Das Sandmann-Projekt

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Fricke blätterte im Anhang des Testaments. »Als Vermögenswerte wurden das Haus im Schleusenredder und ein Festgeldkonto angegeben.«

»Und damit reden wir über eine halbe Million Euro.« Tiedemann nahm Fricke die Dokumente aus der Hand und ging damit zu seinem Schreibtisch. »Laut Testament wurde Michael Baumann in Berlin geboren.« Er tippte einige Befehle in seine Computertastatur. »Ich habe mit einem Berliner Kollegen gesprochen und der hat mir den EWO-Eintrag für Michael Baumann geschickt.«

»Wenningers Schwester, deren Tochter und die Enkelkinder gehen bis auf den Pflichtanteil also leer aus«, stellte Fricke fest. »Ob die das wissen?«

»Ich rufe die Auskunft an.« Tiedemann griff zum Telefonhörer. »Können Sie mich bitte mit einer Nummer in Berlin verbinden?« Er nannte die beim Einwohnermeldeamt eingetragene Adresse und lauschte einen Moment, ehe er die Sprechmuschel des Telefons mit der Hand umschloss. »Ein Michael Baumann ist unter der Adresse nicht verzeichnet. Dafür Horst und Hertha Baumann.«

»Möglicherweise die Eltern.« Malin tauschte einen Blick mit Fricke.

»Sie verbinden mich.« Tiedemann stellte die Telefonanlage auf Lautsprecherfunktion und alle lauschten gebannt dem Freizeichen.

»Hertha Baumann«, meldete sich eine Frauenstimme.

»Mein Name ist Ole Tiedemann, ich bin Kriminalkommissar beim LKA Hamburg. Kann ich bei Ihnen einen Michael Baumann erreichen?«

Stille.

»Frau Baumann? Kann ich bitte mit Michael Baumann sprechen?«

Der Hörer wurde aufgelegt.

Tiedemann warf Fricke einen irritierten Blick zu und wählte ein weiteres Mal. Niemand hob ab.

»Bleib da dran, Ole.« Fricke sah Andresen an. »Wie weit seit ihr mit der Sichtung von Wenningers Unterlagen?«

Andresen zwirbelte an seinem Schnauzer. »Wir sind so gut wie durch. Alles nur Versicherungskram oder Unterlagen, die sein Haus oder die Praxis betreffen. Nichts Persönliches. Keine Kinderfotos, keine Briefe, keine Zeugnisse, nicht ein einziges Dokument von vor 1990. Als hätte es Kurt Wenninger da noch nicht gegeben.«

»Das ist doch nicht normal.« Frickes Kiefermuskeln malmten.

»Wenninger wollte offenbar nicht, dass jemand etwas findet«, erwiderte Malin. »Der Mann hatte etwas zu verbergen.«

Fricke musterte seine Mitarbeiter grimmig. »Dann fangt an zu graben, und zwar so tief ihr könnt.«

Nach dem sie zwei Stunden lang ergebnislos sämtliche Suchmaschinen im Internet mit Kurt Wenningers Namen gefüttert hatte, beschloss Malin, Stefan Biedermann aufzusuchen. Das merkwürdige Verhalten des Postboten während der ersten Befragung war ihr im Gedächtnis geblieben. Sie rief bei seiner Dienststelle an und erfuhr, dass er bereits Feierabend gemacht hatte und vermutlich in seinem Schrebergarten anzutreffen war.

Das Navi in ihrem Mini führte Malin zu einer weitläufigen Kleingartenkolonie in Langenhorn. Alte Bäume, halbhohe grüne Hecken und prächtige Blütenbüsche säumten die Wege. Auf den Grundstücken standen Häuser in Miniaturformat.

Vor einem dunkelrot gestrichenen Holzhaus hockte ein Mann mit Pferdeschwanz auf einer überschaubaren Rasenfläche und beförderte mit einem Unkrautstecher Löwenzahn aus dem Gras.

Malin öffnete das Gartentor. »Hallo, Herr Biedermann.«

Der Postbote sah kurz auf. »Hallo.« Ungerührt zupfte er das Unkraut von seinem Hilfsgerät umd warf es in den neben ihm stehenden Eimer.

