Marslandschaften

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»Man muß sich diese Unverfrorenheit vorstellen«, erklang plötzlich eine Stimme hinter ihr, »er stiehlt die Atlantis-Idee von zwei Kölner Galeristen, klemmt sich die Entwürfe eines Londoner Stararchitekten unter den Arm und besorgt sich einen Termin bei Bundeskanzler Kohl. Dann beschwatzt er den Dicken, die Spanier in Brüssel bei Sonderkonditionen für die Kanaren zu unterstützen, und schon ergießt sich das europäische Füllhorn über Atlantis. Bewundernswert! Was für ein Daimon!«

Da hatte sie ihn vor sich, den »Daakun«, ganz in Weiß gekleidet, eine schlanke, fast asketisch wirkende Gestalt, sogar die Sandalen waren blendend weiß – das Haar, hell, mit einem gelblichen, fast goldenen Schimmer, war offensichtlich gebleicht. Nichts war echt an dieser Person!

Er lächelte: »Ich habe Sie auf meinen Abenden vermißt.«

»Ich halte nichts von Esoterik«, meinte sie schroff.

»Und ich nicht viel von Steuerrecht.« Er lächelte noch immer: ein professioneller Verkäufer von halbseidenen Wahrheiten. »Niemand zwingt Sie zu glauben, was ich sage. Kommen Sie einfach, lassen Sie sich unterhalten. Wie die Hälfte des hiesigen Publikums, die lediglich auf etwas Abwechslung aus ist. Sie brauchen mehr Lockerheit, es bringt nichts, ständig an das zurückzudenken, was man verloren hat.«

Was maßte er sich an! Wenn es einen Vorzug des Alters gab, dann den, daß man seine Meinung freier äußern konnte: »Ich halte diese ganze Seelensucherei, diesen schamanistischen Hokuspokus für eine kaum verdeckte Form von Betrug!« Nun, er würde sie nicht gleich verklagen.

Tatsächlich deutete er ein mildes Nicken an: »Betrug oder Lebenshilfe, da ist die Grenze fließend – genau wie bei der steuerrechtlichen Beratung. Und, um das gleich klarzustellen, ich nehme für die Abende kein Honorar.«

Er verströmte, wie er so näher kam, den unverkennbaren Geruch von indischen Räucherstäbchen. Schauderhaft! Sie machte kehrt und wollte die Bibliothek verlassen.

»Sie haben die Erschütterungen bemerkt und sind sogar bereit, darüber zu sprechen. Fast alle verdrängen, was ihnen den Boden unter den Füßen wegziehen könnte. Ja, kommentieren Sie: billigster Freud.«

»Und gleich werden Sie mir erzählen, daß jeder die Katastrophe, den Untergang bekommt, den er verdient.« Sie eilte davon und hört noch, was er ihr nachrief: »Schade, daß Sie nicht meine Steuerberaterin waren.«

Oft aß Lara allein. Heute aber trieb es sie zur Mittagszeit ins Refektorium. Sie wählte einen der Vierertische. Die Mosaiken an den Wänden zeigten antike Jagdszenen, die surrealistisch überzeichnet waren, als wären sie durch die Hand Salvador Dalís gegangen – das Werk eines der früheren Artists-in-Residence. Bei manchem langbeinig staksenden Tier konnte man immerhin ahnen, von welcher Kreatur der Künstler sich hatte inspirieren lassen.

Die Bedienung trat heran, die Auswahl des Tages war begrenzt, schließlich war das Refektorium kein vollwertiges Restaurant, und Baby-Calamari mochte Lara auch nicht. Einfach ein paar Tapas …

»Darf ich?« Gregor, der Professor und Oberflächenspezialist, ließ sich ihr gegenüber nieder. »Es rumpelt ständig, das Instituto Geografico Nacional registriert fast jeden Tag Erschütterungen«, setzte er an und orderte die Calamari, »allerdings ausnahmslos unbedeutende Bewegungen, Stärke 2 oder 3, und dreißig Kilometer in der Tiefe. Davon merkt man nichts.«

Sie knabberte sich durch die Tapas, trank agua sin gaz dazu. Der Herr Professor hielt eine Vorlesung, na, sollte er doch.

»Die größte Gefahr sehen viele Experten auch nicht in einem Vulkanausbruch, sondern in weniger explosiven Erdbewegungen.« Er strahlte über das breite Gesicht und benutzte einen der jungen Tintenfische, um eine effektvolle Pause einzulegen.

