Gewaltkette

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Still aß Rekha ihr Roti. Machte sie einen Fehler? Eine Wolke aus gelben Schmetterlingen flatterte in ihrer Magengrube, die sich plötzlich ganz hohl anfühlte.

Moina starrte an die Decke und dachte an den Himmel. Sie wusste nicht, was über der Decke kam – der Himmel oder ein weiteres Stockwerk. Aber sie dachte sich lieber einen weiten blauen Himmel, denn nur so konnte sie glauben, dass es eines Tages vorbei sein würde. Die andere Möglichkeit, dass sie auf alle Ewigkeit ohne jede Hoffnung in diese Hölle verdammt war, bewirkte, dass sie schreien und um sich schlagen und ihren Freiern gegen das Schienbein treten wollte. Das würde den Wächtern nicht gefallen. Und die Strafe war schlimmer als Prügel. Also lag sie da und stellte sich einen Himmel vor, an dem eine Sonne strahlte. Sie hatte vergessen, wie die Sonne aussah. Oder die Wolken. Oder die Bäume. Oder wie sich ein Windhauch anfühlte.

Der Klient war betrunken. Das konnte sie riechen. Der schale Dunst von Alkohol und sein fauliger Atem, ein von innen verdorrender Körper. Er durchdrang den alles überlagernden Mief, der sie hier umgab, sie durchzog und von ihr ausströmte – nach Sex, Schweiß, Dreck und Hoffnungslosigkeit.

Wann hatte sie zuletzt gebadet? Sie wusste es nicht mehr. Vor drei Tagen oder fünf? Zum Waschen gaben sie ihr einen kleinen Eimer mit Wasser. Er wurde in eine Ecke ihres Verschlags gestellt. Und Parfüm, mit dem sie sich besprühen sollte. Und eine Dose Puder. »Den Klienten ist egal, wie dein Gesicht aussieht, wenn sie dich ficken. Aber jeder, der hier reinkommt, glaubt, er wäre der Erste … also sieh zu, dass du nicht nach einem anderen Kerl riechst«, hatte der große Wächter gesagt, Daulat Ali. Er sprach ein bisschen Bengali, deswegen war es an ihm, ihr zu sagen, was sie zu tun und zu lassen hatte.

Klient. Ihre Augen weiteten sich. An ihrem ersten Tag hatten sie nacheinander fünf Männer gefickt. Wer oder was war ein Klient?

»Was?«, hatte er gefragt, als er ihre Verwirrung sah.

»Gaard, was ist ein Klient?«, fragte Moina.

»Mokkel.« Er benutzte das Bengali-Wort. »Alle Männer, die dich ficken. Egal, wer kommt. Ob dunkel oder hell, groß oder klein, dick oder dünn … es sind alles Klienten, und wenn ­nötig, sprichst du sie mit Bava an.«

»Bava?«

»Geliebter, Gatte, Herr, keine Ahnung … was macht das schon?«, hatte Daulat Ali sie angeschnauzt, ausgeholt und ihr einen Schlag verpasst, dass sie gegen die Wand fiel. Ende der Unterhaltung.

Moina hatte in ihrem Verschlag gekauert und nicht zu sprechen gewagt. Was machte es schon, der Wächter hatte recht. Sie würde sie so nennen, wie es verlangt wurde. Bava. Shah Rukh Khan. Sachin Tendulkar.

Als sie damals gebracht worden war, hatten sich Daulat Ali und zwei andere Wächter, die sie danach nie wieder zu Gesicht bekam, ihrer angenommen. Sie hatten sie hungern lassen, sie geprügelt und auf so viele Arten gequält, dass sie alles getan hätte, um in Ruhe gelassen zu werden. Dann wurde ihr die ­Lösung präsentiert. Sie würde eine Khanki werden müssen. Eine Nutte. Eine Hure.

Die Erinnerung an diese furchtbaren Tage ließ sie erstarren. Der auf ihr liegende Klient fühlte, wie sich ihre Muskeln um ihn herum verkrampften. Grunzend fiel er über ihr zusammen und flutete sie mit einer Nässe, die sie nur noch als etwas Klebriges auf der Innenseite ihrer Schenkel wahrnahm.

Der Klient erhob sich, zog seine Kleidung zurecht und ging. Sie blieb noch eine Weile auf dem Rücken liegen, den Kopf auf einem Arm. Mit der anderen Hand griff sie nach einem unter dem Bett liegenden Lumpen und wischte sich ab. Dann ­drehte sie sich auf die Seite und rollte sich zusammen. Langsam ­nuckelte sie an ihrem Daumen. Ma, dachte sie. Ma, wo bist du?