»Ich würde mit Ihnen gerne noch mal über Kurt Wenninger sprechen.« Malin trat näher.

Stefan Biedermann sah zum Himmel, an dem sich dunkle Wolken auftürmten. »Eigentlich wollte ich den Rasen fertig machen. Ich muss noch mähen und hinterher düngen, und zwar bevor der Regen kommt.« Er widmete sich dem nächsten Löwenzahn.

Malin nahm den Faden auf. »Jemand hat etwas in Herrn Wenningers Rasen gemäht.« Sie beobachtete, wie Stefan Biedermann mitten in der Bewegung innehielt. »Zahlen oder Buchstaben, es ist schwer zu erkennen.«

Biedermann erhob sich aus der Hocke. »In Wenningers Rasen? In sein Heiligtum?« Er streifte Malin mit einem eigentümlichen Blick.

»Wissen Sie etwas darüber?«

»Der Doktor hätte das niemals zugelassen«, murmelte Stefan Biedermann, während er den Unkrautstecher von einem verbliebenen Rest Löwenzahn befreite.

»Herr Biedermann? Wissen Sie etwas darüber?«

»Nein.« Er hob den Blick und sah ihr direkt in die Augen.

»Bei unserem letzten Gespräch haben Sie erwähnt, dass Herr Wenninger mit Ihnen über seine Arbeit als Psychiater gesprochen hat. Was genau hat er erzählt?«

Stefan Biedermann runzelte die Stirn. »Streng genommen hat er es nicht von sich aus erzählt. Ich habe ihn gefragt, wofür der Doktortitel auf seinem Briefkasten steht.« Er ließ sein Gartenwerkzeug in den Eimer gleiten und steckte die Hände in die Taschen seiner grünen Arbeitshose. »Dabei hatte ich mit irgendetwas in Richtung Botanik oder Biologie gerechnet. Dass er so ein Nervenarzt war, hat mich aus den Latschen gehauen.«

»Warum?«

»Das passte einfach nicht zu ihm. Sagt man nicht von Psychiatern, dass die selbst alle eine Schraube locker haben?« Er schüttelte den Kopf. »Na ja, vielleicht habe ich auch einfach nur eine falsche Vorstellung von dem Beruf. Ich habe ihn mal gefragt, was man so macht als Psychiater. Da hat er gesagt, er helfe den Menschen dabei, ihre verlorenen Seelen wiederzufinden.«

Ihre verlorenen Seelen? Malin machte sich im Geiste eine Notiz. »Hat er Ihnen sonst noch etwas von seiner Arbeit erzählt?«

»Nie wieder. Als hätte er das eine Mal schon zu viel verraten. Aber das war seine Art. Der Doktor konnte stundenlang über seinen Garten philosophieren, aber sobald es um Persönliches ging …« Seine Stirn krauste sich. »Vielleicht fragen Sie mal bei diesem Club nach, zu dem er immer gegangen ist.«

»Was für ein Club?«, fragte Malin überrascht.

»Irgend so ein Pfeifenclub. Der Doktor war dort ein- bis zweimal die Woche.« Der Postbote sah sie erstaunt an. »Wussten Sie das denn nicht?«

Malin unterdrückte die Antwort, die ihr auf der Zunge lag. »Wissen Sie möglicherweise auch, wo die Mitglieder dieses Clubs sich treffen?«

»In irgendeiner Gaststätte.« Biedermann schwieg einen Moment, und es schien, als wäge er verschiedene Möglichkeiten ab. »Irgendwo in Langenhorn. Genaueres weiß ich nicht.«

Wenninger war am Langhorner Markt eingestiegen, erinnerte sich Malin. »Möglicherweise hilft uns das schon mal weiter. Vielen Dank, Herr Biedermann.« Sie musterte ihn und konnte nicht verhindern, dass die unterdrückten Worte nun doch den Weg über ihre Lippen fanden: »Ehrlich gesagt würde es mich brennend interessieren, woher Sie davon wissen. Haben Sie mir nicht gerade vor wenigen Augenblicken erzählt, dass Herr Wenninger nicht gerne über Persönliches sprach?«

Wieder erschien dieser eigentümliche Blick in Biedermanns Augen. »Er hat es irgendwann mal erwähnt.«

»Aha. Hat Herr Wenninger vielleicht noch etwas anderes erwähnt, das uns helfen könnte, seinen Mörder zu finden?« Sie fixierte den Postbeamten noch eingehender. »Irgendwann?«

»Nein, hat er nicht.« Biedermann griff nach dem Eimer und nahm demonstrativ den Unkrautstecher heraus.