»Vor einigen Jahrhunderttausenden ist ein Teil des Taburiente-Vulkans auf La Palma eingestürzt und hat in einem gewaltigen Rutsch ein Viertel der Insel mit ins Meer gerissen. Der Meeresboden um die Kanaren ist bekanntlich extrem abschüssig und fällt steil bis in viertausend Meter Tiefe ab. Ein starkes Beben könnte fast auf jeder Insel in einem katastrophalen Hangrutsch kulminieren.«

Ein weiterer junger Kalmar verlor erst die Tentakel, dann folgte der Kopf. »Selbst wenn dergleichen, sagen wir, wieder weit weg auf La Palma geschieht, könnte das einen verheerenden Tsunami auslösen – der selbst noch die Küste Afrikas verwüsten würde.«

Er langte nach den Runzelkartoffeln, goß Rotwein nach. »Aber kein Grund zur Sorge. Im schlimmsten Fall müßten wir uns in die Akropolis zurückziehen.«

Sie verlangte einen Café solo, lächelte – und glaubte ihm nicht. Und das sagte sie ihm auch. Er nahm es mit professoraler Gelassenheit.

»… möchte ich Sie freundlichst ersuchen, heute um 15.00 zu einem kurzen Gedankenaustausch zu mir zu kommen. Fr.« – Das erlebte sie zum erstenmal: Sie wurde in die Spitze der Akropolis gerufen. Die höfliche, doch auf altmodische Weise sehr bestimmte Nachricht auf ihrem Handy ließ keinen Zweifel: Dr. Frenzen wollte etwas von ihr.

Während Lara an einer Seite des Atriums im gläsernen Lift nach oben fuhr, überlegte sie, was der Verwaltungschef auf dem Herzen haben konnte. Frenzen war im früheren Leben CEO einer großen Logistikfirma gewesen und durfte jetzt als eine Art Primus inter pares gelten: Er hatte als Atlantier unter Atlantiern für die Position kandidiert – mit dem inspirierenden Spruch »einer muß ja in den sauren Apfel beißen« –, und die »Volksversammlung« hatte ihm fast einstimmig das Vertrauen ausgesprochen. Soweit Lara wußte, führte er die rund zehn Management-Angestellten und die mehr als zweihundert Servicekräfte, alles Einheimische, tatsächlich überaus kompetent, aber auch mit einer gewissen Lässigkeit. Was also wollte er von ihr?

Frenzen, schneeweißes Hemd, hochgekrempelte Ärmel, empfing sie vor seinem Büro, bedankte sich, daß sie die Zeit erübrigen konnte – wo sie doch mehr als genug Zeit hatte. Er bat sie an einem Tischchen Platz zu nehmen, von wo aus man einen schönen Blick auf den Pharos und das Meer hatte, bot ihr Getränke an, erkundigte sich nach ihrem Wohlergehen. Sie nahm nur Wasser.

Er saß ihr gegenüber, die Ellbogen auf die Armlehnen des Sessels gestützt, und legte die Fingerspitzen gegeneinander, so daß die Hände ein spitzes Dächlein bildeten. Ab und zu tippten die Zeige- oder Mittelfinger aufeinander. »Machen wir uns doch nichts vor, unsere Mit-Atlantier haben sich hier eingekauft, nicht weil sie eine neuartige Stätte der Kultur und der Kreativität fördern, sondern weil sie ihren Lebensabend in verdienter Ruhe genießen wollen. Gewiß, die meisten haben ihre Hobbys mitgebracht, arbeiten an ihren Memoiren, lernen ein Instrument zu spielen oder ein wenig Spanisch, sie haben sich wie Ihre Freundin Vanessa auf Kunsthandwerk verlegt oder geben ihren Nachfolgern im Unternehmen ab und zu Telekonsultationen. Doch dies alles in heiterer Gelassenheit, in halkyonischen Tagen unter ewig blauem Himmel. Next to paradise, wie Meyer formulierte, als man noch werben mußte.«

Lara begriff nicht, worauf er hinauswollte. Sie las. Mehr nicht. Lothar, der rastlose, hatte sie alle zwei, drei Tage mit auf der »Limmershine«, einer Jacht, die der Atlantis GC GmbH gehörte, aufs Meer genommen. Vor allem die Bohrinseln, die vor dem Hafen von Las Palmas auf die Runderneuerung warteten, hatten es ihm angetan.

