Zwischen Knast und Alltag

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Annonce endgültig abgehakt

Ich muss mich da in etwas hineingesteigert haben. Das kann überhaupt nicht sein. John Jackson ist ganz sicher nicht der John, dem ich vor vierzehn Jahren endlose Stunden hinterhergetrauert hatte. Das Foto hier auf Facebook: Zugegeben, es sieht ihm ein wenig ähnlich, aber erstens ist es ziemlich unscharf, zweitens hatte John damals viel längere Haare und drittens ist es vierzehn Jahre her, dass wir uns zuletzt gesehen haben. Was weiß ich, wie John heute aussieht. Außerdem scheine ich auch dieses Mal, schon bei dem Namen, John, kein Glück zu haben. Selbst nach über einer Woche hat sich John Jackson weder auf meine SMS, noch auf Skype und auch nicht über Facebook gemeldet. Die E-Mail, die ich an Johns damalige Adresse geschrieben habe, blieb auch unbeantwortet.

Ich liege im Bett und überlege. Sollte ich mich vielleicht doch morgen Vormittag hinsetzen und John Jackson einen Brief schreiben? Vielleicht gibt es tatsächlich einen Grund, warum er den Postweg gewählt hat. »Was auch immer dieser Grund sein mag?«, schüttle ich den Kopf. Die Adresse von seinem momentanen Domizil hatte er wenigstens angegeben. Was habe ich schon zu verlieren? Die Annonce hat eh nichts gebracht, acht Wochen sind seither vergangen. John Jackson wird entweder auf meinen Brief antworten oder eben nicht.

Einundzwanzigster Mai, die Jungs sind wie jeden Morgen in der Kita. Ein letztes Mal schaue ich erwartungsvoll in meine Mailbox. Aber wie inzwischen erwartet, habe ich auch heute keine Nachricht von John. Noch einmal suche ich die Telefonnummer von Johns Internetseite heraus. Ich muss wissen, wer dahintersteckt! Ich nehme all meinen Mut zusammen und wähle die Nummer. Innerhalb weniger Sekunden sind meine Hände schweißnass. »Diese Rufnummer ist uns leider nicht bekannt, aber wir können Sie gerne mit der Auskunft verbinden«. »Nein danke, nicht nötig!«, schüttle ich den Kopf und lege auf. Zumindest weiß ich jetzt, warum er meine SMS ignoriert hat. Auch auf Facebook ist er laut seinem letzten Eintrag fast ein Jahr nicht mehr online gewesen. Schon irgendwie komisch das Ganze.

Ein wenig widerwillig setze ich mich an den Tisch. »Das wird schon so ein Spießer sein!«, sage ich laut und verdrehe die Augen. Per Brief zu antworten, wenn ich schon extra eine E-Mail-Adresse mit angebe. Aber gut, Zeit verschwendet habe ich die vergangenen zehn Tage genug, jetzt schreibe ich ihm eben einen Brief!

Ganz oben, sozusagen als Wink mit dem Zaunpfahl, platziere ich meine Telefonnummer und meine E-Mail-Adresse, so dass er sich in Zukunft hoffentlich aufs digitale Antworten beschränkt. Ist schließlich schneller, billiger und außerdem möchte ich ein Foto von ihm sehen.

Zunächst entschuldige ich mich für meine verspätete Antwort und nenne als Grund, dass ich seit Tagen versuche, ihn auf sämtlichen digitalen Medien dieser Welt zu kontaktieren. Daraufhin wird er mir bestimmt mitteilen, warum er momentan weder auf Skype noch auf Facebook vertreten ist.

Total ungewohnt, mal wieder etwas per Hand zu schreiben, und das mehr als nur den Einkaufszettel. Ich versuche mich in Schönschrift, doch letztlich wird es ein furchtbares Gekrakel. »Das ist garantiert der letzte Brief, den ich auf diese Art und Weise schreibe!«, ärgere ich mich lautstark.

Am nächsten Morgen sitze ich ab zehn Uhr am Rechner und checke alle fünf Minuten meine Mailbox. Was ist eigentlich los mit mir? Ich kenne den Typen doch überhaupt nicht. Warum lasse ich mich jetzt schon so verrückt machen? Vielleicht schwebt auch irgendwo diese winzig kleine Hoffnung in mir mit, dass es sich eben doch um John J. handeln könnte. Aber will ich das überhaupt? Hatte ich damals nicht schon genügend schlaflose Nächte wegen ihm? Vielleicht. Aber zu diesem Zeitpunkt hätten wir leider keine Chance gehabt. Und heute?