»Gut, dann lasse ich Sie jetzt mit Ihrem Rasen allein. Vielen Dank für Ihre Hilfe.« Malin drehte sich um und ging durch das Gartentor. Dabei spürte sie den Blick des Postboten im Rücken.

»Frau Brodersen!«, rief Stefan Biedermann ihr hinterher. »Lassen Sie Doktor Wenningers Rasen mähen!«

Malin sah irritiert über ihre Schulter, doch von dem Mann war nichts mehr zu sehen.

Als Malin zurück ins Präsidium kam, waren die Schreibtische ihrer Kollegen verwaist. Sie schenkte sich einen Becher Kaffee ein und setzte sich an ihren Platz. Nachdenklich starrte sie aus dem Fenster in den bewölkten Himmel. Was machte man in einem Pfeifenclub? Rauchen und philosophieren?

Malin nippte an ihrem Kaffee. Er schmeckte ungewöhnlich bitter. Sie schob den Becher beiseite, öffnete die unterste Schublade ihres Schreibtisches und zog eine Papiertüte mit einem Franzbrötchen vom Vortag heraus. Genüsslich biss sie in das süße Hefegebäck. Sofort breitete sich der vertraute Butter-Zimt-Geschmack auf ihrem Gaumen aus.

Derart gestärkt, gab sie in die Internet-Suchmaschine die Begriffe Pfeifenclub und Hamburg ein. Zwölftausend Treffer. Anscheinend waren solche Clubs hier nichts Ungewöhnliches. Sie las sich einige der Vereinsbeschreibungen durch. In vielen häuften sich Dinge wie Förderung der Geselligkeit und Erhaltung von Traditionen, auch von Aktionen wie Zigarillowettrauchen und Kegelturnieren war die Rede. Bei weiteren Clubs wurden Wanderungen und Ausflüge erwähnt, sowie Spendenaktionen und das jährliche Grünkohlessen.

Malin gab als zusätzlichen Begriff Langenhorn in die Maske ein. Nur noch einhunderteinundzwanzig Treffer. Sie ging die einzelnen Seiten durch, nur um festzustellen, dass nicht einer davon in unmittelbarem Zusammenhang mit einem Langenhorner Pfeifenclub stand.

Die Tür wurde aufgerissen und Tiedemann erschien. »Du bist zurück? Vorhin war ein Taxifahrer hier und wollte was von dir.«

»Der sollte mich doch anrufen«, entfuhr es Malin.

»Davon hat er nichts gesagt.« Tiedemann setzte sich hinter seinen Schreibtisch. »Dafür konnte er sich umso besser an Kurt Wenninger erinnern. Er sagt, der Alte sei sternhagelvoll gewesen und hätte während der ganzen Fahrt gezetert. Es hörte sich wohl so an, als hätte Wenninger sich an dem Abend heftig mit jemandem gestritten.«

»Sind Namen gefallen?«

»Wenninger hat etwas von einem Admiral gefaselt.« Tiedemann lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück. »Möglicherweise meinte er jemanden vom Militär, aber um da einen Zusammenhang herzustellen, fehlen uns zahlreiche Infos. Ich habe sicherheitshalber eine Abfrage bei EWO gemacht, für den Fall, dass es sich um einen Nachnamen handelt. Nichts.« Er rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel. »Ich komme übrigens gerade vom Chef. Wir sind mit der Suche nach Michael Baumann kein Stück vorangekommen, deshalb hat Fricke die Berliner Kollegen um Unterstützung gebeten.«

 

»Apropos Suche, wo steckt eigentlich Sven?«

»Beim Zahnarzt.« Tiedemann musterte Malin. »Und? Hast du bei Biedermann etwas erreicht?«

Sie erzählte von dem Gespräch mit dem Postboten. Tiedemann hob die Brauen. »Ein Pfeifenclub? Das sollten wir überprüfen.«

