Das Sandmann-Projekt

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Im Türrahmen zum Wohnzimmer blieb Malin einen Moment stehen. Die dunkle Holzdecke, der Eichenschrank, die durchgesessene Sofagarnitur und die verblichenen Perserteppiche auf dem Dielenboden, alles sah aus wie beim ersten Mal, als sie diesen Raum betreten hatte. Zumindest fast. Die Kaffeetasse auf dem Beistelltisch fehlte, genauso wie die Leiche.

Malin löste sich aus dem Türrahmen und fuhr mit ihrer behandschuhten Hand die Bücherrücken in einem der Regalfächer des Eichenschranks entlang. Goethe, Brecht, Mann, Molière, Heine, zahlreiche Klassiker. In weiteren Fächern standen etwa zwei Dutzend in Leder gebundene Bände einer Brockhaus-Enzyklopädie und etliche Fachbücher über Neurologie und Psychiatrie nebst weiteren medizinischen Nachschlagewerken.

Malin öffnete eine der Schranktüren und entdeckte ein halbes Dutzend Aktenordner. Den mit dem Vermerk Praxis zog sie als Erstes heraus. Es waren Steuerunterlagen. In einem weiteren fand sie Rechnungen, ausgestellt auf die Praxis, feinsäuberlich mit Überweisungsbetrag und Datum versehen. Sie stellte den Ordner zurück und griff nach einem anderen mit der Bezeichnung Hausunterlagen. Beim Durchblättern stellte sie fest, dass die Papiere bis in die dreißiger Jahre zurückreichten. Neben Grundstücksplänen, Versicherungspolicen und zahlreichen Abgabebescheiden fand sie in dem Ordner auch Grundbuchauszüge. Daraus ging hervor, dass im Jahr 1991 ein Eigentümerwechsel von Margarethe Wenninger, geboren im Jahr 1905, zu Kurt Wenninger stattgefunden hatte.

Und der Vater? Malin betrachtete das Datum auf dem Auszug, der Margarethe Wenninger als Eigentümerin auswies. Februar 1949. Unschlüssig, ob die Eigentumsverhältnisse des Hauses in ihrem Fall von Belang waren, notierte sich Malin die Daten und stellte den Ordner zurück.

Hinter den anderen Schranktüren verbargen sich Porzellan, Vasen und Gläser. Malin öffnete eine der beiden Schubladen. Nippes, vom Häkeldeckchen über Servietten mit Weihnachtsmotiven bis zu kitschigen Porzellanfiguren. Sie drehte eine davon um. Meißen.

In der letzten Schublade fand sie neben einem Pfeifenkästchen einen schmalen Aktenordner mit Kontounterlagen. Sie legte ihn beiseite, um ihn später mit ins Präsidium zu nehmen. Anschließend tastete sie die Ritzen und die Kissen der Sofagarnitur ab, drehte Bilder an den Wänden um, sah hinter dem Fernseher nach und kontrollierte die Unterseiten des Couchtisches, in der Hoffnung, auf irgendetwas zu stoßen, das weiteren Aufschluss auf den Bewohner gab. Nichts.

Sie ging zur Fensterfront und sah in den Garten. Sonnenstrahlen hatten sich durch die Wolkendecke gekämpft und ließen den regennassen Rasen glitzern. Wieder fiel ihr auf, wie akkurat die Hecke und die Buchsbäume getrimmt und die Beete angelegt waren. Malin dachte an ihren eigenen, handtuchgroßen Garten, in dem Blumen und Sträucher wild durcheinander wucherten und der Rasen eher einer Wiese glich.

Der weinrote Samt des Ohrensessels, in dem am Vortag der Tote gesessen hatte, hatte großflächige dunkle Verfärbungen. Sie wandte sich ab und ging ins angrenzende Zimmer. Die Einbauküche wirkte alt und abgewohnt, doch in den Schränken herrschte penible Ordnung. Ofen und Herd waren sauber, ebenso wie der aufgeräumte Kühlschrank.

Malin beschloss, ins Obergeschoss zu gehen. Durch das eingelassene Gitterfenster der Eingangstür tauchten vereinzelte Sonnenstrahlen einen Teil des Flurs in milchiges Licht. Am Garderobenständer hing noch immer der dunkelblaue Blazermantel.

Beklommen ging sie die ausgetretenen, knarzenden Stufen der Holztreppe hinauf. Sie stellte sich vor, wie Kurt Wenninger die Treppe das letzte Mal benutzt hatte. Ob er zu dem Zeitpunkt bereits geahnt hatte, dass ihm jemand nach dem Leben trachtete? Unwillkürlich musste sie an ihren Großvater denken, der nur zwei Jahre jünger als der Tote war. Sie nahm sich vor, ihn in den nächsten Tagen zu besuchen.

