig Metern Bohrtiefe hatte er überlegt, die Sache abzublasen. »Wenn es so weitergeht, bohren wir noch durch den Planeten und machen ein Loch ins Weiße Haus«, hatte er gewitzelt. Der Mann mit dem Bohrer sah ihn ausdruckslos an. Was wollte der Polizist andeuten? Egal, am besten tat man so, als würde man nichts verstehen. Männern in Uniform war nicht zu trauen.

 

Doch bei hundertfünfundzwanzig Metern stieß der Bohrer auf Grundwasser. Das Wasser schoss mit solchem Druck heraus, dass es Gowda fast umwarf. Spontan hatte ihn Hochstimmung erfasst: Es fühlte sich an wie ein persönlicher Sieg.

Gowda fand den Schalter und legte ihn um. Zum Glück war Strom da. Stromausfälle gehörten zum neuen Bangalore. Die meisten Häuser, auch seins, verfügten über Notstrom, aber damit lief die Pumpe nicht. Jetzt brummte sie. Hoffentlich stieg das Wasser in die Rohrleitungen. Er öffnete die Tür, trat hinaus in den vernachlässigten Garten, ging zu dem Rohr, das aus dem Brunnen in den Wassertank führte, und hielt sein Ohr daran. Es war ein heißer Märznachmittag, am Himmel nicht eine einzige Wolke, doch die verzinkte Eisenleitung an seiner Wange war kühl, und er vernahm das beruhigende Rauschen von Wasser.

Jetzt blieb ihm nur zu warten. Roshan hatte ihm vor ein paar Tagen per WhatsApp einen Spruch geschickt: Ich bin heute eine Mischung aus schlafend und wach. Also schwach. Genau so ging es ihm. Er zog einen Stuhl heran und ließ sich darauf fallen, überhitzt und abgekämpft. Im Zug hatte er die halbe Nacht wach gelegen und war dann in unruhigen Schlaf gefallen, der ihn eher gerädert als erfrischt hatte. Die letzten fünf Tage waren aufreibend gewesen und hatten ihn der Fährte des abgängigen Chikka kein Stück näher gebracht.

Grübelnd schaute er auf sein Handy. Er sollte Mamtha anrufen. Auch Urmila erwartete, von ihm zu hören. Stattdessen rief er bei Shanthi an. Niemand nahm ab. Sein Blick fiel auf die mitgebrachte Mahlzeit auf dem Tisch. Aber er mochte nicht essen, ehe er sich Schweiß und Dreck vom Leib gewaschen hatte.

Kurz darauf hörte er das Platschen des überlaufenden Tanks. Er schaltete die Pumpe ab und zog sich auf dem Weg ins Badezimmer aus.

Gowda drehte die Dusche auf und stellte sich darunter, ließ das kalte Wasser seine müden Lebensgeister wecken. Er seifte sich mit einem Spritzer Duschgel ein. Urmila hatte darauf gedrängt, dass er sich Duschgel zulegte.

»Ist nicht so verräterisch, wenn ich herkomme und wir duschen wollen«, hatte sie gesagt, als sie zusammen unter der Dusche standen und sich gegenseitig einseiften, noch erhitzt vom Sex. Sie schnupperte an seinem Seifenstück. Mysore Sandelholz. Vorsichtig legte sie es wieder in die Schale.

Er runzelte die Stirn, schaute ihr prüfend ins Gesicht und konnte nicht an sich halten. »Das klingt, als hättest du Erfahrung mit so was.«

Sie starrte wütend zurück. Dann riss sie sich zusammen und sagte so eisig, dass sich seine Eier zusammenzogen: »Was unterstellst du mir da, Borei? Ich habe Freundinnen. Wir ­reden miteinander. Ich muss nicht unbedingt alles selbst erlebt ­haben, worüber ich Bescheid weiß.«

Gowda zog sie an sich und bat wortlos um Verzeihung. Wie uns die Liebe zeigt, wer wir sind, dachte er. Ich bin das schreckliche Klischee, das ich nie werden wollte. Ein Mann mittleren Alters mit schlaffen Wangen und schlaffem Geist, der sich an Strohhalme klammert – Hoffnung in Gestalt einer Frau, die mich so gekannt hat, wie ich einst war. Ich zweifle an mir und an allem, was mich ausmacht, also auch an ihr. Denn das ist es, was aus mir geworden ist. Ein Mann, der nichts weiß.

»Sag es, Borei«, murmelte sie an seiner Brust. »Sag mir, was du denkst, was immer es auch ist.«

Er hatte den Kopf geschüttelt, sie auf die Stirn geküsst und eine große Wärme empfunden. Liebe, dieses Wort benutzte er selbst insgeheim schon lange nicht mehr. »Ich werde manchmal unsicher«, hatte er gesagt. »Ich weiß nicht, was du mit mir machst, und dann …«

Sie legte den Finger auf das Tattoo an seinem Arm und zog die Linien von Flügeln und Rad nach. Die Tätowierung war eine spontane Entscheidung gewesen, er hatte ein Bild gewählt, das für die Freiheit der Straße stand, das Lied des Windes, das Dröhnen des Bullet-Motors, den Lebenstraum, einfach immer weiterzufahren. Vor Mamtha hatte er es erst einmal geheim gehalten, aus Angst vor ihrem Spott oder, schlimmer noch, ihren Prophezeiungen, was für Krankheiten man sich in einem Tätowierstudio einfangen konnte.

