Das Sandmann-Projekt

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4

»Wo, verdammt, warst du!?« Wolfgang Herzog rieb sich die graumelierten Schläfen.

Verena schwieg, stand vor ihm und strafte ihn mit hochmütigem Blick. Sie war eine schöne Frau. Hochgewachsen und schlank, mit brünett getöntem Haar, das ihr schimmernd um die Schultern floss. Ihr Gesicht war oval, mit hohen, ausgeprägten Wangenknochen und klaren blauen Augen. Das flaschengrüne, enganliegende Seidenkleid umschmeichelte ihre perfekt geformte Figur. Niemand würde jemals ihr wahres Alter erraten.

»Jetzt sag doch endlich was.« Mit allem kam er zurecht. Mit ihren Vorwürfen. Ihrer Wut. Doch ihr Schweigen zermürbte ihn. »Verena.« Er streckte die Hand nach ihr aus und bemerkte, wie sich ihre rot lackierten Fingernägel in die Lehne des vor ihr stehenden Stuhls krallten.

Er verstand sie kaum, als sie endlich sprach. So leise war ihre Stimme. »Du widerst mich an.« Sie drehte sich um und verließ das Zimmer.

Schwer atmend setzte sich Wolfgang auf den Stuhl hinter seinen Schreibtisch. Er war todmüde und sein Kopf schmerzte. Die halbe Nacht hatte er wach gelegen und auf Verena gewartet. Immer wieder hatte er auf die Leuchtziffern seines Weckers gestarrt. Hatte gebetet, dass sie endlich nach Hause kam. Doch erst in den frühen Morgenstunden war eine Autotür vor dem Mehrfamilienaltbau am Hofweg zugeschlagen worden. Minuten später hatte sie endlich die Wohnung betreten. Erst da hatte er für wenige Stunden in den Schlaf gefunden.

Er wusste, er würde Verena verlieren. Und es gab nichts, was er dagegen tun konnte.

Der Leichenwagen der Rechtsmedizin rollte langsam an Malin vorbei, als sie über den knirschenden Kies ging. Die Sonne hatte die Wolken verdrängt und warf lange, dunkle Schatten über die Thujenhecke.

Malin hatte in den letzten anderthalb Stunden weitere Anwohner des Schleusenredders befragt, jedoch nichts Neues in Erfahrung bringen können. Die wenigsten der Leute, die sie zu Hause antraf, hatten Kurt Wenninger gekannt. Eine Frau berichtete, sie hätte den Doktor einmal auf einen Kaffee eingeladen, doch er hätte abgelehnt. Ebenso war es einem Nachbarn ergangen, der Hilfe bei der Gartenarbeit angeboten hatte. Es schien, als hätte Kurt Wenninger den Kontakt zu anderen Anwohnern absichtlich gemieden. Ob das auch für seine direkten Nachbarn, das Ehepaar Tiefenbrunner, galt, konnte Malin nicht feststellen. Dort hatte ihr niemand geöffnet, und die Rolläden waren heruntergelassen.

Tiedemann stand mit Kriminalhauptkommissar Fricke vor Wenningers Hauseingang. Beim Anblick ihres Vorgesetzten musste Malin unwillkürlich lächeln. Sein Bauch hatte in den letzten Wochen wieder an Umfang zugelegt und zeichnete sich deutlich unter seinem Schutzanzug ab. Ein gutes Zeichen, dachte Malin. Nach der Trennung von seiner Frau vor einigen Monaten hatte Fricke rapide an Gewicht verloren. Jetzt befand er sich zumindest äußerlich wieder im Normalzustand. Gerade lüpfte er die Kapuze seines Overalls und zerzaustes, aschblondes Haar kam zum Vorschein. Malin hätte darauf gewettet, dass er unter dem Schutzanzug eine seiner obligatorischen Cordhosen und ein kariertes Hemd trug.

»Moin«, sagte Fricke. Sein Gesicht war von tiefen Furchen durchzogen und die hellen Augen waren leicht unterlaufen. »Tut mir leid, dass ich dich eher zurückholen musste, Brodersen. Du kannst die restlichen Überstunden bei nächster Gelegenheit abbummeln.«

»Schon gut«, wehrte Malin ab. »Es waren ohnehin nur noch zwei Tage. Hat sich hier in der Zwischenzeit etwas Interessantes getan?«

Tiedemann schüttelte den Kopf. »Aber die Spusi ist auch noch nicht ganz fertig.«

»Zunächst sollten wir sehen, dass wir das Opfer identifizieren«, brummte Fricke. Er wandte sich an Malin. »Haben die Befragungen der Nachbarn etwas ergeben?«