Die Schlafzimmereinrichtung war trist und die Tapeten vergilbt. Unter der Dachschräge stand ein schmales Mahagoni-Bett, daneben ein passender Nachtschrank mit einer kleinen Messinglampe darauf. An der einzigen geraden Seite befand sich ein Kleiderschrank mit Spiegeleinsatz. Auf der Bettseite zum Fenster hin zeichnete sich ein Abdruck auf der Decke ab, so als hätte dort vor kurzem noch jemand gesessen.

In der Schublade des Nachtschranks lagen ein Gedichtband von Hermann Hesse, eine Ausgabe des Spiegels, eine Lesebrille und ein Stapel Stofftaschentücher mit Monogramm.

Sie öffnete den Schrank. Der muffige Geruch getragener Kleidung mischte sich mit dem drückenden Leichengeruch. Malin wurde übel und sie öffnete das Schlafzimmerfenster. Dankbar sog sie die frische Luft in ihre Lungen und betrachtete die benachbarten Gärten und die Bäume im angrenzenden Wald, deren Blätter sich bereits verfärbten. Ihr Blick fiel auf die Rasenfläche. Etwas irritierte sie.

»Brodersen!«

Malin zuckte zusammen. Sie hatte nicht gehört, wie im Untergeschoss die Haustür geöffnet wurde.

»Ach, hier steckst du.« Fricke erschien in der Schlafzimmertür und deutete ein Lächeln an. »Und, hast du schon etwas Interessantes aufgestöbert?« Er strich sich über seine vom Wind zerzausten Haare und kam ins Zimmer.

Malin schüttelte den Kopf. »Ich versteh das nicht. Im ganzen Haus habe ich nichts Persönliches gefunden. Die einzige Ausbeute ist ein Aktenordner mit Kontoauszügen.«

»Zumindest gibt uns das schon mal Einblick in die Vermögensverhältnisse«, erwiderte Fricke trocken. »Wäre nicht der Erste, der wegen Geld umgebracht wird.«

Sie drehte sich wieder zum Fenster um und starrte hinunter in den Garten. »Chef, komm mal.«

Fricke trat neben Malin und folgte ihrem Blick. »Ja, und?«

»Irgendwie ist der Rasen an manchen Stellen merkwürdig gewachsen.«

»Bist du jetzt unter die Botaniker gegangen?«, brummte Fricke. »Rasen wächst nicht überall gleichmäßig, das hat er von Natur aus an sich.«

»Trotzdem, schau mal genau hin.« Malin wies auf eine Stelle hinter der Terrasse. »Es sieht fast so aus, als hätte dort jemand etwas ins Gras gemäht. Sind das Zahlen?«

Fricke kniff die Augen zusammen. »Hm … Du könntest recht haben.«

»Das war mit Sicherheit nicht Wenninger.« Malin zog ihr Handy aus der Hosentasche und machte ein paar Fotos. Sie erinnerte sich an die Worte von Stefan Biedermann: ›Englischer Rasen sollte alle paar Tage gemäht werden. Die optimale Länge ist drei bis vier Zentimeter.‹

Malin betrachtete das Foto auf dem Display. »Wenninger saß in seinem Sessel, als er ermordet wurde. Und vermutlich hat er gesehen, dass etwas in den Rasen gemäht wurde.« Sie steckte das Handy zurück in ihre Hosentasche. »Jemand wollte, dass es das Letzte ist, was er in seinem Leben sieht.« Sie schloss das Fenster und wandte sich dann wieder zu Fricke um. »Fragt sich nur, warum.«

6

Ilse Wenninger füllte zwei Finger breit Eierlikör in ein Schnapsglas und hielt es eine Armlänge entfernt in die Höhe. »Auf dich, Kurt!« Sie leerte das Glas in einem Zug.

Dann hielt sie inne. Würde es zurückkommen? Das Gefühl für ihren großen Bruder? Wut und Hass hatten sie zu einer verbitterten alten Frau gemacht. Kurt, der Fremdling, der Mensch, der ihr so vertraut und gleichzeitig so fremd war … Würde sich jetzt, wo sein Herz aufgehört hatte zu schlagen, das tief in ihr vergrabene Gefühl für diesen Mann wieder einstellen? Konnte sie ihm jetzt verzeihen? Doch ließ sich Unrecht mit Unrecht vergelten?