Hinter der Sperrholzwand ihres Verschlags erklang ein schlurfendes Geräusch. Der nächste Klient war auf dem Weg zu ihr. In ihr stieg ein Schrei auf. An den meisten Tagen hatte sie sieben oder acht. Samstags ging die Zahl nach oben, und an Festtagen zählte sie nicht mehr mit.

Daulat Ali zog das Tuch beiseite, das als Vorhang diente.

»Wie spät ist es?«, fragte sie.

Er runzelte die Stirn. »Wieso? Fickst du nach zwei Uhr nachmittags nicht mehr?«

Ein Klopfen an der Trennwand. In fünf Minuten würde ein Mann reinkommen. Der kleinere der Wächter, Muniraju, war von hier. Er sprach ein bisschen Hindi und sah ihr nie in die Augen. Seine Aufgabe war die Buchhaltung. Penibel trug er ­alles in ein dickes Notizbuch ein. Die Namen der Klienten, die Dauer ihres Aufenthalts und die kassierte Summe.

Einmal, ein einziges Mal, am zweiten Tag, als sie noch Willenskraft besaß, hatte sich Moina in den großen Raum hinter den vier Sperrholzverschlägen geschlichen, die bis auf ihren alle leer waren, und in dem Notizbuch geblättert. Die Schrift war ihr unverständlich, aber die Zahlen konnte sie lesen. Sie war bis dahin von sieben Männern gefickt worden, und jeder Fick hatte tausend Rupien eingebracht. Oben auf jeder Seite stand ein Schnörkel: . Sie erkannte ihn wieder, vor den Tempeln in Faridpur hatte sie so etwas schon mal gesehen.

Daulat Ali hatte sie dafür heftig geschlagen und ihr nichts zu essen gegeben. »Das ist das Kassenbuch unseres Thekedar. Wie kannst du wagen, es zu berühren?« Er hatte sie an den Haaren zu ihrem kleinen Verschlag geschleift und hineingestoßen. Dann war er mit dem Gürtel auf sie losgegangen. »Du verlässt den Raum nur, wenn ich es dir erlaube«, hatte er gesagt, während der Gürtel in ihre Haut schnitt und die Schnalle Scharten hinterließ. Hinterher gab er ihr eine Salbe, die sie auf die Wunden streichen sollte.

An den Geräuschen erkannte sie, dass zwei weitere Mädchen eingetroffen waren. Dann hörte sie eine leise, heisere Stimme. Das musste der Thekedar sein, schloss sie aus der Ehrerbietung in Daulat Alis Tonfall. Dann noch zwei Männerstimmen, die sie nicht kannte.

Das zweite Klopfen. Munirajus Zeichen, dass sie sich fertig machen sollte. Ein Klient war da.

Sie hatte einen üblen Geschmack im Mund, ihre Gudh tat weh und war wund. Bevor sie hierhergekommen war, hatte sie niemals über ihre Vagina nachgedacht. Jetzt konnte sie an nichts anderes mehr denken. Das Wundsein, die schmerzhaften Krämpfe, die Verletzung ihres Innersten. Sie setzte sich auf, griff hinter sich und hakte den BH zu. Dann ging sie zu dem Eimer in der Ecke und hockte sich darüber. Sie schöpfte etwas Wasser in die hohle Hand und wusch sich. Das Wasser war kühl und linderte den stechenden Schmerz. Sie zog den Saum ihres Lehenga bis zu den Knöcheln herunter und zupfte die Bluse zurecht. Dann griff sie nach dem Deo und sprühte sich ein.

Blieb ihr noch Zeit zum Pinkeln? Es tat jedes Mal entsetzlich weh, und ihr Körper verkrampfte sich vor Widerwillen. Nur wenn sie es schaffte, sich zu entspannen, tröpfelte der Urin heraus, und dann fühlte sich jede Sekunde an, als würden tausend Rasierklingen den Kanal aufschlitzen, durch den er floss. Das dauerte seine Zeit, und man durfte Klienten nicht warten lassen.

Das Handy klingelte, kaum dass Shastri, der Teebudenbetreiber, es dem Mann mittleren Alters ausgehändigt hatte, der es abholen kam. Es war kurz nach vier am Nachmittag.

Eine Stunde zuvor war einer von Shastris Stammkunden vorbeigekommen, in Begleitung eines anderen Mannes. Sie wollten zusammen den Bus nach Tumkur nehmen, hatte der Stammkunde gesagt, als Shastri ihnen Plastikbecher mit Tee anbot.