Frenzen beugte sich vor: »Und jetzt kommen Sie und reden von Erdbeben und vom bevorstehenden Untergang von Atlantis! – Ich weiß, das haben Sie nie so gesagt, aber so wird es wahrgenommen. Das Servicepersonal redet auch schon darüber. – Haben Sie sich einmal über die Geologie der Inseln informiert? Der Hotspot wandert ständig weiter nach Westen.« Er hatte sich eine Karte ausdrucken lassen, schob sie zu Lara über den Tisch. »Wenn wir eine objektive Risikobewertung durchführen, so als wollten wir Marktunsicherheiten abschätzen, kommen wir zu dem Schluß, daß sämtliche Schadensereignisse im Bereich von 1:10 000 oder mehr liegen, sich also einmal in Jahrtausenden oder Jahrzehntausenden ereignen. Vulkanausbrüche, Tsunamis – out of scope! Verglichen mit den Risiken der Weltwirtschaft sind das einfach Peanuts. Und schon Meyer hat die Atlantis-Immobilien gegen Großschadensereignisse versichert.« Er holte Luft: »Also: Den Ball flach halten. Machen Sie unsere Partner nicht verrückt! Sie sind hier so sicher wie irgendwo. Jedenfalls sicherer als auf dem Festland.«

Er hielt inne. Lara wollte etwas entgegnen, doch was? Daß sie den Erdstoß gespürt hatte, wußte er. Offensichtlich hatte sich Vanessa beklagt. Oder es dem Daakun-Typen erzählt, und der hatte es Frenzen gesteckt. – An der Wand hinter dem Verwaltungschef hing, in Gold gefaßt, eine Tafel mit einem Ausspruch Meyers: »Viele haben Atlantis gesucht, doch es kommt darauf an, Atlantis zu erschaffen.«

»Wenn Ihre Furcht so groß ist, daß Sie die Insel unbedingt verlassen wollen …« Frenzen legte die Fingerspitzen wieder gegeneinander, als wäre er tief in Überlegungen versunken. »Nicht daß ich Ihnen das empfehlen würde. Die Lage in Europa ist mit dem Niedergang der Wirtschaft, den ständigen Streiks und all diesen Separatisten, Nationalisten und Extremisten ja alles andere als rosig … Also, wenn Sie uns unbedingt verlassen wollen … Sie sind als Juristin selbstverständlich mit den Regelungen des Aufnahmevertrags vertraut. Aber ich bin überzeugt, da läßt sich eine Lösung finden. Wenn wir Ihnen Sonderkonditionen, sozusagen ein Sonderkündigungsrecht einräumen – das geht, entsprechend formuliert, bei der nächsten Online-Abstimmung glatt durch. Die meisten unserer Mit-Atlantier verstehen ja nichts von juristischen Feinheiten. Man muß die Klauseln nur eng genug fassen, damit sie exakt auf Sie und niemanden sonst zutreffen.«

Ein verschmitztes Lächeln stahl sich auf sein Gesicht: »Tja, das war es, was ich Ihnen sagen wollte.« Lara erwiderte das Lächeln: So schaute man aus, wenn man eine wichtige Information für das Ende aufgespart hatte. Uralte Verhandlungstaktik. Sie erhob sich, doch eine Handbewegung hielt sie zurück. »Außerdem haben wir ein Problem, zu dem ich gern Ihren fachlichen Rat einholen würde, wenn Sie denn noch in Ihrem Gebiet arbeiten wollen. Die Europäische Kommission erwägt, den Inseln den Status als ultraperiphere Region abzuerkennen. – Alle hätten heutzutage Probleme, es gebe keine Peripherien mehr usw. Sie kennen die Leier. Damit könnte unsere Atlantis GC-Gesellschaft unter die allgemeine Steuerpflicht und insbesondere die Mehrwertsteuerpflicht fallen. Erschreckend, nicht wahr? Das sind die wirklichen Beben! In gewissem Sinne wäre das der Untergang von Atlantis, so wie wir es kennen.«

 

Als sie wieder in ihrem Apartment eintraf, war gerade eine Servicekraft damit beschäftigt, den Staub von der Calima wegzuwischen. Lara hatte sich vor Wochen mit der jungen Frau unterhalten, sie hieß Roberta da Silva und stammte aus einem Dorf in Andalusien. Wie gewohnt, wollte sie davonhuschen; das Personal war instruiert, möglichst unsichtbar zu bleiben.

Lara forderte das Mädchen auf, sich nicht stören zu lassen, ging ins Bad und wusch sich Hände und Gesicht. Das Wasser war angenehm kalt.