Sie dachte an ihre Kindheit zurück. Kurti hatte ihr das Radfahren und das Schwimmen beigebracht. Er war ihr Beschützer und ihr Held gewesen, ihr großer Bruder.

Dann war sie eingestürzt, ihre Welt. Von einem Tag auf den anderen hatte alles in Trümmern gelegen und sie hatte Kurti verloren.

Ilse griff nach der Flasche und schenkte sich ein weiteres Glas ein.

»Ilse?« Natascha Raschke steckte den Kopf durch die Tür. »Ich habe die Einkäufe ausgepackt. Brauchst du sonst noch was?« Ihr Blick fiel auf die Likörflasche. »Wollen wir noch ein Kaffee trinken und reden?«

Ilse schüttelte den Kopf. Einen Moment wirkte Natascha verunsichert, dann verschwand sie aus der Tür.

Ilse leerte ihr Glas. Jetzt war es vorbei. Kurt hatte bekommen, was er verdient hatte. Nur leider wollte sich bei ihr kein Wohlgefühl einstellen. Sie hatte geglaubt, mit seinem Tod auch ihren inneren Frieden zu finden.

Sie hatte sich getäuscht.

Es war bereits Abend, als das Ermittlungsteam im Konferenzzimmer der Mordkommission zusammentraf. Wie im gesamten Präsidium herrschte auch hier eine nüchterne Arbeitsatmosphäre. Ein Konferenztisch aus hellem Holz dominierte umsäumt von Metallschwingern mit grünen Sitzflächen den Raum. Jemand hatte ein Whiteboard mit Tatortfotos aufgestellt.

Malin setzte sich mit einem Kaffeebecher auf den freien Stuhl neben Ole Tiedemann.

Fricke stand mit ernster Miene an der Stirnseite des Tisches. »Der vorläufige Obduktionsbericht ist gerade gekommen. Am Körper des Toten wurden insgesamt vier Einschüsse festgestellt. In der linken Schulter, im rechten Oberschenkel, im Brustkorb und im Bauchraum, letztere führten zu schweren inneren Verletzungen.« Er sah in seine Unterlagen. »Neben Gewebe und Organen wurden auch einige große Gefäße in Mitleidenschaft gezogen … Kurz zusammengefasst: Kurt Wenninger ist verblutet. Man kann nur hoffen, dass der Mann schnell bewusstlos geworden ist.«

Er räusperte sich. »Laut Dr. Steinhofer hat der Täter nicht weiter als anderthalb Meter vom Opfer entfernt gestanden. Zumindest belegen das die Schmauchhöfe und die Pulvereinsprengungen an den Einschussstellen.« Er sah Frank Glaser an, der sich gerade einen Kaugummistreifen in den Mund schob. »Ich habe die Projektile aus der Rechtsmedizin mitgebracht und an deine Kollegen von 36 gegeben, mal sehen, was sie herausfinden.«

 

»Gibt es schon was Neues bezüglich des Todeszeitpunktes?«, fragte Andresen.

»Nein. Wir müssen den abschließenden Bericht der Rechtsmedizin und das entomologische Gutachten abwarten, aber das kann ein paar Wochen dauern. Bis dahin müssen wir mit dem arbeiten, was wir haben. Kurt Wenninger wurde Dienstag Nacht vor zwei Wochen zuletzt gesehen.« Fricke schaute Malin an. »Hat sich daran etwas geändert?«

Sie schüttelte den Kopf. »Es war das letzte Mal. Ich hänge mich später ans Telefon, um herauszufinden, welches Taxi-Unternehmen ihn gefahren hat.«

»Gut.« Fricke sah in die Runde. »Der fehlende Todeszeitpunkt erschwert uns die Arbeit bei der Alibi-Überprüfung, deshalb würde ich vorschlagen, dass wir uns vorerst auf das Mordmotiv konzentrieren.« Er wandte sich an seinen Stellvertreter. »Wissen wir schon etwas über die Vermögensverhältnisse?«

»Ich habe eine Bafin-Abfrage gemacht«, erwiderte Tiedemann. »Demnach gibt es neben dem Girokonto und einem Sparbuch noch ein Festgeldkonto bei einer anderen Bank. Außerdem hatte der Tote an seinem Schlüsselbund einen Schlüssel zu einem Bankschließfach. Sobald wir den Beschluss haben, statte ich der Bank einen Besuch ab.«

»Ich hab’s schon angeleiert«, informiert ihn Fricke. »Außerdem haben wir aus dem Haus des Opfers einen Ordner mit Kontoauszügen mitgebracht. Es wäre gut, wenn du dir die ansiehst. – Frank, was hast du für uns?« Er wandte sich dem hageren Kriminaltechniker zu.