Der andere Mann schien nach jemandem zu suchen, er ließ das Kommen und Gehen am Majestic-Busbahnhof nicht aus den Augen.

»Gibt es ein Problem, Sir?«, hatte Shastri gefragt.

»Eigentlich sollte sich mein Schwager hier mit mir treffen«, sagte der Mann mit bekümmerter Miene. »Würden Sie mir ­einen Gefallen tun?«

»Was denn?«, fragte Shastri alarmiert. Was mochte jetzt kommen?

»Nichts, weshalb Sie so besorgt dreinschauen müssten.« Der Kunde lachte. »Ich schicke meinem Schwager eine Nachricht, dass er herkommen soll. Sie brauchen ihm nur das hier zu geben.« Er hielt Shastri ein kleines Päckchen hin.

»Was ist das?«

»Ein Handy. Ich kann’s Ihnen zeigen.« Der Mann öffnete die Plastikverpackung.

»Nein, nein, schon gut«, sagte Shastri. »Man kann ja heutzutage nicht vorsichtig genug sein.«

Der Mann nickte. Er drückte Shastri einen Fünfzig-Rupien-Schein in die Hand. »Mein Schwager heißt Shankar. Und ich bin Ramesh. Er wird meinen Namen nennen, damit Sie wissen, dass er es ist.«

Shastri lächelte. Der Tee kostete acht Rupien. Fünfzig Rupien für die Übergabe eines Handys, das war ein Geldregen! »Natürlich, gern. Machen Sie sich keine Sorgen!«, rief er den beiden Männern nach, als sie gingen.

Der Schwager kam erst eine Stunde später. »Stau«, sagte er, als er nach dem Handy fragte. »Und geben Sie mir einen Tee«, fügte er hinzu.

Shastri reichte ihm das Handy und schenkte gerade den Tee ein, als es klingelte.

»Ja«, meldete sich der Mann namens Shankar.

Shastri gab sich beschäftigt, während er lauschte.

»Mein Klient ist ein sehr wichtiger Mann«, sagte Shankar. »Also brauchen wir was ganz Besonderes. Gut … Sieben Uhr abends … Wie heißt du noch mal? Siddharth? Ich schicke dir eine SMS mit dem Namen des Hotels. Ein kleines Boutique-Hotel am Flughafen. Google es einfach.«

Shastri konnte sein Glück kaum fassen, als der Gast das Gespräch beendete und einen Fünfzig-Rupien-Schein auf die Theke legte. Er sah zu, wie der Mann etwas eintippte. Er tat, als sähe er nicht, wie der Mann die Abdeckung des Handys öffnete und die SIM-Karte herausnahm. Er schaute demonstrativ weg und ging auf die andere Seite seiner kleinen Bude. Er war ziemlich sicher, dass in den letzten paar Minuten irgendeine schräge, schändliche Übereinkunft getroffen worden war. Und doch hatte alles recht harmlos gewirkt.

 

Er sah, wie der Mann die SIM-Karte zerbrach und fallen ließ. Dann war er verschwunden.

Dr. Sanjay Rathore sah auf seine Armbanduhr. Zehn nach sechs. Sein nächster Termin stand in fünf Minuten an. Er furchte die Stirn. Hoffentlich kam der Mann pünktlich. Er hasste es, wenn man ihn warten ließ. Und es war ja nicht einmal ein Mandant. Bloß ein Mittelsmann, ein Grundstücksmakler, der ihm Zugang zum Aggregator des Stücks Land versprochen hatte, das einer seiner Mandanten unbedingt erwerben wollte. Die Uhr schlug das Viertel. Mit dem Ansetzen des Termins auf achtzehn Uhr fünfzehn hoffte er den Makler einzuschüchtern.

Das hatte er in einem Spielfilm gesehen, der letzte Woche im Flugzeug gelaufen war. An den Film oder die Reise erinnerte er sich kaum noch. Irgendwann waren all die internationalen Flüge, Orte und Filme nicht mehr auseinanderzuhalten. Doch dieses Detail hatte sich direkt in seinem Hippocampus festgesetzt. Er verabscheute Schlamperei, und wenn Leute Albernheiten von sich gaben wie: ›Behalte diese Erinnerung in deinem Herzen‹, dann wollte er sie am liebsten grob schütteln und sagen: »Das Herz behält keine Erinnerungen. Es ist bloß ein Organ, das als Pumpe dient. Erinnerungen werden im Gehirn gebildet und aufbewahrt.«

Wirtschaftsrecht war ein Schlachtfeld, und er war immer auf der Suche nach originellen Einschüchterungsmethoden für sein Waffenarsenal. Ein Termin um Viertel nach war ein brillantes Manöver. Niemand brachte es fertig, absolut pünktlich zu kommen. Das verschaffte ihm einen moralischen Vorteil, der es ihm erlaubte, den Ton des Gesprächs zu bestimmen. Und für dieses Gespräch brauchte er unbedingt einen solchen Vorteil.