»Bin schon dabei«, entgegnete Malin. »Allerdings gibt es Dutzende in Hamburg. Die meisten Gruppen treffen sich in irgendwelchen Gaststätten oder Vereinsheimen. Biedermann hat in diesem Zusammenhang Langenhorn erwähnt, doch möglicherweise wollte er sich damit auch nur wichtig machen.« Sie knüllte die leere Brötchentüte auf ihrem Tisch zu einer kleinen Kugel zusammen und feuerte sie in den Papierkorb. »Ich habe das Gefühl, wir treten auf der Stelle.«

Tiedemann schlug sich an die Stirn und gab etwas in seine Computertastatur ein. Dann erhellte sich sein Gesicht. »Dass ich da nicht gleich draufgekommen bin! Das Admiral ist eine Gaststätte. Ich kenne sie sogar. Wir haben dort vor einigen Jahren in einem Fall recherchiert. Und jetzt rate mal, in welchem Stadtteil sie sich befindet.«

»Wenn du so fragst, nehme ich an, in Langenhorn?«

Tiedemann grinste. »Und zwar in unmittelbarer Nähe zum Langenhorner Markt.« Er griff nach seiner Jacke. »Kommst du?«

8

Die Gaststätte Admiral befand sich in einem zitronengelb gestrichenen Haus direkt an der vielbefahrenen Tangstedter Landstraße. Von weitem wirkte das Gebäude mit seinen weißen Sprossenfenstern und dem roten Ziegeldach einladend, doch als sie darauf zugingen, bemerkte Malin die fleckige Fassade und das abgeblätterte Holz an den Fensterrahmen. In einem Schaukasten neben dem Eingang hing eine Speisekarte mit verblasster Schrift.

Die Eingangstür führte die Kriminalbeamten direkt in den Gastraum. Tische und Stühle aus dunklem Holz, eine breite Theke mit Barhockern und eine alte Eistruhe bildeten die Einrichtung. Auf jedem Tisch stand eine kleine Vase mit einer roten Nelke, an den Wänden hingen alte Bierplakate.

Ein hagerer Mann mit Kinnbart hantierte hinter dem Tresen mit der Zapfanlage und sah den Neuankömmlingen missmutig entgegen. »Wir haben noch geschlossen. Steht auch auf dem Schild an der Tür. Kommen Sie in einer halben Stunde wieder, dann gibt’s auch Bier.«

»Wir möchten kein Bier, sondern eine Auskunft.« Tiedemann zückte seinen Dienstausweis. »Aber vielleicht verraten Sie uns erst mal Ihren Namen.«

»Gregor Lenz. Das ist mein Schuppen hier.« Der Wirt wischte sich die Hände an einem Handtuch ab. »Also, was kann ich für Sie tun? Ärger kann ich in meiner Gaststätte nicht gebrauchen.«

»Ist Ihnen der Name Kurt Wenninger bekannt?«

Lenz schüttelte den Kopf. »Sagt mir nichts.«

Tiedemann zog ein Foto des Mordopfers aus seiner Jackentasche und schob es dem Wirt über die Theke.

Gregor Lenz betrachtete es. »Das Gesicht kommt mir allerdings bekannt vor. Was ist mit dem Mann?«

Malin ergriff das Wort. »Herr Wenninger ist vor einigen Tagen in seinem Haus tot aufgefunden worden. Ermordet.«

»Das ist schlimm.« Der Blick des Wirts wurde argwöhnisch. »Und was hab ich damit zu tun?«

»Wir gehen davon aus, dass sich Herr Wenninger am Dienstagabend, den fünften August, in Ihrer Gaststätte aufgehalten hat«, antwortete Tiedemann. »Können Sie das bestätigen?«

Nachdenklich krempelte Lenz die Ärmel seines schwarzen Hemdes hoch. »Wäre schon möglich. Ich glaube, dieser Wenninger ist einer unserer Schmauchfreunde. Wir vermieten zweimal wöchentlich einen unserer Nebenräume an einen Pfeifenclub. Völlig legal, versteht sich.«

Malin und Tiedemann wechselten einen Blick.