Sie kratzte ihr Spanisch zusammen und fragte Roberta, ob sie das Beben, el seísmo, mitbekommen habe. Die Kleine nickte, sie steckte den Lappen in eine Tasche ihrer Schürze und gestikulierte: Sí. Gewiß, aber merkwürdig. Ein terremoto local, eine räumlich beschränkte Bewegung der Erde, nur hier in der urbanización sei etwas zu spüren gewesen, nicht in Las Palmas, nicht in Telde, auch nicht in Maspalomas oder Vecindario. Alle redeten davon, im Bus, in der Kantine. Un fenómeno. Was sage die Señora dazu? Eine Gefahr?

Lara zuckte mit den Schultern. Sie wußte ja selbst nichts. Doch sie war froh, daß wenigstens das Personal die Beben ernst nahm. Und das wollte sie nun endlich auch tun.

Später, als Roberta gegangen war, schaute Lara in die Schränke. Kostüme, Kleider, Blusen, Röcke, Kombinationen, Jäckchen, Oberteile, die Schals – würde sie überhaupt etwas davon mitnehmen wollen? Wenn man floh, dann mit leichtem Gepäck. Kein Problem, solange ihre Konten gut gefüllt waren, die Kreditkarten akzeptiert wurden. Da hing die Kapitänsjacke von Lothar, von ihr hatte sie sich einfach nicht trennen können. An ihr haftete noch sein Geruch.

Und all die Andenken an Reisen! Ihre Sammlung von Schneekugeln … Je weniger Schnee in Europa fiel, desto populärer wurden die Kugeln. Zuerst hatten sie fast von überall ein solches kleines und daher praktisches Souvenir mitgenommen, aus dieser Zeit stammten die Kugeln mit den Wolkenkratzern von Manhattan und dem Schloß von Versailles, bald aber hatten sie nur noch echt ausgefallene Stücke eingepackt: den Löwen vom Krüger-Nationalpark, den Taj-Mahal, also vorzugsweise von Orten, wo es bestimmt nie schneite, schließlich auch den Sarkophag von Tschernobyl … Sie waren ganz schön verrückt gewesen damals, und manche Gegenden würde sie heute keinesfalls besuchen, die galten nicht mehr als sicher. Schneekugeln aus einem vergangenen Zeitalter. Höchstens zwei, drei würde sie behalten. Und den Rest? Einfach stehenlassen? Irgendwer würde sich schon der Kugeln erbarmen. Oder sie brachte die ganze Sammlung heimlich in die Bibliothek. Da warteten genug leere Regale, und niemand würde erkennen, wer den nostalgischen Krempel gestiftet hatte.

Schluß mit der Spielerei! Lara riß sich zusammen. Sie holte sich den Aufnahme- und Einbürgerungsvertrag, um ihn Paragraph um Paragraph durchzugehen. Wo mußte etwas geändert werden? Wo benötigte sie Sonderkonditionen, um ihr Geld wieder aus der Gesellschaft herauszuziehen? Worauf würde sich Frenzen einlassen? Schwierig wurde es mit Lothars Anteil. Vielleicht brauchte Atlantis ein eigenes Erbrecht, das Fälle wie den ihrigen berücksichtigte?

Das war richtige, harte Arbeit! Aber genau diese Art Beschäftigung hatte ihr in den vergangenen Jahren gefehlt. Und während sie blätterte und anstrich und sich Notizen machte, pfiff sie leis vor sich hin. Hach, wie hatte sie sich immer gefreut, Gesetzeslücken zu entdecken!

Laue Luft, Vogelgezwitscher. Dämmerung lag über dem Amphitheater, nur die Bühne war erleuchtet. Oben am Himmel blitzte in den letzten Sonnenstrahlen ein Flugzeug auf, das sich im Landeanflug auf den nahen Airport befand.

Lara saß auf ihrem Stammplatz in der vierten Reihe, gleich rechts neben der Mitteltreppe. Das Amphitheater war nur spärlich gefüllt, einige hatten sich etwas zum Knabbern oder eine Weinflasche mitgebracht. Musik hätte mehr Zuhörer angelockt, erst recht – wie vor Wochen – ein Vortrag über Kamasutra im Alter. Doch bei einer Diskussion mit dem Philosopher-in-Residence, da konnte man nicht mehr Zulauf erwarten. Auch Lara war allein deshalb gekommen, weil sie sich vage verpflichtet fühlte: Sie hatte damals für das aufstrebende philosophische Ausnahmetalent, eine junge Dame von der Universität Göteborg, gestimmt. Einladungen an aufstrebende Genies gehörten zur besten atlantischen Tradition, so wie E. R. Meyer sie im Sinn gehabt hatte. Zudem hatte »Förderung von Kunst und Wissenschaft im Wechselspiel über alle Disziplinengrenzen« lange Zeit als ein starkes Argument für die Gemeinnützigkeit gegolten.