Grundstücksmakler waren bösartig wie Haie und hart­näckig wie Tintenfische, unbeweglich wie Seeigel und schleimig wie Algen. Rathore sah in den goldgerahmten Flurspiegel und grinste. Ihm gefiel die Präzision seines Gedankengangs, wie er mit seiner Metaphernkette strikt beim Meer geblieben war.

Sein Blick fiel auf den Tisch vor dem Spiegel. Der steinerne Khmer-Buddha, den er aus Kambodscha mitgebracht hatte, war um fünf Zentimeter verschoben, was das Arrange­ment zerstörte. Die Frau, die zum Saubermachen kam, war ein schlampiges Geschöpf. Zeit, sie loszuwerden, beschloss er, während er den Buddha wieder an seinen Platz rückte. Dann betrachtete er sich nochmals im Spiegel und zwirbelte ein Haar in seiner Augenbraue.

Er war ein gutaussehender Mann mit einem markanten Gesicht aus Flächen und Schatten. Seine Brauen waren buschig, zum Ausgleich war er immer glattrasiert. Er spielte zweimal pro Woche Squash und schwamm täglich fünfzehn Bahnen. Derzeit erwog er, einen Krav Maga-Kurs zu belegen, um seine Kampfkraft zu verbessern.

Er wusste, wie er auf andere wirkte: ansehnlich, stark, fit und zu allem bereit. Nur eins konnte er nicht ändern. Er war klein. Mit seinen eins sechzig in Socken fühlte er sich immer im Nachteil, wenn sein Gegenüber ihn überragte. Große Frauen hingegen mochte er. Fand sie sexy.

Es klingelte. Er betätigte die Gegensprechanlage. »Wer ist da?«

Eine Pause, dann eine leise, heisere Stimme in klarem, akzentfreiem Englisch. »Dr. Rathore, hier ist Pujary. Ich komme wegen der hundert Morgen in Hoskote.«

In wenigen Minuten würde der Tempel nach der abendlichen Puja schließen. Er hatte sich die ganze Hinfahrt zum Tempel immer wieder entschuldigt, bis sie ihm die Hand auf den Arm legte und murmelte: »Schon gut. Wir können ein andermal wiederkommen.«

»Nein, es ist nicht gut.« Er verzog das Gesicht. »Ich weiß, dass du aus gutem Grund dorthin wolltest, und ich hätte für heute Abend keine Termine machen dürfen.«

»Gatte, halt den Mund«, sagte sie sanft.

Er sah sie an und lächelte. »Ja, Gattin.«

Sie drückte zärtlich seinen Arm. Mit acht Jahren hatten sie sich in der Schule kennengelernt. Sie die Tochter des Schuldirektors, er der Sohn des Tempelpriesters, in einem kleinen Dorf in der Nähe von Latur. Seitdem waren sie zusammen, erst in der Schule, dann auf dem College. Er war dann auf die Universität gegangen, während sie zu Hause blieb und an ­ihrer Aussteuer arbeitete, bis er um ihre Hand anhielt. Es hatte ­ohnehin nie jemand anderen gegeben.

Bei einem seiner Besuche in der Heimat hatten sie sich davongestohlen, um mit dem Rad zu den Kharosa-Höhlen zu fahren. Ein Ölfleck auf der Straße brachte sie ins Rutschen – er kam mit leichten Verletzungen davon, sie war von der Hüfte abwärts gelähmt. Falls ihre Familie Einwände gegen ihn gehabt hatte, lösten sich diese in Luft auf, als er die volle Verantwortung für den Unfall und ihr Leben übernahm. Da waren sie beide erst zwanzig.

Ein Jahr nach ihrer Hochzeit waren sie nach Bangalore gezogen. Zweiunddreißig Jahre Ehe, siebenundvierzig Jahre zusammen. Sie kannte den Wuchs jedes Härchens in jeder Pore seines Körpers. Sie wusste, dass auch er so fühlte. Und das bereitete ihr Sorgen.

»Hast du das alles nie satt?«, fragte sie.