Gregor Lenz schien die Doppeldeutigkeit seiner Worte ebenfalls aufzugehen, denn er schob eilig eine Erklärung hinterher. »Damit meinte ich natürlich, was das Rauchen in Gaststätten anbelangt!«

Tiedemann winkte ab. »Entspannen Sie sich. Wir sind von der Mordkommission, nicht vom Ordnungsamt. Also noch mal zurück zu besagtem Dienstag vor zwei Wochen. Ein Zeuge hat ausgesagt, Herr Wenninger sei an dem Abend auffallend betrunken gewesen.«

»Hier bei uns?« Der Wirt runzelte die Stirn. »Es gab da vor kurzem tatsächlich einen Vorfall. Was genau im Clubraum vorgegangen ist, kann ich Ihnen nicht sagen, nur, dass es dort sehr laut wurde. Möglicherweise war es sogar an dem Tag, von dem Sie sprechen. Ich frag mal meinen Koch.« Er öffnete die satinierte Schiebetür einer Durchreiche. »Friedhelm? Kommste mal?« Keine Antwort. »Ich seh mal nach, wo er steckt. Bin gleich wieder da.« Der Wirt verschwand durch die angrenzende Tür.

Malin lehnte sich an den Tresen. »Endlich tut sich was.«

»Abwarten«, entgegnete Tiedemann trocken. »Selbst wenn Wenninger an dem Abend hier war, muss das noch lange nichts bedeuten.«

»Du bist immer so verdammt sachlich«, entfuhr es Malin.

»Jetzt stell dir mal vor, ich wäre genauso betriebsam wie du«, konterte ihr Kollege.

Betriebsam? Sie verkniff sich eine Antwort und betrachtete Ole Tiedemann aus den Augenwinkeln. Heute wirkte er besonders blass, unter seinen Augen konnte man sogar das Schimmern der Adern erkennen. Ihr Kollege sah immer ein wenig kränklich aus und einmal mehr fiel Malin auf, dass sie im Grunde nichts von ihm wusste.

»Sag mal, Ole, wohnst du eigentlich mit jemandem zusammen?«, platzte es aus ihr heraus.

»Wie kommst du jetzt darauf?« Er schaute sie überrascht an.

»Na ja, solange Fred im Urlaub ist, sind wir ja mehr oder weniger Teampartner. Sollte man da nicht etwas besser übereinander Bescheid wissen?«

»Ich bin allein.« Tiedemanns Miene war ausdruckslos. Nach einigen Sekunden fügte er leise hinzu: »Es ist lange her, dass mich überhaupt jemand danach gefragt hat.«

Malin fühlte sich unwohl in ihrer Haut. Sie wünschte, sie hätte einen besseren Zeitpunkt für ihre Frage gewählt.

Gregor Lenz hatte einen bulligen jungen Mann mit Kochschürze im Schlepptau, als er zurück in den Gastraum kam. »Das ist Friedhelm, mein Koch. Und das«, er wies auf die beiden Kriminalbeamten, »sind die Herrschaften von der Polizei. Bei unseren Schmauchfreunden ist es doch vor einiger Zeit etwas lauter zugegangen. Weißt du noch, ob der hier dabei war?« Der Wirt wies auf Wenningers Foto, das noch immer auf der Theke lag.

Der Koch nickte sofort. »War er. Ich bin ihm im Flur über den Weg gelaufen. Der war ziemlich besoffen.«

»Weißt du auch noch, an welchem Tag?«

Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. »Dienstag, der fünfte August. Das war der Tag, an dem ich eigentlich frei hatte«, sagte er spitz.

»Haben Sie mitbekommen, worum es ging?«, mischte sich Malin ein, bevor Lenz auf den unüberhörbaren Vorwurf seines Kochs reagieren konnte.

Friedhelm schüttelte den Kopf. »Nein, nur dass der Alte total aufgebracht war. Ich glaube, er wollte gerade gehen.«

»Wissen Sie noch, wie spät es da war?«

»Muss kurz vor zwölf gewesen sein, ich war gerade mit dem Saubermachen fertig und wollte Feierabend machen. Mehr weiß ich aber auch nicht. Kann ich wieder in die Küche? Meine Sauce brennt sonst an.«

»Gehen Sie nur.« Tiedemann wandte sich wieder dem Wirt zu. »Haben Sie vielleicht ein paar Namen für uns?«

Lenz schüttelte den Kopf. »Ich führe hier keine Anwesenheitsliste, ich habe nur den Raum vermietet.«

»Und wer bezahlt die Miete?« Tiedemann steckte Wenningers Foto wieder ein und zückte sein Notizbuch.