Ich möchte diesen Gedanken gar nicht weiterdenken und gehe in die Küche, um Mittag zu essen. Halb zwei checke ich meine Mailbox das letzte Mal. Wieder nichts. Okay, sicher ist John Jackson noch in der Arbeit und bekommt meinen Brief erst am Abend.

Um die Zeit bis dahin schneller zu überbrücken, gehe ich den restlichen Nachmittag mit den Jungs auf den Spielplatz. Das Wetter ist klasse und Felix‘ kleiner Freund Max mit seiner Mama Patricia leisten uns Gesellschaft. Innerlich sitze ich wie auf Kohlen. Es zerreißt mich fast vor Neugier. Hat John inzwischen geantwortet? Mein Handy liegt daheim auf der Couch und ich habe somit keine Möglichkeit ins Internet zu kommen. Dennoch bin ich davon überzeugt, dass John inzwischen schon eine ganz liebe Nachricht geschrieben hat, die all meine offenen Fragen beantwortet.

Nichts davon bewahrheitet sich. Als wir gegen halb sechs nach Hause kommen, stürze ich sofort an den Rechner. Doch außer einer E-Mail von meiner Schwester sehe ich nichts. Enttäuscht mache ich den Jungs ihr Abendbrot und stecke sie danach in die Badewanne. Am Abend schaue ich noch das eine oder andere Mal nach, aber es kommt keine Nachricht von John Jackson. In der Hoffnung, dass mein Brief vielleicht erst morgen ankommt, gehe ich ins Bett.

Doch auch die nächsten Tage höre ich nichts von diesem John. Inzwischen bin ich mir endgültig sicher, dass er sich nicht mehr melden wird.

Wieder ein Brief?

Fünf Tage später, gefühlte fünf Wochen, kann ich meinen Augen kaum trauen. Im Briefkasten liegt erneut ein Brief, der an mich adressiert ist. Wieder kommt er von John, John Jackson. »Was ist das denn für ein Idiot?«, schießt es spontan aus mir heraus. Wieso schreibt der jetzt schon wieder per Post? Ich reiße den Brief auf, setze mich hin und beginne zu lesen.

Hallo liebe Lara,

vielen Dank für deinen herzlichen Brief. Ich musste ja schon ein wenig schmunzeln, als ich gelesen habe, wie sehr du versucht hast, mit mir Kontakt über die »digitale Welt« aufzunehmen.

Ha, der ist witzig. Wieso antwortet er dann bitte nicht über die »digitale Welt«? Kopfschüttelnd lese ich weiter.

Wie du ja sicherlich gemerkt hast, gibt es recht viele Informationen über mich im Internet. Vieles davon ist jedoch entweder veraltet oder auch gänzlich falsch. Bei Facebook bin ich seit letztem Sommer nicht mehr online gewesen, deshalb konnte ich dir da auch nicht antworten. Ich habe mich aus verschiedenen Gründen dazu entschieden, dir per Hand zu schreiben. Der Hauptgrund ist, dass ich einen handschriftlichen Brief einfach persönlicher finde und gerade bei der Antwort auf eine Kontaktanzeige finde ich das sehr passend.

Ja toll, jetzt antwortet er aber nicht mehr auf eine Kontaktanzeige, sondern auf einen Brief von mir. Warum dann also noch immer der Quatsch mit dem per Hand schreiben? Ich warte auf eine plausible Erklärung, doch John wechselt sofort das Thema. Langsam macht er mich wütend.

Ich freue mich somit umso mehr, dass du hartnäckig geblieben bist und mir letztlich auf demselben Weg geantwortet hast. Das finde ich ja sehr süß, dass ich der Erste bin, dem du seit deiner Kindheit einen Brief schreibst. Ich fühle mich geehrt.

Ja und ich fühle mich verarscht! EIN Brief ist ja schön und gut, aber es muss ja nicht gleich zur Dauerlösung werden, oder?

Gerade im Zeitalter von Laptop und iPhone ist es doch besonders schön, wenn im Briefkasten ausnahmsweise mal nicht nur Rechnungen oder Werbung liegen, sondern ein persönlicher Brief. Findest du nicht auch?

NEIN, finde ich nicht. Also wenn es nach mir geht, können wir auf diesen romantischen Spaß gerne verzichten!