»Wieso sagst du das?« Seine Hände umklammerten das Lenkrad. »Mache ich den Eindruck?«

»Wie kann jemand wie du sein? Jeden Tag, und das ist die Wahrheit, fast jeden Tag frage ich mich, ob ich dein Leben zerstört habe, dein Glück …«

»Ich bin der glücklichste Mann auf Erden. Du bist alles, was ich je wollte. Also hör auf mit dem Blödsinn«, sagte er mit ­einem gespielten Knurren. So hatte er sie umworben, als sie acht waren. Er der jagende Löwe, sie das verlorene Reh.

Er parkte nahe am Eingang zum Tempel. Dann hob er sie vorsichtig auf seine Arme und trug sie nach drinnen. Es war kaum noch jemand da, doch der Priester wartete auf sie.

Er setzte sie vor einer Wand auf dem Boden ab und ging zurück zum Auto, um die Opfergaben zu holen.

»Wer ist das?«, fragte einer der Gläubigen.

Ein anderer zuckte die Achseln. »Jemand, der sehr reich ist. Warum sonst wäre der Tempel so spät noch offen? Ich habe ihn und seine Frau schon ein paarmal hier gesehen.«

Pujary kam mit einer Platte voll mit Obst und Blumen, einer Kokosnuss und einem kleinen Geldbündel zurück. Der Priester machte große Augen. Was auf dem Archana-Teller lag, gehörte ihm. Das mussten an die tausend Rupien sein. Er konnte seine Freude nicht verbergen.

Der Priester nahm die Platte entgegen. Die Frau sagte zu ihm: »Bitte sprechen Sie die Archana im Namen von Sharad Pujary, Revati Nakshatra, Bharadwaja Gotra.«

Der Priester entzündete Lichter und läutete die Glocke. Er hob eine Leuchte in die Höhe und begann die Namen der Gottheit zu singen, alle einhundertacht, während er um ihre Statue herumschritt. Göttliche Mächte wurden beschworen, um Sharad Pujary Unversehrtheit, Gesundheit, Reichtum und Zufriedenheit zu bescheren.

»Glücklich?«, fragte er sie, als sie auf dem Heimweg waren.

»Wann auch nicht, mein Gatte?« Sie erwiderte sein Lächeln. »Solange du bei mir bist …«

»Ich muss morgen nach Chennai«, sagte er. Gita nickte, ohne ihn anzusehen. Sie mochte es nicht, wenn er die Stadt verließ. »Zum Abendessen bin ich zu Hause«, sagte er besänftigend.

»Um elf Uhr abends.«

»Nein, zu unserer Essenszeit. Versprochen.«

Später, nachdem sie zu Abend gegessen hatten und er sie ins Bett vor den Fernseher gelegt hatte, ging er nach unten in sein Arbeitszimmer, fuhr seinen Laptop hoch und stellte das Handy an. Er setzte sich an den Schreibtisch und schaute die Unmenge an E-Mails in seinem Posteingang und die vielen verpassten Anrufe auf dem Handy durch.

Das Telefon klingelte. Er warf einen Blick darauf und nahm ab. »Ich will weder Entschuldigungen noch Erklärungen. Gib mir einfach den Tagesbericht«, sagte er. Seine heisere Stimme blieb unverändert ruhig.

Dem Mann am anderen Ende der Leitung stellten sich die Nackenhaare auf, denn er vernahm die Drohung in Pujarys Ton.

Freitag, 6. März

Der Zug hielt mit einem Ruck, gefolgt von einem langen Stöhnen und Zittern. Gowda öffnete die Augen und starrte an die Metalldecke des Abteils, ohne sich erinnern zu können, wo er war.

Dann fiel es ihm wieder ein: der Prashanthi Express aus Bhubaneshwar auf dem Weg nach Bangalore. Er sah auf die Uhr. Halb zwölf am Vormittag. Wie lange hatte er geschlafen? Er stemmte sich auf einen Ellenbogen und spähte von seiner Schlafkoje hinab. Police Constable Byrappa war ganz in sein Handydisplay versunken, und Police Constable Devraj spielte Sudoku.

Byrappa sah auf und Gowda in die Augen. »Wo sind wir?«, fragte Gowda.

»Wir haben gerade den Cantonment-Bahnhof verlassen, Sir«, sagte Byrappa.

Gowda sah ihn fassungslos an. »Aber warum habt ihr mich nicht geweckt? Wir hätten aussteigen können.«

»Ich hab’s versucht«, murmelte Byrappa. »Aber Sie haben gesagt, ich soll die Klappe halten oder Sie würden mich zum Schweigen bringen.« Devraj bestätigte das mit einem eifrigen Nicken. »Außerdem, Sir, haben Sie im Schlaf so friedlich ausgesehen, dass wir Sie nicht stören mochten.«

Gowda stöhnte und ließ sich aufs Kissen zurücksinken. Die beiden Constables hätten eigentlich in einem Schlafsesselabteil fahren sollen, wie es ihrem Rang entsprach. Aber in dem klimatisierten Abteil, das ihm zustand, war er auf zwei unbesetzte Liegen gestoßen, hatte für ein Upgrade gesorgt und die Differenz aus eigener Tasche gezahlt. Woraufhin sich die beiden Trottel aus falsch verstandener Dankbarkeit nicht die Mühe gemacht hatten, ihn zu wecken.