»Von denen, die ich angetroffen habe, hat niemand etwas Ungewöhnliches bemerkt. Bei den Nachbarn zwei Häuser weiter habe ich erfahren, dass es eine Schwester geben soll.« Sie berichtete von ihrem Gespräch mit dem Postboten. »Ein merkwürdiger Zeitgenosse. Der konnte mir kaum in die Augen sehen.«

»Vielleicht stand er noch ein wenig unter Schock. Die Leiche ist nicht gerade der schönste Anblick.« Fricke wies mit dem Kopf zum Nachbarhaus hinter der Hecke. »Was ist mit den Leuten nebenan? Da müsste doch jemand die Schüsse gehört haben.«

»Die Rollläden sind alle heruntergelassen. Vermutlich sind die Bewohner im Urlaub.«

»Dann versuche herauszufinden, wann sie wiederkommen oder wie wir sie kontaktieren können.«

Malin nickte und sah zum angrenzenden Wald. »Vielleicht war es ein Einbrecher, der dachte, es gäbe bei Dr. Wenninger etwas zu holen.«

»Wenn man sich den Zustand des Hauses so anschaut, glaube ich das eher weniger.« Fricke musterte die fleckige Fassade.

»Drinnen ist auch alles stark abgewohnt.« Tiedemann streifte die Latexhandschuhe ab. »Das Einzige, was hier noch einigermaßen in Schuss ist, ist der Garten.«

»Hans!« Frank Glaser kam aus dem Haus und hielt eine braune Spurensicherungstüte in die Höhe. »Wir haben was!«

Fricke hob fragend die Brauen.

Der Kriminaltechniker verzog sein grimmiges Gesicht zu einem Lächeln. »Eine Patronenhülse unter dem Sessel. Die hat der Täter offenbar übersehen.«

»Dann wissen wir, um welches Projektil es sich handelt?«

»Der Stempel am Patronenboden ist kaum zu entziffern. Aber vielleicht können wir bei der KTU noch etwas herausholen. – Ich mache mich dann mal weiter an die Arbeit.« Glaser verschwand wieder im Haus.

Fricke wandte sich an Tiedemann. »Habt ihr ein Adressbuch oder irgendetwas in der Art gefunden?«

Tiedemann nickte. »Die Telefonnummer vom Zahnarzt steht drin, ich hab ihn schon angerufen. Er hat versprochen, gleich nachzusehen, ob er Röntgenaufnahmen von Wenninger hat.«

»Gut. Und die Adresse der Schwester?«

»Fehlanzeige. Auch keine Kontaktdaten von anderen Angehörigen, sofern sie denn Wenninger heißen.«

»Vielleicht gibt es keine weiteren Verwandten.« Fricke sah auf seine Armbanduhr. »Also gut. Die Identifizierung der Leiche steht an erster Stelle. Ole, du kümmerst dich um die Zahnarztunterlagen und fährst gegebenenfalls direkt damit für einen Abgleich in die Rechtsmedizin. Und du, Brodersen, treibst in der Zwischenzeit die Adresse der Schwester auf. Sobald wir sicher sind, dass der Tote im Haus Kurt Wenninger ist, stattet ihr der Dame einen Besuch ab. Alles klar?« Ohne eine Antwort abzuwarten, zog Fricke die Kapuze seines Schutzanzuges wieder über den Kopf und drehte ihnen den Rücken zu.

Am späten Nachmittag wurde das Mordopfer anhand seiner Zahnschema-Karte als der achtundsiebzigjährige Kurt Wenninger identifiziert.

Malin fuhr mit Ole Tiedemann zu Ilse Wenninger, deren Adresse sie im Melderegister gefunden hatte. Im Wagrierweg in Niendorf stellte sie ihren Mini in einer der Parkbuchten ab und wartete, bis der Kollege seine langen Beine umständlich aus dem Auto befreit hatte, ehe sie ebenfalls ausstieg. Sie rechnete es ihm hoch an, dass er sich jeglichen Kommentar bezüglich der Größe ihres fahrbaren Untersatzes verkniff.

An einem hohen, grauen Mehrfamilienhaus mit der Nummer neun ging Malin die zahlreichen Türschilder durch, bis sie auf den Namen Ilse Wenninger stieß. Sie drückte den Klingelknopf. Sekunden später ertönte der Summer. Im Treppenhaus empfing sie Essensgeruch. Malin, die seit dem Joghurt am Morgen nichts mehr gegessen hatte, bekam Hunger. Hinter einer der Türen im Erdgeschoss brüllte ein Baby.