Ich bin sehr froh, dass du dich für die Anzeige entschieden hast, sonst hätten wir uns eventuell nie kennengelernt. Die Idee, dass du gleich deine Kids und deine Erwartungen mit hineingeschrieben hast, war clever. So weiß jeder sofort, worauf er sich einlässt und es erspart dir eine Menge Zeit und Nerven. Dass sich viele Herren älterer Semester gemeldet haben, kann ich mir gut vorstellen. Die Herren hätten eben alle gerne eine junge hübsche Frau an ihrer Seite.

Bei der Wahl meiner Partnerin hatte ich in der Vergangenheit kein besonders glückliches Händchen. Da sind einige heftige Dinge passiert. Unter anderem habe ich bis heute recht viel Stress mit meiner Ex-Frau, weil sie versucht zu verhindern, dass ich meine kleine Prinzessin regelmäßig sehen kann.

Oh je, das tut mir leid. Kaum vorstellbar, dass es Eltern gibt, die einander den Kontakt zu ihren Kindern verweigern.

Acht Jahre Amerika hast du hinter dir – Respekt! Mich hat es nach drei Jahren zurückgezogen, obwohl ich mich in vielerlei Hinsicht, auch wie du, in den Staaten recht wohl fühlte. Besonders an der Westküste (L.A.), dort habe ich damals gelebt.

L.A.? Komisch, schon wieder genau wie John. Aber gut, Los Angeles ist ja groß.

So, meine liebe Lara, nun möchte ich dir noch etwas über mich verraten. Ich habe dir doch bereits geschrieben, dass ich mit einer Firma in der Medienbranche tätig bin. Leider habe ich einige gravierende Fehlentscheidungen getroffen und mich somit strafbar gemacht. Mir wurde Betrug vorgeworfen und dafür wurde ich vor Gericht gestellt. Aus heutiger Sicht hätte ich einiges anders entschieden und gewissen Personen nicht vertrauen dürfen. Leider hatte ich dieses Wissen zu der entscheidenden Zeit noch nicht. Das ist auch der Grund, warum ich momentan mein zeitlich begrenztes Domizil in Kaisheim bewohne, weil ich mich hier in Haft befinde.

»Oh NEIN!«, springe ich entsetzt auf. Mir rutscht das Herz in die Hose. Das kann doch nicht sein! Ein Knacki? Ach man, was für ein Pech. Da klingt ein Mann zur Abwechslung mal richtig gut – charmant, gefühlvoll und total auf meiner Wellenlänge – dann ist es einer, der mir aus dem Gefängnis schreibt. Warum kann bei mir nicht auch mal alles rund laufen? Aber ein Knacki, das geht echt gar nicht! Und nun? Was soll ich denn jetzt machen, ihn einfach ignorieren? Er wird darüber hinwegkommen. Kennt mich ja eh nicht.

 

Wieder springen meine Gedanken hin und her. Laut seiner Facebook-Abstinenz ist er schon fast ein Jahr da drin. Dann müsste er bestimmt bald wieder rauskommen. Aber er ist und bleibt verurteilt, so viel ist klar. Dieses Bild werde ich auch immer von jemandem im Gefängnis haben, selbst wenn er mir hier noch so nett schreibt. Wenigstens ist er kein Gewalttäter, sondern »nur« ein Wirtschaftsverbrecher. Dennoch, so etwas kommt für mich nicht in Frage! Trotzdem lese ich weiter, was er schreibt.

Ich bin eigentlich ein guter und ehrlicher Mensch, der eben nur einige falsche Entscheidungen getroffen hat. Ich hoffe sehr, dass du dich davon nicht abhalten lässt, mich weiterhin näher kennenlernen zu wollen, um dich selbst von meinem Wesen zu überzeugen.

Ha, der ist lustig! Was bringt es mir denn, wenn ich jetzt auch noch anfange, mit einem Knacki hin- und herzuschreiben? Lange vor meiner eigenen Annonce, hatte ich mal eine Kontaktanzeige gelesen, von einem, der diese aus dem Knast heraus aufgegeben hatte. Damals dachte ich mir noch: »Na, der hat ja Humor. Wer antwortet schon jemandem, der im Gefängnis sitzt? Würde ich im Leben nicht machen.« Und nun? Ich lese weiter.

Jetzt kann ich nur hoffen, dass ich wieder Post von dir bekomme. Es war mir aber einfach sehr wichtig, dass du es sofort von mir erfährst.

»Ist ja nicht gerade so, als hätte er eine andere Wahl«, schimpfe ich vor mich hin und schmeiße den Brief auf die Couch. Dieses winzig kleine Detail geheim zu halten, wäre sicherlich schwierig geworden. Außer natürlich er kommt in den nächsten Wochen raus? In dem Fall würde ich mir das mit einem gegenseitigen Kennenlernen eventuell sogar noch überlegen.