Der Wirt dachte angestrengt nach. »Wie heißt der noch gleich … König, Kaiser, irgendwie so.«

»Irgendwie so?« Tiedemanns Miene wurde streng. »Für die Miete muss es doch Belege geben.«

»Da müsste ich erst nachsehen.« Gregor Lenz wurde rot. »Zu Hause.«

»In Ihrem eigenen Interesse wäre es besser, wenn Sie diese Belege finden würden.«

Lenz nickte. »Heute Abend findet übrigens auch ein Treffen der Schmauchfreunde statt. Um acht.«

»Wir kommen wieder.« Tiedemann warf dem Wirt einen finsteren Blick zu und drehte sich um.

Malin folgte ihm zum Dienstwagen. »Es gibt keine Belege.«

Ihr Kollege deutete ein Nicken an. Er schien etwas sagen zu wollen, doch er zögerte einen Moment. »Wegen deiner Frage vorhin, Malin … Mach dir keine Gedanken um mich. Ich halte Berufliches und Privates getrennt. Das ist besser so.« Bevor sie etwas erwidern konnte, stieg er in den Dienstwagen und startete den Motor.

Zwei Stunden später stand Malin vor Frickes klobigem Holzschreibtisch, einem Relikt seiner früheren Dienststelle, und sah ihren Vorgesetzten ungläubig an. »Das ist nicht dein Ernst, Chef!«

»Das ist mein völliger Ernst.« Fricke zog ein Salamisandwich aus einer Papiertüte und biss genüsslich hinein. »So gut solltest du mich mittlerweile kennen«, fügte er zwischen zwei Bissen hinzu.

»Aber, Chef.« Malin setzte sich unaufgefordert auf den durchgesessenen Besucherstuhl. »Vielleicht …«

Fricke unterbrach sie mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Nichts da. Ole und Sven übernehmen diesen Pfeifenclub. Du brauchst gar nicht erst zu versuchen, mich um den Finger zu wickeln. Dein Undercover-Einsatz an der Corvinius Law School war das letzte Mal, dass dir das gelungen ist. Und wir wissen beide, wie das geendet hat.« Er nahm einen weiteren Bissen von seinem Sandwich und warf ihr einen scharfen Blick zu. »Ich erwarte, dass du dich an meine Anweisungen hältst.«

Malin hätte ihn gern darauf hingewiesen, dass sie mit ihrem verdeckten Einsatz damals den Ermittlungen entscheidend auf die Sprünge geholfen hatte, doch sie bemerkte gerade noch, wie sich Frickes Hals rosa verfärbte. Wenn die Farbe erst einmal bis ins Gesicht wanderte und ins Dunkelrote wechselte, wäre mit ihrem Chef nicht mehr gut Kirschen essen. Es lohnte sich nicht, ihn an diesem Punkt weiter zu reizen. Auch sie hatte dazugelernt.

»Außerdem habe ich für dich eine ganz andere Aufgabe.« Fricke griff nach der Serviette und wischte sich die verbliebenen Brotkrümel vom Mund. »Du hast doch in der Vergangenheit schon öfter dein Händchen für ältere Damen unter Beweis gestellt.«

»Hab ich?«, fragte Malin irritiert.

»Du wirst dich gleich morgen früh um Wenningers Schwester kümmern. Fühl ihr auf den Zahn. Ich will wissen, was es da für Feindseligkeiten zwischen ihr und ihrem Bruder gegeben hat. Frag sie auch nach diesem Michael Baumann. Konfrontiere sie mit dem Testament.«

Malin nickte. »Soll ich jemanden mitnehmen?«

Der Anflug eines Lächelns streifte Frickes Lippen. »Ich denke, das bekommst du genauso gut alleine hin.« Dann wurde sein Blick ernst. »Günther Peters von 412 geht Ende des Jahres in Ruhestand.«

Malin sah ihren Vorgesetzten fragend an. Was hatte sie mit dem Kollegen aus einem der anderen Ermittlungsteams zu tun?