Selbstverständlich begann der Abend mit einer kurzen musikalischen Einstimmung: anschwellende elektronische Töne füllten das Rund. Die Track-Erkennungsapp von Laras Handy identifizierte sie als »Dark Side of the Moon« von Pink Floyd.

Die Töne klangen noch in ihr nach, als Conférencier Colin, die junge Dame im Schlepptau, mit rasanten Schritten zur Mitte der Bühnenfläche eilte. Eine wahrhaft philosophische Virtuosin oder virtuose Philosophin sei sie, schwadronierte er los, sie habe den Mond oder vielmehr die Mondin für die moderne Weltweisheit entdeckt. Luna, Selene – andere Sprachen hätten einen galanteren Blick auf die rundgesichtige Trabantin. Oder sei das Nachtgestirn ein Hermaphrodit? Selenische Sinnsuche, lunare Inspirationen erwarteten sie.

Etwas blaß stand das Ausnahmetalent in einem langen festlich-schwarzen Kleid neben ihm. Sie wirkte wie die erste Violinistin eines Orchesters, nur hatte sie ihr Instrument vergessen, und das Orchester blieb auch unsichtbar. Colin dagegen, der Aufgekratzte, holte aus und zählte auf, welche Universitäten sie bereits beehrt habe, kreuz und quer durch die europäische Bildungslandschaft … Passenderweise hatte sich Frau Luna oder Göttin Selene soeben bequemt, als flach liegende Sichel aufzugehen und ihren schwachen Silberglanz über das ruhige Meer zu werfen.

Als Juristin hatte Lara nie viel für modernes – oder postmodernes – Philosophieren erübrigen können; sie liebte klar definierte Begriffe und Argumentationsketten, die auch vor Gericht bestehen konnten. Also beschloß sie, einfach zuzuhören, dem Sound, nicht der Sinnsuche zu folgen. Und Sound gab es genug. Die philosophischen Systeme, so säuselte die Denkerin mit leiser, angenehmer Stimme, seien zu sehr von Sol, von der Anbetung der Sonne geprägt, Metaphysik des grellen Lichts, nicht des schwachen lunaren Scheins, der allein fähig sei, auch die Nachtseiten des Geistes zu erhellen, the dark sides of the mind. Sanft wehten ihre Worte herüber. Da war der zwiegesichtige Plato, hier der Schöpfer von Atlantis, dessen rationale, kreisrunde Anlage sich im Verlauf der Jahrhunderte zur totalitären Sonnenstadt mausern würde, und dort jener Plato des Höhlengleichnisses, der wußte, daß alles Erkennen bestenfalls ein Erahnen aus dem Spiel der Schatten sei. Das Ahnen und Erahnen aber sei in der Philosophiegeschichte sträflich vernachlässigt …

Plötzlich stockte die Stimme. Lara war mit einem Schlag hellwach, ihr steinerner Sitz ruckte und vibrierte, als stieße das Amphitheater als winziger Teil der sich bewegenden Erdoberfläche auf ein Hemmnis und rattere wiederholt dagegen.

Jemand hatte die Geistesgegenwart, die Beleuchtung des Amphitheaters einzuschalten. Zuhörer sprangen auf, andere drehten sich suchend um – und dann blickten alle, alle zu Lara, so als wäre sie der Urheber des Bebens!

Sie duckte sich weg, spielte ebenfalls die suchend Schauende. Die dritte Warnung, durchfuhr es sie, das dritte Klingeln, bevor sich der Vorhang hebt. Macht euch auf etwas gefaßt!

Doch schon war das Rütteln, waren die Vibrationen verebbt.

In der unteren Sitzreihe machte nun Verwaltungschef Frenzen auf sich aufmerksam, wie bei einem Antrag zur Geschäftsordnung streckte er beide Arme empor: Keine Panik! Ruhe und Besonnenheit! »Freunde, Atlantier und Atlantierinnen, wir alle wissen, daß sich unter den Kanaren ein Herd von Schwarmbeben befindet. Ständig bewegt sich die Erde. Jeden Tag. Doch dies sind nur minimale Erschütterungen. Wir wissen auch, daß unser Gründer, der Risiken stets vermied, direkt unter Atlantis eine leistungsfähige aktive Dämpfung einbauen ließ. Sie gewährleistet vollständige Sicherheit vor Beben bis Stärke neun. Seit Menschen auf Gran Canaria leben, hat es hier kein einziges Mal ein Beben auch nur von Stärke sechs gegeben.«