Ich möchte dich in keinerlei Hinsicht belügen, da dies absolut keine Basis für mich wäre. Eines kannst du mir glauben, ich hätte niemals gedacht, dass mir so etwas passieren könnte. Aber du weißt ja aus meinem letzten Brief, dass ich ein positiv denkender Mensch bin und so versuche ich, auch aus dieser Situation etwas Positives zu ziehen, selbst wenn es nur das ist, dass ich sehr viel aus all dem gelernt habe und mir so etwas ganz sicher nie wieder passiert! Da ich momentan demzufolge keine E-Mails bekommen kann, würde ich mich sehr freuen, wenn du mir Fotos von euch ausdrucken und mir auf die »altmodische« Art und Weise schicken könntest.

So, nun komme ich mal zum Ende und freue mich riesig auf deinen nächsten Brief.

Der ist ja sehr von sich überzeugt, wenn er davon ausgeht, dass ich ihm trotz allem zurückschreibe.

Bis hoffentlich ganz bald! Liebe Grüße, John

P.S. Kennst du eine Katarina Brunner?

Hä? Woher kennt der jetzt bitte Katti und was hat sie damit zu tun? Spätestens jetzt bin ich vollends verwirrt. Sollte der Absender vielleicht doch mein kalifornischer »Dream-Boy« sein? Hatte das am Ende Katti eingefädelt, dass er sich bei mir meldet? Na toll, das sieht ihr ähnlich. Aber Katti, was bitte bringt mir ein Mann im Knast und das in meiner jetzigen Situation? Ihr müsste doch klar sein, dass ich mir nichts sehnlicher wünsche, als eine intakte Familie bei uns Zuhause und nicht noch einen zusätzlichen Klotz am Bein, hunderte Kilometer von uns entfernt. Dann auch noch John! Katti weiß doch, wie lange ich damals gelitten habe. Sie hätte mich zumindest vorher fragen müssen. Aber wahrscheinlich konnte sie sich denken, dass ich niemals zugestimmt hätte.

Herje, ich weiß in diesem Moment weder, ob ich jetzt sauer sein soll oder vielleicht doch eher dankbar, dass sie es überhaupt geschafft hat, John wieder in mein Leben zurückzubringen. Ich persönlich habe es damals nicht versucht und ich hätte es ganz sicher auch jetzt nicht getan. Doch nun stehe ich vor der Wahl, ob ich die Gelegenheit nutzen soll oder eben nicht.

Mein spätes Eingeständnis

Und nun, vierzehn Jahre später, sitze ich hier am Küchentisch in Aham, denke an diese längst vergessene Geschichte und habe keine Ahnung, ob und was ich John antworten soll. Natürlich kenne ich eine Katarina Brunner. Plötzlich verstehe ich auch, warum Katti mich in ihrer letzten E-Mail gefragt hat, ob ich meinen Traumprinzen schon gefunden habe. Erst nach meiner offensichtlich doch ein wenig enttäuscht klingenden E-Mail half sie mir, oder in dem Fall eher uns, ein wenig auf die Sprünge.

Jetzt liegt es an mir, ob ich ihre Hilfe annehme oder eben nicht. John hatte es trotz allem getan. Nur warum hat er mir nicht direkt mitgeteilt, wer hinter diesem Brief steckt?

Ich ärgere mich über mich selbst. Warum bin ich damals eigentlich so stur gewesen? Warum nur habe ich John nach unserer Reise komplett aus meinem Leben ausgeschlossen? Vor vierzehn Jahren wäre es garantiert einfacher gewesen, gemeinsam eine Lösung zu finden. Doch jetzt bekomme ich quasi aus dem Nichts heraus meine zweite Chance und ich sollte sie verdammt noch mal nutzen!

Noch am selben Abend setze ich mich hin und schreibe. Ich weiß zunächst nicht einmal wie ich anfangen soll. Schließlich wird es aber ein langer Brief, in welchem ich John meine wahren Gefühle und Reaktionen auf seine Zeilen mitteile. Anschließend schreibe ich ihm, was mir die letzten Jahre wiederfahren ist und wie es mir mit meinen Kindern heute ergeht. Zuletzt entschuldige ich mich bei ihm, dass ich mich nach unserer Reise von heute auf morgen nicht mehr bei ihm gemeldet habe. Ich dachte damals wirklich, es sei das Beste für uns beide.