»Die Spurenlage ist ziemlich mau.« Glaser rückte seine Brille zurecht. »Keine Fremdspuren an der Leiche. Überhaupt haben wir im Erdgeschoss des Hauses nicht die geringste DNA gefunden. Deshalb gehen wir davon aus, dass der Täter nach dem Mord gründlich saubergemacht hat. Das Einzige, was er uns netterweise übrig gelassen hat, waren ein paar Fingerabdrücke. Sie stammen vom Opfer, zumindest bis auf einen Abdruck an der Kaffeedose. Ich hab ihn bereits durch die Datenbank laufen lassen.« Er lächelte grimmig. »Keine Übereinstimmung.«

Fricke zerfurchte nachdenklich seine Stirn. »Was ist mit dem Rest des Hauses?«

»Nichts Auffälliges, allerdings sind die Spuren auch noch nicht alle ausgewertet.«

»Dann haben wir also bisher die Hülse und einen Fingerabdruck an einer Kaffeedose. Das ist nicht gerade üppig.« Fricke sah in die Runde. »Unsere Kollegin Brodersen hat im hinteren Garten des Opfers eine interessante Entdeckung gemacht. Wie es aussieht, wurde dort etwas in den Rasen gemäht. Wir vermuten, dass es sich dabei um Zahlen handelt.«

Malin erhob sich und befestigte einen stark vergrößerten Abzug ihres Handyfotos am Whiteboard.

Andresen kniff die Augen zusammen. »Also, ich kann da nichts erkennen. Das ist doch nur wieder eins von Brodersens Hirngespinsten.«

»Das dachte ich anfangs auch, als Hans mich angerufen hat.« Frank Glaser warf Malin einen entschuldigenden Blick zu. »Aber ich habe mir die Sache angesehen und bin zu dem gleichen Ergebnis wie unsere Kollegin gelangt.« Er hielt ein schwarzes Notizbuch in die Höhe. »Das habe ich im Geräteschuppen entdeckt. Kurt Wenninger hat penibel darüber Buch geführt, wann er seinen Rasen gemäht, gedüngt und vertikutiert hat. Gemäht hat er zuletzt am ersten August, also vor drei Wochen, und laut Buch auf eine Schnitthöhe von vier Zentimeter. Mittlerweile ist der Rasen auf sieben bis zehn Zentimeter nachgewachsen, aber an diesen Stellen …«, er stand auf und tippte mit seinem Kugelschreiber auf verschiedene Punkte des Handyfotos, »ist das Gras nicht nur wesentlich kürzer, sondern die Länge liegt teilweise unter den vier Zentimetern, an die sich Wenninger bei jedem Rasenschnitt pingelig gehalten hat.« Sein Gesichtsausdruck wurde grimmig. »Leider ist durch den unterschiedlichen Wuchs nicht zu erkennen, was dort eingemäht wurde, aber da werde ich mir noch was einfallen lassen.« Glaser setzte sich wieder an seinen Platz.

Andresen rieb sich sein unrasiertes Kinn. »Und was bringt uns das jetzt?«

»Wir müssen herausfinden, was dort eingemäht wurde«, erwiderte Malin trocken. »Und von wem.«

Niemand sagte etwas.

Fricke klatschte in die Hände. »Also gut, verteilen wir die Aufgaben. Ole, du und Sven, ihr nehmt euch den Ordner mit den Kontoauszügen vor, bis wir den Beschluss für die Bank haben. Und bitte fordert beim Telefonanbieter die Verbindungsprotokolle an. Findet außerdem heraus, ob es neben Wenningers Schwester noch weitere Verwandtschaft gibt.«

»Ilse Wenninger hat eine Tochter und zwei Enkelkinder«, erwiderte Tiedemann.

»Dann seht zu, was ihr über die in Erfahrung bringen könnt.« Fricke sah Malin an. »Brodersen, du klärst das mit dem Taxi. Ich möchte wissen, wo Wenninger an dem Abend vor zwei Wochen gewesen ist. Wie es aussieht, wurde er danach nicht mehr gesehen. – Sonst noch Fragen?«

»Eine noch«, sagte Malin. »Solange Fred im Urlaub ist, arbeite ich da alleine?«

Fricke musterte sein jüngstes Teammitglied aus zusammengekniffenen Augen. »Bei der momentanen Personallage ist eine Urlaubsvertretung für Bartels nicht drin. Im Zweifelsfall wende dich an Ole.« Er tauschte einen kurzen Blick mit Tiedemann. Dieser nickte.