Noch während er sprach, setzten sich einige wenige ab, die meisten aber nahmen zögernd wieder Platz. Colin, wieder in seiner Rolle als Moderator, eilte mit wehendem Schal zu jenem Punkt in der Mitte des Amphitheaters, von wo aus die Stimme am weitesten trägt. »Wenn Pluto spricht, tanzen die Schatten in Platons Höhle. Was fest war, gerät ins Rutschen. Brauchen wir ein plutonisches Philosophieren?« Und als er sah, daß das Ausnahmetalent das Stichwort nicht erkannte, fragte er sie direkt, ob sie die untergründigen Kräfte Plutos fürchte.

Aus dem Konzept gebracht, schaute die Philosophin ins Rund: Nein, wennschon, meinte sie unsicher, dann nur bei abnehmendem Mond. Oder bei Neumond in einer besonders schwarzen Nacht. Nicht jetzt.

Als die Beleuchtung der Ränge wieder erloschen war, schlich auch Lara davon. Das dritte Beben! Sie mußte, sie würde etwas unternehmen. Vor ihrem geistigen Auge bebte Atlantis, der Pharos kippte auf die Akropolis, Erdspalten klaffen auf, rotglühendes Magma schoß hervor, verschlang die Hängenden Gärten – und dann rutschte die gesamte ummauerte Siedlung in einem Stück, getragen von einer Woge schnell strömender Lava ins Meer, ging in einer Explosion von Dampf und hochschießenden Steinen unter. Sie schüttelte die Vision ab: In welchem Film hatte sie das gesehen?

In dem Laubengang, der das Amphitheater mit dem Hauptgebäude verband, wartete der Daakun – dieser Räucherstäbchen-Typ! – auf sie.

»Ist das nicht faszinierend? Alle unsere Mit-Atlantier fürchten und lieben die Beben!« Er hielt sie am Ärmel. »Sie allein stehen darüber, Doña Lara, denn Sie lieben nicht und Sie fürchten nicht.«

»Wenn ich etwas fürchte« – sie brach ab, verkniff sich die Fortsetzung –, »dann Ihre Sorte von Verehrern.«

Er ließ sie los. »Eine Minute, Señora. Sie sehen das doch auch? Alle warten sehnsüchtig auf die letzte Woche, die letzten Tage vor dem Untergang, in denen wie im alten Atlantis alle Regeln außer Kraft gesetzt sind, auf diese orgiastische Woche, in der alle Hüllen und Verkleidungen, alle Masken fallen, das Tier, die Bestie zum Vorschein kommt. Ich spüre es, hier und überall in unserem Atlantis. Alle lauern insgeheim darauf, sich in wahnsinnige, schnaubende Ungeheuer zu verwandeln. Sind wir bereit für diese Woche?« Er holte Luft: »Ich bin es nicht, ich, der ich all diesen Verwirrten von ihrem Daimon predige.« Das Haar, das gebleichte mit goldenen Strähnen versetzte Haar, war ihm ins Gesicht gefallen. Er strich es zurück, beruhigte sich. »Danke, daß Sie mir zuhören, Lara, obwohl Sie mich nicht ausstehen können. Wir sind alle allein auf der Welt und brauchen ab und zu jemanden, der einem zuhört. – Mir liegen so wundervolle Weisheiten auf der Zunge: Das Weltende als Erlösung. Es kommt darauf an, noch vor dem Untergang zu sich selbst zu finden. Jeder hat seinen Weltuntergang; das ist der Tod. – Wenn ich nur selbst daran glauben könnte!«

»Das ist Ihr Problem.« Lara ging.

Flugverbindungen gab es genug, wenn auch längst nicht mehr so viele wie in den besten Zeiten der Ferieninseln. Aber nach wie vor verbanden fast alle Linien die Kanaren mit Europa, und sie fand noch nicht einmal Direktflüge von Madrid nach Paraguay!