Beim Schreiben dieser Zeilen habe ich beinahe vergessen, wo John sich gerade befindet. Aber so ewig kann John ja nicht mehr sitzen müssen, er ist schließlich kein Schwerverbrecher! Zuletzt verspreche ich ihm, dass ich ihn nicht noch einmal hängenlassen werde und ich ihm helfen möchte, die verbleibende Zeit im Gefängnis gut zu überstehen.

Oh je, mir fällt es schon schwer, dieses Wort »Gefängnis« überhaupt zu schreiben. Nie im Leben würde ich jemandem erzählen können, wo sich mein Freund, wenn er es denn werden sollte, befindet beziehungsweise befunden hat.

Irgendwie schon bescheuert, da melde ich mich vierzehn Jahre nicht bei John und dann schreibe ich ihm diesen Brief. Egal, jetzt ist er weg und es gibt kein Zurück.

Zumindest weiß John jetzt, was ich für ihn empfinde und dass ich ebenfalls all die Jahre an ihn gedacht habe. Ein ehrliches Schreiben war ich ihm nach so langer Zeit einfach schuldig.

Die nächsten Nächte schlafe ich unruhig. Die Geschichte von damals lässt mich einfach nicht los. Was, wenn wir uns beide komplett verändert haben und bei einem baldigen Treffen total enttäuscht werden? Vierzehn Jahre sind eine lange Zeit. John hat seitdem ebenfalls einige unglückliche Beziehungen hinter sich. Damals waren wir jung und frei und unbekümmert. Heute hat er eine Tochter, die er nicht sehen darf und ich habe zwei Kleinkinder, die ich mehr oder weniger allein großziehe. Vor allem aber haben mich die letzten Jahre ziemlich gezeichnet, was mir am meisten Sorge bereitet. John hat damals schon großen Wert auf Aussehen gelegt.

Jetzt bin ich erstmal gespannt, was John zu meinem Brief sagen wird. Wieder sitze ich wie auf Kohlen. Diese Warterei nervt mich jetzt schon!

Zwei Jahre – Das schaff ich nicht!

Drei Tage später, ich gehe die Post holen, bin mir aber sicher, dass ich noch keine Antwort haben kann. Weit gefehlt, es liegt tatsächlich ein Brief von John im Kasten. Mit einem lauten »Yippie!« reiße ich ihn bereits auf dem Weg nach drinnen auf.

Die Gefühle und Gedanken, die in diesem Augenblick durch meinen Kopf und meinen Körper jagen, sind geradezu unbeschreiblich. Es fühlt sich fast so an, als würde das erste Wiedersehen nach vierzehn Jahren in wenigen Sekunden bevorstehen. Meine Hände sind plötzlich schweißnass. Ich bin total nervös und gespannt bis zum Anschlag. Dabei handelt es sich »nur« um einen Brief. Ich setze mich auf die Treppe und fange an zu lesen.

Hallo Lara,

zunächst erst einmal vielen Dank für deinen herzlichen Brief. Aufgrund meines momentanen Aufenthaltsortes habe ich ehrlich gesagt nicht mit Post von dir gerechnet. Umso mehr freue ich mich über deine so lieben und aufrichtigen Zeilen. Es ist zwar jetzt schon spät, da ich hier am Abend zusätzlich noch in der Redaktion des Gefangenen-Magazins arbeite, aber ich möchte dir unbedingt gleich antworten.

Da ist es wieder: »GEFANGENEN-Magazin«! Sofort legt sich ein Schalter in meinem Kopf um und mir wird schlagartig bewusst, wo John sich befindet und was das für uns heißt.

Ich werde daher heute nicht allzu viel schreiben können, aber morgen Nachmittag schicke ich dir dafür noch einen zweiten Brief. Da habe ich mehr Zeit und kann dir ausführlich berichten, wie ich in diese Situation geraten bin. Ich sitze seit einem knappen Jahr in Haft, um dir diese Frage gleich zu beantworten.

So viel konnte ich mir inzwischen auch zusammenreimen. Aber ein Jahr ist doch eh schon ewig, dann sollte John es ja bald überstanden haben.

Ach Lara, es ist so schön von dir zu hören, dass auch du unsere gemeinsame Zeit in L.A. nicht vergessen hast und du ebenfalls das eine oder andere Mal in den letzten Jahren an mich gedacht hast. Das bedeutet mir wirklich viel. Ich konnte all die Jahre einfach nicht glauben, dass ich mich so sehr in einem Menschen getäuscht habe. Ganz verstehen werde ich deine Entscheidung von damals zwar nie, aber vielleicht gibst du uns ja irgendwann die Möglichkeit, darüber zu sprechen. Im Moment bin ich einfach nur froh, dass du dich gemeldet hast.