Eingestiegen waren sie am Vorabend um kurz nach elf am Bahnhof Markapur Road. Bis drei Uhr früh hatte Gowda keinen Schlaf gefunden. Wieder mal eine völlig ergebnislose Reise. Und er hatte gewusst, dass es so kommen würde, noch bevor sie nach Markapur aufbrachen. Sie hatten eine Meldung über die Festnahme eines Mannes hereinbekommen, der ­einen Geldautomaten ausgeraubt hatte. Die Vorgehensweise ließ vermuten, dass er zu einer Gang gehören könnte, die in Gowdas Revier zwei Automaten geplündert hatte. Assistant Commissioner of Police Vidyaprasad verfügte, dass Gowda dem nachgehen und den Beschuldigten, wenn nötig, mitbringen sollte. Das hätte auch ein Sub-Inspector erledigen können, aber ACP Vidyaprasad hatte Gowda nicht verziehen, dass der ihn bei der letzten Ermittlung bloßgestellt hatte. Also musste Inspector Gowda mit zwei Constables im Schlepptau auf Erkundungsreise gehen. Normalerweise hätte er dagegen protestiert, aber es gab da noch etwas, worum er sich kümmern wollte. Und eine Dienstreise bot den perfekten Vorwand, um etwas anzugehen, das seit sieben Monaten auf Erledigung wartete.

Immer mal wieder kam er ins Brüten. Es war eine Serie von scheinbar zusammenhangslosen Morden gewesen, bis auf die klaffende Schnittwunde in den Kehlen der Opfer. Und als er dem Täter endlich auf die Spur kam, war es zu spät. Er brauchte nur an jenen grauenhaften Augenblick auf dem Fußboden der Fabrik zu denken, schon packte ihn die Furcht wieder wie eine kalte Klaue.

Er schloss die Augen und hielt den Atem an. Ruhig, ruhig, sagte er zu seinem wild pochenden Herz. Sieben Monate waren vergangen, aber es fühlte sich an, als wären die Ereignisse jener Nacht gerade erst geschehen. Und so würde es wohl auch bleiben, bis Sub-Inspector Santosh wieder auf den Beinen war und der Mörder endlich im Gefängnis auf seine Verhandlung wartete, statt auf Kaution auf freiem Fuß zu sein, mittlerweile als »abgängig« eingestuft.

Kurz nach zwölf kam der Zug auf Bahnsteig 3 der Bangalore City Station ruckelnd zum Stehen. Gowda zog seinen Koffer unter der untersten Pritsche hervor und eilte zur Tür. Er hatte ein pelziges Gefühl im Mund und verquollene Augen. Erst mal ein Kaffee und etwas zu essen. Bis dahin würde PC David mit dem Jeep eingetroffen sein.

Byrappa und Devraj warteten schon auf dem Bahnsteig, während Gowda sich von der Waggontür aus einen Überblick verschaffte. Nur ein paar Meter weiter befand sich die Rettungsstation von Bosco. Als sie daran vorbeikamen, warf ­Gowda einen Blick hinein. Der Raum war klein und vollgestopft mit einem Tisch, ein paar Stühlen und einer langen Bank. Ein Wandventilator rührte die heiße Luft um. Zwei Kinder unbestimmten Alters saßen herum, eine Frau und ein Mann redeten mit ihnen. Unter einem Stuhl schlief ein Hund.

»Die Bahn verlangt von den Bosco-Leuten dieselbe Miete wie von einem Straßenhändler. Das ist kriminell, Sir! Zwanzigtausend Rupien im Monat, habe ich gehört. Jemand sollte was unternehmen!«, empörte sich Devraj.

 

»Woher weißt du das?«, fragte Byrappa und betrachtete die Plakate.