Während Lara in ihrem Apartment am Tisch saß und auf dem Tablet herumtippte, mußte sie sich eingestehen, daß die Zeit gegen sie arbeitete. Vor einem Tag noch war sie sich fast schon niederträchtig vorgekommen, daß sie nur an sich selbst dachte, sich selbst retten und die anderen ihrem Schicksal überlassen wollte. Jetzt begann sie zu fürchten, daß ihr Beispiel Schule machte. Wenn nun mehrere ihrer Mitbürger – Mitgesellschafter – Atlantis den Rücken kehren wollten? Dann konnte ihr Frenzen keine Sonderkonditionen mehr einräumen. Nun, sie hatte nicht ihr gesamtes Geld investiert, aber um sich irgendwo anders einzukaufen … Die »Volksversammlung« konnte natürlich die Auflösung der Gesellschaft beschließen – aber wieviel wäre dann ein Anteil noch wert?

 

Ein Anruf. Nein, nicht Ben. Als hätte Frenzen gespürt – erahnt! –, daß sie gerade an ihn dachte. Nun, sie war darauf gefaßt, daß sich all ihre schönen Pläne zerschlugen.

»Frau Schneider, nein, Sie müssen sich nicht wieder zu mir bemühen.« Eine Pause, dann kam er mit seinem Anliegen heraus. Ein kleiner Gefallen, mehr nicht. »Sie haben doch, wie man mir berichtet, ein recht gutes Verhältnis zum Servicepersonal. Können Sie für mich, nein, für uns alle, in einer Frage unauffällig eruieren …«

Er druckste ein wenig herum, ungewöhnlich für einen sonst recht hemdsärmeligen Manager. »Die Beben hinterlassen ihre Spuren. Auch beim Personal. Das gesamte Gärtner-Team will kündigen, und von den Zimmerkräften höre ich Ähnliches. El seísmo, el terremoto, ich höre nichts anderes, Atlantis, nomen est omen, hier sei man sich seines Lebens nicht mehr sicher. Was für ein Aberglaube!«

Lara begriff nicht, wie sie helfen sollte. Mußte sie künftig ihr Apartment selbst reinigen? Die Wäsche wurde – wie bei Hotels – irgendwo in einem Service-Center gewaschen.

»Nein, ich vermute, die Hysterie ist lediglich eine Verhandlungsstrategie. Diese Schlitzohren wollen, denke ich, mehr Geld. Sozusagen einen handfesten Risikozuschlag. Darüber kann man reden. Aber meine, unsere Position wäre stärker, wenn wir Gewißheit hätten, daß die Furcht vor einem großen Beben tatsächlich nur ein vorgeschobenes Argument ist. – Dabei zahlen wir doch schon besser als alle Hotels von Lanzarote bis El Hierro!«

Endlich verstand Lara. Sie sollte Roberta ausfragen. Gut, warum nicht. Aber sie wollte nicht als Spion der Geschäftsführung auftreten. Sie würde, und das sagte sie Frenzen auch, mit offenen Karten spielen: Also mal ehrlich, Roberta, habt ihr wirklich so großen Bammel oder wollt ihr nur eine deftige Zulage? Ich will wissen, ob ich künftig selbst putzen muß.

»Sie werden schon die richtigen Worte finden. Und lassen Sie sich bitte nicht zu viel Zeit. Es ist dringlich. Urgente.«

Sie lief Roberta nicht hinterher! Aus Prinzip. Nicht weil sie Señora und Atlantierin war und Roberta nur ein Zimmermädchen, sondern weil sie niemandem nachlief, niemals. Bis vor die Tür schaute Lara aber doch. Ruhe herrschte im Innenhof des Apartmentgebäudes. Von den Bambuspflanzen, die inzwischen bis zur dritten und obersten Etage gewachsen waren, drang ein angenehm kühler Lufthauch herüber. Geschlossene Türen. Als wäre hier ewig Siesta.

Sie kehrte in ihre Räumlichkeiten zurück. Natürlich, das Servicetelefon. Sie konnte das Management rufen, sich zu Roberta durchstellen lassen. – In all den Jahren hatte sie das altmodische Festnetzgerät mit dem petrolgrünen Schriftzug der Herstellerfirma nicht ein einziges Mal benutzt. Lothar hatte damit manchmal die »Limmershine« gebucht oder einen Snack bestellt.

Ein zaghaftes Klopfen erklang von der Tür. In diesen Tagen geriet wohl alles aus den Fugen! Selbst der Reparaturservice meldete sich doch stets über das Handy an! Sie öffnete vorsichtig, denn sie erwartete Vanessa oder – schlimmer Gedanke! – den Daakun-Typen, da stand jedoch Roberta, wie durch Telepathie gerufen, schüchtern, unsicher, verlegen. Wenn die Señora … da wäre … Julio hat … der Keller …

Lara konnte sich keinen Reim auf das Gestammel machen. Das Haar der sonst so adretten jungen Frau war in Unordnung geraten, die Wangen glänzten erhitzt.