Fricke klatschte ein weiteres Mal in die Hände. »Also dann, ab an die Arbeit.«

28. Januar 1979

Das einzige Fenster im Raum war mit Glasbausteinen zugemauert. Eine schmale Pritsche diente als Schlafgelegenheit, gegenüber stand ein kleiner Tisch mit einem Hocker. Waschbecken und Toilette befanden sich in der Nähe der Tür. Von der Decke aus tauchte eine grelle Neonröhre den Raum in kaltes Licht.

Rena saß auf dem Hocker und hatte die Ellenbogen auf den Tisch gestützt. Sie starrte zu den Glassteinen. Zumindest waren sie lichtdurchlässig, und an der Dunkelheit dahinter meinte Rena zu erkennen, dass es Nacht war.

Sie hatte völlig das Zeitgefühl verloren. Wie spät war es? Mitternacht? Drei Uhr morgens oder war es gerade mal sieben Uhr am Abend? Wie lange war sie schon an diesem Ort? Stunden, Tage, Wochen? Anfangs hatte sie noch gezählt, erst die Minuten, dann die Stunden, hatte versucht, die Tageszeiten am matten Schimmer hinter den Glassteinen einzuschätzen. Und an den Mahlzeiten, die ihr durch eine in die Tür eingelassene Klappe gereicht wurden. Schweigend. Brot mit ein wenig Belag oder eine dünne Suppe.

Das Licht ging aus. Rena legte sich auf die Holzpritsche, schlüpfte unter die kratzige Decke und meinte jeden einzelnen Knochen zu spüren.

Sie registrierte den Lichteinfall durch den kleinen runden Spion in der Tür. Jemand beobachtete sie. Sie legte die Hände auf die Decke. Es wurde stockdunkel.

Obwohl Rena todmüde war, konnte sie nicht einschlafen. Unaufhörlich drehten sich die Fragen in ihrem Kopf. Warum bin ich hier? Wer steckt dahinter? Wo ist mein Kind?

Sie schluchzte auf. Wie lange muss ich es hier noch aushalten? Ihr Körper begann unkontrolliert zu zittern. Vor Kälte, vor Hunger und vor Angst. Peter, dachte sie, Peter wird mich hier herausholen. Mit dem tröstlichen Gedanken fielen ihr vor Erschöpfung die Augen zu.

Sekunden später ging das Licht der Neonröhre wieder an.

7

Der köstliche Duft von frischgebackenem Brot und Kaffee zog durch die gemütliche Küche des Lotsenhauses in Övelgönne. Erich Brodersen nahm die heiße Milch vom Herd und schäumte sie mit dem Stabmixer auf. Der ehemalige Fährkapitän wirkte trotz seiner sechsundsiebzig Jahre kräftig und energiegeladen. Sein gebräuntes, wettergegerbtes Gesicht war von vielen Falten durchzogen, und sein Blick aus blauen Augen wirkte klar und intelligent.

»Wir haben lange nicht mehr zusammen gefrühstückt.« Erich warf seiner Enkelin einen liebevollen Blick zu und platzierte das Kännchen mit Milchschaum, einen Teller mit frischem Aufschnitt und ein Glas selbstgemachter Erdbeermarmelade neben die Butterdose auf dem Tisch. Er schnitt das noch warme Brot in dicke Scheiben, legte es in einen Korb und schenkte Kaffee ein.

Malin lächelte. »Ich hatte viel um die Ohren in letzter Zeit.«

»Und das hängt nicht zufällig mit einem ganz speziellen Herrn zusammen? Groß, blond, gutaussehend?« Erich setzte sich an den Tisch und zwinkerte schelmisch.

»Woher …?«

Er schmunzelte. »Ich habe euch letzte Woche zusammen bei Emilia gesehen.«

Emilias Bistro war Malins Stamm-Italiener. Ein kleines Lokal mit Stehtischen, köstlichen, stets frisch zubereiteten Speisen und der quirligen Emilia als Wirtin.

»Ich habe dich gar nicht bemerkt. Warum bist du nicht zu uns an den Tisch gekommen?« Malin griff nach einer Scheibe Brot.

»Ein Rendezvous zu dritt?« Erich lachte und rührte etwas Milchschaum in seinen Kaffee. »Ich habe dich lange nicht mehr so gesehen, Malin. Du hast glücklich gewirkt.«

Malin bestrich die Brotscheibe bedächtig mit Butter und verteilte zwei Teelöffel der Marmelade darauf. »Er heißt Thies.« Dann erzählte sie ihrem Großvater von dem Juraprofessor.

»Hast du ihn schon deiner Mutter vorgestellt?«, fragte Erich, als sie fertig war.