»Meine Schwester arbeitet hier mit. Sie hat’s mir erzählt.«

Gowda nickte zustimmend. Sein alter Collegefreund ­Michael hatte ihm auch schon davon berichtet. Michael Hunt war vor sieben Monaten nach Bangalore zurückgekehrt, um ein geerbtes Haus in Whitefield zu verkaufen, und hatte sich zum Bleiben entschieden. »Was soll ich denn noch in Melbourne?«, hatte er bei einem Telefonat vor zwei Monaten gesagt. »Nein, Bob, ich muss da raus und was tun.«

Gowda hatte bei dem Wort gelächelt: Bob. »Was denn, Machan?«

Wie leicht waren sie wieder in ihre Jugendsprache aus längst vergangenen Tagen am St. Joseph’s College verfallen. Manchmal kam ihm in den Sinn, dass nur Michael und Urmila noch wussten, wie er früher gewesen war. Der große starke Basketballheld, der nie einen Korb verfehlte.

»Es gibt da so eine NGO, die sich um Kinder kümmert. Nennt sich Bosco«, sagte Michael. »Das ist nicht mehr die Stadt, in der wir beide aufgewachsen sind. Die Bosco-Leute nehmen sich gefährdeter Kinder und Jugendlicher an, von denen gibt es unglaublich viele – Kinderarbeiter, Ausgesetzte und Waisen, Opfer von Drogenmissbrauch, Opfer von sexuellem Missbrauch, Straßenkinder, Lumpensammler. Sie haben sieben Therapiezentren und sechs Auffangstationen, um an die Kinder heranzukommen. Es ist nicht einfach, das alles mit Leuten zu besetzen und am Laufen zu halten. Daher habe ich mir überlegt, ehrenamtlich mitzuarbeiten. Außerdem kann ich nicht den ganzen Tag zu Hause hocken und das Essen in mich reinstopfen, das Narsamma mir alle paar Stunden auftischt.«

Gowda trommelte nachdenklich mit den Fingern auf den Tisch, während Michael ihm mehr von seiner ehrenamtlichen Arbeit erzählte. »Machan, du solltest Urmila fragen, ob sie nicht auch mitmachen will«, warf er leise ein, als Michael zwischendurch Luft holte.

Am anderen Ende der Leitung trat Schweigen ein. Beredtes Schweigen, dachte Gowda. »Alles okay zwischen euch beiden?«, fragte Michael schließlich.

»Alles gut. Aber sie hat zu viel Zeit und nicht genug zu tun«, sagte Gowda. »Außerdem würde ihr genau so etwas sinnvoll erscheinen.«

Und mir etwas Luft verschaffen, dachte er beklommen. Das Problem mit Frauen war, dass sie erwarteten, die Flitterwochen würden ewig dauern. Das Adrenalin, die Erregung, die Anrufe, die Nachrichten, die heimlichen Treffen der ersten Monate waren zu etwas Beständigerem, aber auch Gesetzterem geworden.

Urmila, das spürte er, war nicht zufrieden damit. Aber er konnte das aufgeputschte, fiebrige Teenagergebaren nicht ewig fortsetzen. »Ich bin eher ein kalter, unemotionaler Typ«, hatte er wieder und wieder beteuert.

Er fühlte, wie ihr Blick ihm totale Ehrlichkeit abverlangte. Aber er wusste nicht, wie man sagte, was sie hören wollte. Was für Worte sollte er benutzen, welchen Ton anschlagen? In Wahrheit hatte Gowda nie gedacht, dass seine Affäre mit Urmila von Dauer sein würde. Er hatte angenommen, früher oder später würde sie wie die meisten Frauen von ihm verlangen, sich zwischen ihr und seiner Ehefrau zu entscheiden. Und seine Unfähigkeit dazu würde das Ende der Beziehung bedeuten. Aber Urmila vermied es, auch nur Mamthas Namen zu erwähnen. Als ob seine Frau gar nicht existierte. Es half, dass Mamtha als Ärztin in einem Gesundheitszentrum in Hassan arbeitete, hundertneunzig Kilometer von Bangalore entfernt. Ein Posten, den Gowda ihr hatte besorgen müssen, weil ihr gemeinsamer Sohn Roshan in Hassan Medizin studierte und jemand vor Ort ein Auge auf ihn haben musste. Doch in Wahrheit wussten sie beide, dass sie die Gegend verabscheute, in der Gowda ihr Haus gebaut hatte. Dies war ihre Form von Protest.

Urmila verlangte außer seiner Gesellschaft wenig von ihm, und er hatte geglaubt, sie würde irgendwann genug von ihm haben. Sie lebten in so völlig unterschiedlichen Welten. Und doch dachte er beim Aufwachen meistens an sie und vermisste sie, wenn er nichts von ihr hörte. Er wollte Urmila beschützen. War das Liebe? Da er seine Gefühle nur ungern einordnete, verwarf er das Wort schnell wieder.