Kopfnickend bat Lara sie herein. Roberta zeigte auf den Gang, wieder hieß es »Julio, Julio« – und da war der Genannte, ein junger Mann, der zaghaft herantappte.

In Deutschland hätte sie niemals zwei Fremde gleichzeitig in ihr Haus gelassen! Aber hier war man auf den Kanaren, im sicheren Atlantis.

Julio war noch ein wenig kleiner als Roberta, er hatte dieselben hübschen, ja fast mädchenhaften Gesichtszüge, dieselbe Art zu gestikulieren. Vielleicht Robertas Bruder?

Sie winkte die beiden in das große Zimmer mit dem Panoramafenster, bat sie am Tischchen Platz zu nehmen, suchte nach den richtigen spanischen Ausdrücken, und wie sie die beiden verdruckst vor sich sah, platzte es ganz familiär aus ihr heraus: »Also Kinder, was habt ihr auf dem Herzen?«

Nun sprudelte es aus ihnen hervor, beide redeten gleichzeitig los, el terremoto, la máquina enorma, el tremor, peligro – das ging wild durcheinander.

Lara erhob sich: Wollten sie ein Wasser? Sin gaz, con gaz? Oder einen Café solo? Jetzt bediente sie schon das Personal! Und die beiden starrten sie auch prompt an wie ein Wesen aus einer anderen Welt, und sie zögerten etwas anzunehmen. Natürlich, das fiel Lara ein, als ihr Espressoautomat zu röcheln begann, wir verstoßen hier gegen die Hausordnung von Atlantis. Gegen einen Paragraphen, der gedacht war, beide Seiten zu schützen. Vor allem auch das weibliche Personal gegen Übergriffe der Hausherren! – Und, andersherum, diese vor Fällen von Erpressung …

Sie tranken, der Redefluß verlangsamte sich, und allmählich begriff Lara, was vorgefallen war. Julio, ein Cousin, kein Bruder, gehörte zu einem Reparaturteam, das kleine Schäden ausbesserte. Und in den letzten Tagen war besonders viel Putz von den Wänden geplatzt. Er war mit seinen Kollegen auch in den Untergeschossen unterwegs. Zuerst war ihm nur aufgefallen, daß es dort anders klang als sonst. Dann hatte er einmal gemerkt, wie die Wände vibrierten, aber anders als von der Belüftungsanlage. Mit einem Freund habe er eine Stahltür in der untersten Etage geöffnet – wo sie immer geglaubt hätten, daß sich hier der Weinkeller befände – und dann hätten sie la máquina enorma, die gewaltige Maschine gesehen, una bestia! Früher, so der Freund, seien hier alle Maschinen – plötzlich war máquina in den Plural geraten – tot, inactivo, gewesen, aber jetzt leuchteten die Lämpchen, brummten die Aggregate. Sein Chef, der Teamleiter, habe gesagt, daß sie das nichts angehe und alles schon seine Richtigkeit habe. Trotzdem, seit dem ersten terremoto hätten sich die Töne im Untergeschoß verändert. Und das ängstige Roberta. Aber mit wem könne er schon reden – nicht mit den Chefs, nicht mit den Managern, und schon gar nicht mit el jefe, dem obersten Chef, dem doctor Frenzen.

Sie schwiegen. Lara nippte von ihrem Wasser und überlegte. Was hatte der Junge wirklich gesehen oder gehört? Wollte er, daß sie Frenzen informierte? Aber nicht auf bloßes Hörensagen hin! Nachher stellte sich das ganze Gewese als völlig harmlos heraus, ein Hilfsarbeiter hatte nach dem Weinkeller gesucht und Gespenster gesehen. Sie brauchte etwas Handfestes, Beweise.

»Hast du Fotos gemacht?« Sie duzte ihn, er antwortete der Señora. Nein, daran habe er nicht gedacht.

Sie lehnte sich zurück. Sie war gedanklich schon dabei, die Koffer zu packen und die Zelte abzubrechen. Was ging sie da noch an, ob eine Maschine im Keller nicht mehr ganz rundlief? Wahrscheinlich war es nur die Wasseraufbereitung oder der Solarspeicher. Einmal nachzuschauen schadete nicht. Sollte sie Unterstützung mitnehmen, Gregor vielleicht? Aber nein, wie stünde sie da, wenn sich alles in Luft auflöste! Lara, die seismisch Sensible, die sich von den Beben ins Bockshorn jagen ließ und nun mit halben Kindern Gespenstern auflauerte.

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