Malin verschluckte sich an ihrem Kaffee. »Ich bin doch nicht verrückt!«

»Ach was!«, entgegnete Erich fröhlich. »Deiner Beschreibung nach entspricht dein neuer Freund der Idealbesetzung, die deiner Mutter als Schwiegersohn vorschwebt.«

»Eben«, konterte Malin. »Die anhaltende Harmonie zwischen Mutter und mir ist schon unheimlich genug.«

Constanze Heidenberg war die Hauptgesellschafterin der Heidenberg Bank, ein hanseatisches Privatunternehmen, das sich seit über 150 Jahren im Familienbesitz befand. Lange Zeit hatte Constanze die Entscheidung ihrer Tochter für die Polizei und gegen die Gesellschafterfunktion in der Bank, in deren Erwartung sie aufgezogen worden war, als persönlichen Affront empfunden. Während einer Mordermittlung zwei Monate zuvor waren sich Mutter und Tochter unvorhergesehen näher gekommen. Eine Situation, die für beide Frauen neu und ungewohnt war.

»Mein Gott, war das lecker. Du solltest öfter Brot backen.« Malin schob ihren leeren Teller von sich.

Erich lächelte erfreut. »Ich dachte, wir könnten später zusammen in die Stadt fahren und ein wenig in den Buchhandlungen nach neuen Krimis stöbern. Was hältst du davon?«

»Viel. Nur leider muss ich gleich ins Präsidium«, erwiderte Malin bedauernd. Die Aussicht auf weitere Stunden am Telefon, um herauszufinden, welches Taxiunternehmen Kurt Wenninger chauffiert hatte, war nicht verlockend.

»Ich dachte, du hast frei?«

»Nicht mehr. Wir haben einen neuen Fall.« Malin umriss ihrem Großvater die Ereignisse der beiden letzten Tage und beschränkte sich auf die Dinge, die auch an die Presse gegangen waren. »Leider tappen wir bisher im Dunklen.«

Ein Schatten fiel auf Erichs Gesicht. »Es muss furchtbar sein, so einsam zu sterben. Unvorstellbar, dass einen wochenlang niemand vermisst.«

Malin griff nach seiner Hand und drückte sie kurz. »Lass uns nächsten Samstag gemeinsam in die Stadt fahren.«

Erich runzelte die Stirn. »Da kann ich nicht. Ich habe eine Einladung nach Berlin bekommen.«

»Wieder von dem Freund, bei dem du schon vor ein paar Monaten warst?«

Er nickte.

»Dann finden wir einen anderen Termin.« Malin warf einen Blick auf ihre Uhr. »Also gut, ich muss leider los. Vielen Dank für das tolle Frühstück.« Sie drückte ihrem Großvater einen raschen Kuss auf die Wange.

»Hältst du mich auf dem Laufenden wegen eures Falls? Die Sache interessiert mich.«

Malin seufzte. Seit ihrem Einstieg bei der Mordkommission fühlte sich ihr Großvater als eine Art Ehrenkommissar. Und daran war sie nicht ganz unschuldig, schließlich hatte sie ihn bei ihrem ersten Fall um Hilfe gebeten. Seitdem schien sich die Sache zu verselbstständigen.

»Und bestell Hauptkommissar Fricke einen schönen Gruß von mir. Er soll unbesorgt sein. Ich habe nicht vor, mich in seinen Fall einzumischen.« Erich zwinkerte ihr zu. »Zumindest vorerst nicht.«

Malin folgte ihrem Großvater in den Flur und nahm ihre Wachsjacke von der Garderobe. Daneben hing Erichs dunkelblauer Blazermantel. Sie erinnerte sich, dass sie in Wenningers Haus ein ganz ähnliches Modell gesehen hatte. Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf.

Wolfgang Herzog band bedächtig seine blau-rot gestreifte Krawatte um den gestärkten Hemdkragen und griff nach den Manschettenknöpfen aus Sterlingsilber mit dem dezent eingravierten Hamburg-Wappen. Die Knöpfe waren ein Geschenk von Verena zu seinem siebzigsten Geburtstag gewesen. Seine Frau war gebürtige Hamburgerin und stammte aus einer der alteingesessenen Unternehmerfamilien.

 

Wolfgang Herzog musterte sich im Spiegel. Die tiefen Falten, den verkniffenen Mund und die dicken Tränensäcke unter seinen Augen. Schon seit Wochen litt er unter Schlafmangel und wälzte sich Nacht für Nacht im Bett herum. Er hatte mehrfach mit der Möglichkeit gespielt, Schlaftabletten zu nehmen, doch der Gedanke daran, was chemische Substanzen in Kombination mit dem alten, teuren Whiskey, den er so liebte, in seinem Körper auslösen konnten, hielt ihn davon ab.