Sie sah das Spiel der Emotionen auf seinem Gesicht und schüttelte bekümmert den Kopf. »Du bist nicht kalt, Borei. Liegt es an mir? Findest du mich nicht mehr attraktiv?«, fragte sie leise, und Gowda plagten Schuldgefühle, weil er die Frau an seiner Seite verletzt hatte.

Er nahm ihre Hand. »Nicht«, sagte er. »Du weißt, dass das nicht wahr ist.«

Sie braucht eine sinnvolle Aufgabe, hatte er damals gedacht. So überdauert Liebe: Wenn jeder seinen eigenen Weg geht, anstatt den Partner zu einem Projekt zu machen. Sie brauchte etwas Bedeutsameres in ihrem Leben als bloß ihn.

»Du hast immer Zeit für mich gehabt. Aber jetzt muss ich fast darum betteln, dich mal zu Gesicht zu bekommen«, hatte sie gesagt, als sie es zuletzt geschafft hatten, ein paar gemeinsame Stunden zu verbringen.

»Ich habe einfach doppelt so viel Arbeit wie früher«, hatte er ihr zu erklären versucht. Doch es hatte sie nicht überzeugt.

»Ruf sie an, Machan«, sagte Gowda nochmals zu ­Michael. Hier lag die Lösung zum Entwirren der Knoten zwischen ­Urmila und ihm.

Michael musste nicht lange überredet werden. »Es wäre gut, jemanden wie sie an Bord zu haben.«

Gowda sah sich auf dem Bahnsteig um und fragte sich, ob ­Michael oder Urmila Dienst hatten. Normalerweise arbeiteten sie freitags hier. Er sah auf seine verlässliche, mechanisch aufziehbare HMT-Armbanduhr, die er trug, obwohl er inzwischen drei andere Uhren geschenkt bekommen hatte. Zeit, sich auf den Weg zu machen.

»Also los«, sagte er, straffte sich und ging schnellen Schrittes auf die Treppe zu.

Draußen vor dem Bahnhof hockten die Leute in Scharen um die Säulen des Portals herum. Als David mit dem Polizeijeep vom Parkplatz gefahren kam, fiel Gowdas Blick auf eine Gruppe Wanderarbeiter. Männer, Frauen und Kinder mit Taschen, Körben und Bündeln. Einige schliefen fest, andere unterhielten sich, zwischen den Schlafenden krabbelte ein Baby umher.

Gowda nahm auf dem Beifahrersitz Platz, Byrappa und Devraj setzten sich nach hinten. Gowda fühlte das Telefon in seiner Tasche vibrieren, zog es heraus und schaute aufs Display. Zwei Nachrichten. Eine von Urmila: »G, wieder da?« Die andere von Mamtha: »Angekommen?«

Gowda musste schlucken. »Auf dem Heimweg. Melde mich später.« Er schickte die Nachricht an beide Frauen. Wie hatte es so weit kommen können, fragte er sich mit einem Anflug von Widerwillen. Wie war aus ihm ein Mann mit einer Ehefrau und einer Geliebten geworden? Der beiden dieselbe Nachricht schickte und sich nicht einmal die Mühe machte, zwei unterschiedliche Texte zu tippen? Wie ein nasses Tuch senkte sich die Müdigkeit auf ihn herab.

Niemand sprach, bis sie vor dem Adiga an der K. G. Road hielten.

»Wir könnten auch gleich hier zu Mittag essen«, schlug Gowda vor.

Die beiden Constables sahen sich mit schlecht verhohlener Bestürzung an. »Sir«, sagte Byrappa, »wir waren fast fünf Tage weg. Wir würden lieber zu Hause essen.«

Gowda nickte. »Dann nehme ich mir eben was mit«, sagte er und ging seine Bestellung aufgeben. »Ich habe meiner Hausangestellten nicht gesagt, dass wir heute zurückkommen, sonst hätte sie etwas gekocht«, fügte er hinzu.

Und schon wieder ein verstörender Gedanke: Wie ist aus mir bloß ein Mann geworden, der zwei Frauen hat und trotzdem niemanden, mit dem er eine Mahlzeit teilen kann?

»Sir, warten Sie ruhig im Jeep«, sagte Byrappa schnell, als er Gowdas verbissene Miene sah. Der entspannte, beinahe lebenslustige und umgängliche Gowda der letzten fünf Tage schien wieder auf dem Rückzug.

Gowda setzte sich in den Jeep. David steckte sein Handy weg. Was wohl in seinem Leben vor sich geht, fragte sich Gowda, als er den seltsam schuldbewussten Gesichtsausdruck seines Constable bemerkte.