Da ich zum ersten Mal im sogenannten Regelvollzug bin,

Schon dieses Wort: »REGELVOLLZUG«, das kenne ich sonst nur aus dem Fernsehen.

habe ich sehr große Chancen auf eine vorzeitige Haftentlassung. Bis Juli übernächsten Jahres bin ich aber wohl auf jeden Fall noch hier.

Wie bitte? Da muss er sich vertan haben. Das sind noch über zwei Jahre! Er hat doch geschrieben, dass er nichts Schlimmes gemacht hat. Das kann also gar nicht sein. Zwei Jahre, das geht nicht!

In circa sieben Monaten bin ich dann lockerungsberechtigt. Ab diesem Zeitpunkt kann ich erstmals Ausgänge und später Hafturlaub (Freitag bis Sonntag) beantragen.

Sieben Monate? Und wie stellt er sich das vor? Dass wir uns jetzt sieben Monate mit einer Brieffreundschaft vertrösten oder wie? Ich habe mir doch so sehr endlich eine intakte Familie gewünscht, mit einem liebevollen Partner, der für mich und die Kinder da ist. Zwei Jahre? Das ist die Hölle! Und was mache ich jetzt? Ich hatte John doch gerade erst im letzten Brief versprochen, dieses Mal für ihn da zu sein und ihn nicht wieder fallen zu lassen. Aber ich pack das einfach nicht! Auf der anderen Seite, was sind schon zwei Jahre im Gegensatz zu den letzten fünf mit meinem Ex? Ich lese weiter.

Deine Frage, ob ich auch Kinder, die biologisch nicht von mir sind, wie meine eigenen lieben könnte, kann ich mit einem ganz klaren »JA!« beantworten. Ich hatte vor einiger Zeit eine Beziehung mit einer Frau, die sogar drei Kinder mitbrachte. Die drei sind heute noch wie meine leiblichen Kinder, wenn ich an sie denke. Für mich ist es einfach sehr wichtig, dass Kinder in einer glücklichen Familie aufwachsen.

Klar kann ich mir durchaus noch weitere Kinder vorstellen. Was ist mit dir? Allerdings muss dann auch alles passen. Ich bin ein absoluter Familienmensch und wenn ich noch einmal Vater werde, dann möchte ich nie wieder ohne mein Kind leben müssen! Ach Lara, ich würde dir jetzt so gerne unter die Arme greifen, dir meine Schulter zum Anlehnen anbieten, dich einfach mal in den Arm nehmen und dir die Möglichkeit geben, zur Ruhe zu kommen und zu entspannen.

John klingt genauso einfühlsam wie vor vierzehn Jahren.

Ich gebe dir übrigens absolut recht, am meisten kann man das Leben mit den kleinen Rackern in einer harmonischen und glücklichen Familie genießen.

Genau so stelle ich mir seit Jahren meinen Traummann vor. Nur allein der Gedanke an John lässt mein Herz schneller schlagen.

 

So, nun habe ich doch mehr geschrieben als zunächst gedacht, aber ich wollte dir unbedingt heute noch antworten, damit die Post an dich gleich morgen früh rausgeht. Ich freue mich schon jetzt auf deinen nächsten Brief und wer weiß, vielleicht muss ich gar nicht lange darauf warten?! Bis dahin wünsche ich dir eine gute Zeit und du kannst ja ab und zu an mich denken. Ganz liebe Grüße, John

Zwei Jahre! Das muss ich erst mal sacken lassen. Mit allem hätte ich gerechnet, aber bestimmt nicht mit zwei Jahren. Mehrere Monate wären schon der absolute Alptraum gewesen, aber zwei Jahre? Das schaff ich nicht. Nur, wie soll ich das John beibringen? Hat er es nicht schon schwer genug da drin? Außerdem ist er fest davon überzeugt, dass ich mich wieder bei ihm melde. Ich dagegen bin schon bei dem bloßen Gedanken an zwei Jahre kurz vor der Aufgabe. Ich brauche Zeit, um über alles nachzudenken.

Zum Glück muss ich jetzt die Jungs abholen. Wir fahren in den Kletterpark, essen Popcorn, trinken Apfelschorle und die beiden freuen sich über die gelungene Abwechslung. Genauso wie ich.