Fricke räusperte sich. »Dein Teampartner hat mir vor seinem Urlaub mitgeteilt, dass er sich für Günthers Stelle beworben hat.« Er musterte Malin aus zusammengekniffenen Augen. »Weißt du etwas über Fredericks Gründe, Brodersen?«

Malin erstarrte. Er hatte es also tatsächlich getan. Sie dachte an den heftigen Streit mit Frederick Bartels während der Ermittlung vor zweieinhalb Monaten. Am Ende ihrer Auseinandersetzung hatte ihr Partner verkündet, das Team nach Abschluss des Falls zu verlassen. Das war vor acht Wochen gewesen.

»Brodersen?«

Malin schluckte. »Ich …« Sie biss sich auf die Lippe.

»Er hat dir nichts davon gesagt, oder?« Fricke strich sich mit beiden Händen übers Gesicht. »Eine schöne Bescherung. Du solltest mit ihm reden, Brodersen. Ich hatte immer das Gefühl, ihr hättet einen besonderen Draht zueinander. Vielleicht lässt er sich von dir umstimmen.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Am besten machst du jetzt Feierabend. Sortier deine Gedanken, triff dich mit deinem Freund. Du hast doch einen neuen Freund, oder?«

»Der Flurfunk funktioniert offenbar.« Malin erhob sich von ihrem Stuhl.

»Bis morgen, Brodersen«, brummte Fricke. Seine Augen blickten besorgt.

01. Februar 1979

Kein Baum, kein Strauch, kein Himmel. Andauernd nur tris­­te Wände und das stetige Summen der Neonröhre, deren grelles Licht sie langsam genauso in den Wahnsinn trieb wie das ewige Warten, dass endlich etwas geschah.

 

Sekunden wurden zu Minuten, Minuten zu Stunden, Stunden zu Tagen. Zumindest vermutete Rena, dass mehrere Tage vergangen waren, seit man sie im Morgengrauen in ihrer Wohnung aus dem Schlaf gerissen hatte. Wissen konnte sie es nicht.

Die Stille und die Einsamkeit waren das Schlimmste. Manchmal hörte sie Schritte vor der Tür oder das schmatzende Geräusch von Gummirädern, bevor ihr das Essen durch die Klappe gereicht wurde.

Rena erhob sich von ihrem Hocker und begann, den schmalen Raum abzulaufen. Sieben Schritte bis zur Tür, sieben Schritte zurück. Ihre Gedanken wanderten zu dem Augenblick, als man ihr die Augenbinde vom Kopf gerissen hatte. Scheinwerferlicht hatte sich wie Tausend kleine Nadelstiche in ihre Netzhaut gebrannt und sie hatte sich ohne Protest durch einen langen Flur zu einem hell erleuchteten Raum führen lassen.

Krampfhaft versuchte Rena die Erinnerung, was darin geschehen war, aus ihrem Gedächtnis zu drängen. Umdrehen. Ausziehen. Bücken. Jede Körperöffnung war genauestens untersucht worden.

Rena beschleunigte ihren Schritt. Sieben Schritte hin, sieben Schritte zurück. Was passierte hier? Warum half ihr keiner? Wo blieb Peter? Ihr wurde schwindelig und sie sank zurück auf den Hocker unter den Glasbausteinen. Stille umfing sie.

Ihr Puls raste. Ich drehe durch, dachte Rena. Sie atmete mehrfach tief durch und spürte, wie sich ihr Puls langsam wieder normalisierte. Ich muss mich zusammenreißen. Für Romy. Für meinen Mann.

Sie hatte Peter im Jugendclub kennengelernt. Damals war sie gerade sechzehn geworden. Noch am gleichen Abend hatte er sie geküsst und ihr gesagt, dass er sie eines Tages heiraten würde. Rena war regelrecht dahingeschmolzen und hatte sich wie in einem dieser Kitschromane gefühlt, die sie so gerne in der Badewanne las. Sie war felsenfest davon überzeugt gewesen, dass sie und Peter füreinander bestimmt waren. Das war sie bis heute.

Rena hörte Schritte im Flur. Vor ihrer Tür hielten sie an. Sie wartete darauf, dass sie sich wieder entfernten, doch stattdessen wurde ein Schlüssel zweimal im Schloss gedreht. Dann wurde die Tür geöffnet.