Aus dem Nachbarzimmer drang klassische Violinenmusik. Erst verhalten, dann nahmen die Töne an Lautstärke und Tempo zu. Mendelssohns Violinkonzert. Verena liebte diese Musik.

Wolfgang seufzte, strich mit der Hand durch sein noch immer dichtes, graues Haar und griff nach dem dunkelblauen Zweireiher. Er war spät dran. In einer halben Stunde erwartete ihn der erste Mandant.

Vor mehr als zwanzig Jahren hatte Wolfgang Herzog die Kanzlei Herzog Rechtsanwälte mit dem Schwerpunkt Strafrecht gegründet. Mittlerweile beschäftigte seine Kanzlei am Hofweg fünf weitere Anwälte. Trotzdem hielt Wolfgang das Zepter noch immer alleine in der Hand und hatte auch nicht vor, es in absehbarer Zeit abzugeben.

Im Nebenzimmer klingelte ein Handy, und die Musik wurde leiser gedreht. Das Klackern von hohen Absätzen auf dem Parkett war zu hören, und Sekunden später wurde die Tür geöffnet.

»Deins.« Verena hielt ihm sein Handy entgegen und wie immer in letzter Zeit hatte ihre Stimme einen vorwurfsvollen Klang.

Wolfgang setzte zu einer liebevollen Bemerkung an, doch die Tür fiel schon wieder hinter Verena ins Schloss, und die Musik wurde lauter gestellt. Verdammt, sie gab ihm auch nicht die geringste Chance, sich ihr zu erklären!

Wolfgang blickte auf das Display des klingelnden Handys. Unbekannte Nummer. Er räusperte sich kurz, ehe er sich mit ruhiger Stimme meldete. »Wolfgang Herzog.«

»Grabowsky.«

Wolfgang holte tief Luft. »Du sollst mich doch nicht anrufen!«

»Hast du heute schon in die Zeitung geschaut?«

»Nein.«

Es blieb einen Moment still am Telefon, ehe Grabowsky erneut sprach: »Wenninger ist tot.«

»Was sagst du da?« Unvermittelt begann Wolfgang zu schwitzen.

»Ich sagte, Wenninger ist tot. Es stand heute früh im Abendblatt. Ein gewisser Kurt W. aus Wohldorf-Ohlstedt wurde in seinem Haus tot aufgefunden. Ich kenne den Redakteur. Er hat mir bestätigt, dass es sich um Wenninger handelt.« Grabowsky hob die Stimme. »Die Polizei geht von einem Tötungsdelikt aus.«

»Verdammt.« Wolfgang lockerte mit einer Hand seinen Krawattenknoten.

»Wir sollten uns treffen.«

»Ich muss erst darüber nachdenken.« Er legte auf. Sekundenlang verharrte er und starrte auf das Handy in seiner Hand. Dann verließ er das Schlafzimmer, durchquerte das Nebenzimmer und ging in sein Arbeitszimmer, ohne die Stille in der Wohnung zu bemerken. Er setzte sich in seinen Ledersessel hinter dem massiven Schreibtisch, lehnte sich an die Rücklehne und schloss die müden Augenlider. Dann rief er sich das letzte Zusammentreffen mit Kurt Wenninger ins Gedächtnis.

Kurz vor zehn saß Malin mit dem Telefonhörer am Ohr an ihrem Schreibtisch und lauschte dem Song Dancing Queen.

Zuvor hatte sie sich in der Kriminaltechnik nach Gegenstandsspuren in Wenningers Blazermantel erkundigt. Neben einer Brieftasche mit üblichem Inhalt hatten die Kollegen in einer der Seitentaschen eine Taxiquittung sichergestellt. Datum und Uhrzeit auf dem Beleg passten zur Aussage der Nachbarin. Start- und Zielort hingegen fehlten.

Malin trommelte ungeduldig mit den Fingern auf dem Schreibtisch. In der Warteschleife von Alster-Taxi war noch immer Dancing Queen zu hören. Zum siebten Mal in Folge.