Sie nahmen den Fahrstuhl in den sechsten Stock. Eine ältere Frau mit kurzen, grauen Haaren und randloser Brille öffnete ihnen. Sie war ein wenig mollig und hatte ein offenes, sympathisches Gesicht.

»Frau Wenninger?« Tiedemann zückte seinen Dienstausweis.

Die Frau schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin Natascha Raschke. Ich helfe Frau Wenninger ab und zu im Haushalt, wenn sie gerade einen ihrer Rheumaschübe hat. Sie sind von der Polizei?«

Tiedemann nickte. »Wir würden gerne mit Frau Wenninger sprechen. Ist sie da?«

»Ja, Entschuldigung.« Die Haushaltshilfe ließ sie eintreten. »Frau Wenninger ist im Wohnzimmer. Es ist gleich geradeaus.«

Ilse Wenninger war eine winzige, dünne Person mit weißen Löckchen und einer Haut wie altem Pergament, zerknittert und von unzähligen Falten durchzogen. Die betagte Gestalt thronte in einem bunt geblümten Kleid in einem Lehnstuhl mit einem Kissen im Kreuz. Misstrauisch beäugte sie die Neuankömmlinge. Malin schätzte sie auf Mitte siebzig.

»Frau Wenninger? Malin Brodersen. LKA Hamburg.« Sie reichte ihr die Hand und war erstaunt über den kräftigen Händedruck.

Ole Tiedemann tat es seiner Kollegin nach und stellte sich ebenfalls vor.

Ilse Wenninger zeigte auf ein durchgesessenes Sofa. »Setzen Sie sich. Und dann sagen Sie mir, was Sie von mir wollen.«

»Es geht um Kurt Wenninger«, verkündete Tiedemann.

Ihre Züge verhärteten sich. »Um meinen Bruder? Was ist mit ihm? Ist er tot?«

»Leider ja.« Tiedemann war nicht anzumerken, ob ihn die direkte Art der Frau irritierte. »Er wurde heute Vormittag tot in seinem Haus aufgefunden.«

»Glauben Sie nicht, dass mich das jetzt schockiert.« Ilse Wenninger faltete ihre mit Altersflecken übersäten Hände und legte sie in den Schoß. »Ich konnte meinen Bruder noch nie besonders gut leiden.«

»Frau Wenninger«, sagte Malin, »Ihr Bruder ist keines natürlichen Todes gestorben.«

»Sie meinen, er wurde ermordet?« Ilse Wenninger schnaubte. »Auch das wundert mich nicht. Er war intrigant und raffgierig.«

»Können Sie das vielleicht ein wenig ausführen?« Malin war verblüfft.

Ilse Wenninger reckte angriffslustig ihr Kinn. »Das sind Familiengeschichten. Und die gehen die Polizei überhaupt nichts an.«

 

Tiedemann ergriff das Wort, ehe Malin reagieren konnte. »Wann haben Sie Ihren Bruder zuletzt gesehen?«

»Bei der Beerdigung unserer Mutter. Vor dreiundzwanzig Jahren.«

»Aber Sie hatten schriftlichen Kontakt?«, hakte er nach.

»Wie kommen Sie denn darauf?«

»Wir haben die Aussage des Postboten, dass er einen Brief von Ihnen an Ihren Bruder zugestellt hat.«

Ilse Wenninger schüttelte rigoros den Kopf. »Der Mann muss sich irren.«

Malin warf Tiedemann verwundert einen Blick zu, doch ihr Kollege ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Ihr Verhältnis zu Ihrem Bruder war also nicht besonders gut?«

Wieder schnaubte die Alte. »Das ist noch maßlos untertrieben.«

»Gibt es noch weitere Familienmitglieder?«

Ihr Blick wurde wachsam. »Nur noch meine Tochter Ruth und ihre zwei Kinder.«

»War Ihr Bruder verheiratet?«

Ilse Wenninger schüttelte den Kopf. »Genauso wenig wie ich. Eine unserer kümmerlichen Gemeinsamkeiten. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich Sie jetzt bitten, zu gehen und meine Zeit nicht länger zu vergeuden. In meinem Alter hat man schließlich nicht mehr allzu viel davon.« Die alte Frau erhob sich aus ihrem Sessel und verließ erstaunlich flink den Raum.

Malin und Tiedemann tauschten einen kurzen Blick und folgten ihr in den Flur. Keine Minute später standen die beiden Kriminalbeamten im Treppenhaus.

Tiedemann kratzte sich hinterm Ohr. »Ich sag’s ja immer. Im Alter werden sie alle schrullig.«

25. Januar 1979

Sie hatten ihr die Augen verbunden und ihre Hände gefesselt. Jemand packte sie grob am Oberarm und stieß sie über eine Stufe in eine Art Metallverschlag. Ein Riegel wurde vorgeschoben. Rena konnte sich kaum rühren, so eng war es. Dann wurde ein Motor angelassen.