»Ich wollte immer mal mit einem tätowierten Mann schlafen«, sagte Urmila, ohne die Miene zu verziehen. »Du bist also bloß ein Häkchen auf meiner Liste.«

Er starrte sie einen Moment lang an. Dann grinste er und zog sie wieder an sich.

Sie schmiegte das Gesicht an seine Brust und schlang die Arme um ihn. »Du gibst mir, was mir noch nie jemand gegeben hat«, sagte sie. Er bemerkte, dass auch sie das Wort Liebe vermied. Der Strahl der Dusche spülte die Seife von ihren Körpern.

Es klingelte. Gowda schreckte aus seinen Gedanken auf. Es klingelte erneut. Ein hartnäckiger, nervtötender Ton, der sich nicht ignorieren ließ. Widerwillig stellte er die Dusche ab. Wer kam um diese Zeit zu Besuch? Er wickelte sich ein Handtuch um die Hüften, ging tropfend zur Haustür und spähte durch den Spion. Santosh stand auf der Matte. Gowda öffnete die Tür.

»Sie haben abgenommen«, sagte Santosh zur Begrüßung.

Unwillkürlich berührte Gowda seine Brust. Die Haare dort wurden langsam grau.

»Und Sie haben trainiert?«

Hörte er da etwa Wohlwollen in der Stimme des Jungen? Gowda ärgerte sich. »Hast du mich jetzt genug bestaunt? Kann ich dann zu Ende duschen?« Er gab sich keine Mühe, seinen Unmut zu verbergen.

»Ach, ich hab Sie beim Duschen gestört?«, fragte Santosh ohne jede Verlegenheit.

»Was ist aus deiner Stimmtherapie geworden?«

Santosh zuckte die Achseln. »Das kann warten. Ich habe den Termin auf später verschoben.«

»Setz dich«, sagte Gowda und tapste zurück ins Badezimmer.

Als er in seinem üblichen Outfit aus Jogginghose und Polohemd ins Wohnzimmer trat, schob Santosh eine auf dem Tisch liegende Fallakte von sich, in der er geblättert hatte.

Anstelle des fröhlichen Santosh hatte Gowda einen Mann vor sich, dessen Gesichtszüge starr wie eine Maske waren. »Er ist immer noch da draußen.« Santoshs grimmiges Flüstern füllte die Stille.

Gowda nickte.

»Aber warum, Sir?« Das Flüstern wurde lauter. »Warum ist er nicht hinter Gittern? Warum wurde überhaupt Kaution gewährt? Ich dachte, Sektion 302 IPC ist ein Verbrechen, das keine Kaution zulässt. Wer einen Mord begeht, wird zum Tod oder zu lebenslanger Haft verurteilt und kann zusätzlich mit einer Geldstrafe belegt werden.«

Gowda ließ sich auf einen Stuhl fallen. Er schaute auf seine Hände, während er seine Gedanken zu ordnen und die richtigen Worte zu finden versuchte.

»Als wir dich ins Krankenhaus brachten, dachte ich nur daran, wie wir es schaffen, dass du überlebst. Chikka wurde festgenommen. Er hat ausgesagt, dass er den Corporator erschossen hat, um dich zu retten. Es wurde eine Kaution festgesetzt, was bei 302-Fällen sonst nie geschieht. Er hatte gestanden, er war der Held, der dich, einen von uns, vor dem sicheren Tod bewahrt hatte. Und er wusste genau, wie man Strippen zieht. Außerdem war der gesamte Besitz des Corporators auf Chikka überschrieben. Er hinterlegte die Besitzurkunden als Sicherheit, und angesichts der kriminellen Vergangenheit seines Bruders machten seine Anwälte geltend, dass im Untersuchungsgefängnis von Parappagrahara sein Leben in Gefahr wäre. Und dazu kam dann noch mein verdammt beschissenes Timing!«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Santosh.

»Wie du dich vielleicht erinnerst, passierte das alles an einem Donnerstagabend. Bis man dich zusammengeflickt und auf die Intensivstation verlegt hatte, war Freitagmittag. Ich hatte noch keine Zeit gehabt, dein Handy zu überprüfen. Dazu kam ich erst am Abend, und dann ging ich sofort zum Staatsanwalt. Aber da war Chikka bereits auf Kaution entlassen worden und abgängig«, sagte Gowda. »Der Staatsanwalt meinte, er hat noch nie jemanden so schnell rennen sehen. Wie der Blitz.«