»So, ich hab mit dem Fahrer gesprochen«, meldete sich der Disponent, nachdem das Lied zwei weitere Male vom Band gelaufen war. »Sie haben Glück, der Kollege konnte sich an den Fahrgast erinnern. Der alte Herr soll ziemlich betrunken gewesen sein.«

Malin zückte ihren Stift. »Zu welcher Adresse wurde das Taxi bestellt?«

»Nirgendwohin. Der Fahrgast ist am Langenhorner Markt eingestiegen.«

Malin machte sich eine entsprechende Notiz. »Ich würde gerne mit dem Fahrer persönlich sprechen.«

»Dann geben Sie mir Ihre Nummer.« Der Disponent wirkte genervt. Im Hintergrund klingelte pausenlos das Telefon. »Ich sorge dafür, dass der Kollege Sie in seiner nächsten Pause anruft.«

»Gut.« Malin nannte ihm ihre Handynummer. »Und bitte sagen Sie ihm, dass es dringend ist.« Doch ihr Gesprächspartner hatte bereits aufgelegt.

Langenhorner Markt, grübelte Malin. Wo konnte Wenninger gewesen sein, mitten in der Nacht und betrunken?

Die Tür ging auf und Andresen stapfte, dicht gefolgt von Tiedemann, ins Büro. Ein ungleiches Paar, dachte Malin nicht das erste Mal beim Anblick der beiden Ermittler. Andresen war wieder von oben bis unten in dunkles Leder gehüllt, an den Füßen trug er ausgelatschte Cowboystiefel. Im Gegensatz zu seinem rothaarigen Kollegen wirkte Ole Tiedemann in seiner grauen Bundfaltenhose, dem gebügelten Oberhemd und seinem akkurat gescheitelten Haar wie aus dem Ei gepellt. Unter dem Arm trug er eine schwarze Ledermappe. Seine blassen Wangen waren leicht gerötet, und er lächelte zufrieden.

»Es sieht aus, als hättet ihr Neuigkeiten.«

»Wir kommen gerade von der Haspa-Filiale in Volksdorf.« Tiedemann öffnete die Ledermappe und reichte ihr ein Dokument in einer Klarsichthülle. »Wenninger hatte dort ein Bankschließfach.«

Die Überschrift des Papiers stach Malin sofort ins Auge: Mein letzter Wille. Schweigend las sie das Testament, das auf einen Tag im Februar 1991 datiert war. Kurt Wennninger hatte seinen gesamten Besitz einem einzigen Menschen vermacht. Sie hob den Kopf. »Wer zum Teufel ist Michael Baumann?«

Die Durchsage informierte die Passagiere, dass der ICE den Zielbahnhof Hamburg Hauptbahnhof in wenigen Minuten erreichen würde. Michael Baumann wuchtete seine Sporttasche aus dem Gepäckfach.

Höchstens eine Woche würde er in Hamburg bleiben. Das hatte er Ina versprochen. Ohnehin hatte es ihn Überwindung gekostet, sie und die Kleine zurückzulassen. Seit der Geburt seiner Tochter vor knapp zwei Jahren war er nicht einen Tag von seiner Familie getrennt gewesen. Trotzdem musste sie sein, diese Reise, von der er noch nicht wusste, wohin sie ihn führen würde.

Jemand rammte ihm einen Koffer in die Waden und drängelte sich ohne Entschuldigung vorbei. In seiner Hosentasche kündigte ein Fiepen den Eingang einer SMS auf seinem Handy an. Er zog es heraus. Ina wünschte ihm viel Glück.

Michael reihte sich in die Schlange der Wartenden ein. Der ICE passierte die Elbrücken. Dicht an dicht stapelten sich die Container wie Bauklötze auf den Kaianlagen. Michael spürte einen Kloß im Hals. Würde er in Hamburg endlich die Antworten auf die Fragen finden, die ihn so quälten? Er durfte jetzt auf keinen Fall kneifen. Nicht, bevor er Gewissheit hatte.

Der ICE verringerte sein Tempo. Eine riesige Kuppel aus Stahl und Glas kam in Sicht. Wenige Augenblicke später fuhr der Zug in den Bahnhof ein und kam zum Stehen.

Michael wartete geduldig, bis die Reisenden vor ihm ausgestiegen waren, dann trat er auf den Bahnsteig.

»Wer ist Michael Baumann?«, wiederholte Fricke Malins Frage eine halbe Stunde später. Er starrte mit gekrauster Stirn auf das handschriftliche Testament in seiner Hand. »Die Verfügung stammt von 1991. Dem Geburtsdatum nach war Michael Baumann zu dem Zeitpunkt zwölf Jahre alt.« Er hob den Blick und sah zu seinem Stellvertreter. »Ein Kind.«

Tiedemann nickte. »Möglicherweise Wenningers Kind.«

»Wenninger war nie verheiratet«, warf Malin ein.

Andresen grinste anzüglich. »Manche Männer verstreuen ihre Samen in jede Windrichtung.«