Ich bin in einem Auto, schoss es ihr in den Sinn. Das Gefährt setzte sich in Bewegung.

Die Angst schnürte Rena die Kehle zu. Was hatte man mit ihr vor? Was war mit Romy? Bei dem Gedanken an ihre kleine Tochter schluchzte sie auf. »Wo bringen Sie mich hin?!«

Niemand antwortete. Das Fahrzeug nahm eine scharfe Kurve und Renas Kopf prallte mit voller Wucht gegen die Metallwand. Tränen schossen ihr aus den Augen. Sie rückte ihre Glieder zurecht, um eine bequemere Position zu finden. Das Bild ihrer kleinen Tochter im Nachthemd, den Schlenkerbären an die Brust gepresst, schob sich zurück in ihr Gedächtnis. Was hatten sie mit Romy gemacht?

Erneut prallte ihr Kopf gegen Metall. Die Fahrt zog sich schier endlos. Die Fesseln schmerzten an ihren Handgelenken. Es war stickig in dem Gefährt und Rena hatte Schwierigkeiten zu atmen. Sie durfte nicht in Panik geraten.

Das Tempo hatte sich mittlerweile erhöht. Rena schärfte ihre Sinne. Sie fuhren über eine Straße mit nur wenigen Unebenheiten. Die Autobahn? Jemand in der Fahrerkabine hustete.

»Wo bringen Sie mich hin?!« Wieder keine Antwort. Peter, schoss es ihr durch den Kopf. Peter würde bald nach Hause kommen und sich um alles kümmern. Er würde sofort merken, dass etwas nicht in Ordnung war. Einen Moment lang war sie erleichtert.

Und wenn Peter aufgehalten wurde? Es wäre nicht das erste Mal, dass sich seine Dienstreise unerwartet verlängerte.

Das Tempo wurde gedrosselt und das Gefährt bog in eine scharfe Kurve. Ihre Knie stießen gegen Metall, doch zumindest gelang es Rena, dieses Mal den Kopf rechtzeitig zurückzureißen. Der Wagen rumpelte wie über Kopfsteinpflaster und hielt schließlich an. Ein Tor wurde geöffnet. Die Fahrt ging im Schritttempo holprig weiter. Kurze Zeit später ein weiteres Tor. Bald darauf kam das Gefährt endgültig zum Stehen.

Rena hörte, wie Autotüren geöffnet wurden. Ein paar gedämpfte Stimmen waren zu vernehmen. Dann wurde die Tür zu ihrem Metallspind aufgesperrt. Jemand zog sie unsanft am Arm und Rena stolperte aus dem Wagen. Es war ein komisches Gefühl, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.

Dann wurde ihr mit einem Ruck die Augenbinde vom Kopf gerissen.

5

Es dämmerte bereits, als Malin die verzinkte Stahlbrücke betrat, die vom Uferweg am Eilbekkanal zu einem modernen, holzverkleideten Hausboot mit Glaskuppeldach führte. Thies Conradi hatte seine Unterkunft mit dem Komfort eines Einfamilienhauses von einem befreundeten Architekten zur Verfügung gestellt bekommen, solange dieser im Ausland weilte.

Thies saß mit einem Buch in der einen und einem Glas Weißwein in der anderen Hand auf einem der Teakstühle auf der großen Holzterrasse.

Wie friedlich es hier ist, dachte Malin mit einem Blick auf das ruhig liegende Gewässer, in dem sich die letzten Sonnenstrahlen des Tages spiegelten. Die vergangenen zwei Wochen hatte sie fast komplett bei Thies auf dem Hausboot verbracht. Malin hatte den Professor für Strafrecht während einer Ermittlung an der Corvinius Law School zweieinhalb Monate zuvor kennengelernt, während sie dort den Mord an einer Studentin untersuchte. Damals hatte sie sich noch mitten in dem Gefühlschaos befunden, das ihr Teampartner Frederick Bartels ausgelöst hatte, in den sie lange Zeit verliebt gewesen war. Fred war verheiratet, einer der Gründe, warum aus ihnen kein Paar wurde. Und dann war Thies auf der Bildfläche erschienen.

»Malin!« Thies ließ sein unwiderstehliches Lächeln aufblitzen. Er legte sein Buch beiseite und umfasste ihre Taille, als sie neben ihn trat. »Möchtest du auch ein Glas Wein?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich würde lieber erst etwas essen.«

»Erst?« Er zwinkerte schelmisch.

»Vor dem Wein, meinte ich.« Sie löste sich lächelnd aus seiner Umarmung und trat durch die geöffnete Schiebetür ins Innere. Lasierte Eichendielen, eine weiße Sitzlandschaft und ein offener Essbereich samt Designer-Küche bildeten den Wohnbereich des Oberdecks.

Gleich zu Beginn ihrer Beziehung hatte Thies sie aufgefordert, sich auf dem Hausboot wie zu Hause zu fühlen. Dennoch kam es Malin immer noch vor, als täte sie etwas Verbotenes, wenn sie sich am Kühlschrank bediente.

Sie entdeckte eine Schüssel Salat, ein Schälchen mit gegrillten Scampi und eins mit selbstgemachtem Dressing. Malin nahm alles heraus, zog Besteck aus einer der Schubladen und mischte die Zutaten zusammen. Sie schenkte sich ein Glas Mineralwasser ein und ging mit ihrem Essen zurück auf die Terrasse.

»Im Brotkorb sind noch zwei Franzbrötchen«, sagte Thies, als sie sich zu ihm an den Tisch setzte. »Meine Mutter hat sich so über deine Pralinen gefreut, dass sie gleich im Anschluss an unser Mittagessen zum Bäcker gelaufen ist, um sie für dich zu besorgen.« Er schmunzelte.

»Oh, Gott. Du hast ihr das mit den Franzbrötchen verraten?« Das süße, mit viel Butter und Zimtzucker hergestellte Hefegebäck gehörte seit Kindheitstagen zu ihren Leibspeisen. Sie fand es peinlich, dass dies eines der ersten Dinge war, die seine Mutter über sie erfuhr. »Das war sehr nett von ihr.« Sie schob sich mit der Gabel einen der gegrillten Scampi in den Mund. Ein Hauch von Knoblauch, Zitronengras und kaltgepresstem Olivenöl breitete sich auf ihrem Gaumen aus.

»Sie ist nett«, erklärte Thies. Sein Blick wurde ernst. »Habt ihr einen neuen Fall?«

»Einen Leichenfund in Wohldorf-Ohlstedt«, erwiderte Malin knapp. Sie hatten die Absprache getroffen, Berufliches und Privates weitestgehend zu trennen, da ihre unterschiedlichen Auffassungen zu einigen Themen bereits für Zündstoff in ihrer noch frischen Beziehung gesorgt hatten. Neben seiner Arbeit an der Corvinius Law School arbeitete Thies für eine Streetworker-Station und beriet ehrenamtlich Jugendliche, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren.

»Also ist dein Freizeitausgleich beendet?«

Malin nickte. Sie dachte an den Toten im Ohrensessel. Sofort verging ihr der Appetit. Von einer Sekunde auf die andere fühlte sie sich erschöpft und ausgelaugt und sehnte sich nach ihren eigenen vier Wänden. Sie schob die noch halbvolle Salatschüssel beiseite. »Ich glaube, ich geh lieber schlafen. Bist du mir böse, wenn ich nach Hause fahre? Ich muss morgen früh raus.«

Thies schüttelte ernst den Kopf. »Ich finde es nur sehr schade.«

Wortlos räumte Malin den Tisch ab. Sie wusste, dass sie ihn mit ihrer spröden Art manches Mal vor den Kopf stieß. Dennoch konnte sie nicht aus ihrer Haut.

Als sie das Hausboot wenige Minuten später verließ, hatten sich dicke Wolken am Abendhimmel gebildet.

Es nieselte leicht, als Malin am nächsten Morgen um kurz vor acht die Stufen zum Eingang des Polizeipräsidiums hinaufging. Der moderne Rundbau mit den zehn angefügten Blocks an der Hindenburgstraße im Stadtteil Alsterdorf erinnerte in seiner Form an einen Polizeistern. Das sechsgeschossige Gebäude beherbergte neben den LKA-Abteilungen diverse Verwaltungsstellen der Polizei, die Funkzentrale und den Führungsstab. Da Hamburg den Status eines Stadtstaates hatte, lag hier die Ermittlungsführung für Verbrechensbekämpfung im Verantwortungsbereich des Landeskriminalamtes.

Die Räume des LKA 41, des Fachkommissariats für Tötungsdelikte, befanden sich im dritten Stock und unterschieden sich kaum von anderen Großraumbüros. Hellgraue Möbel, wuchtige Schreibtische, die sich in Zweierblocks gegenüberstanden, und bis zur Decke reichende Aktenregale. Alles wirkte klar strukturiert und nüchtern.

Die Tür zum Büro der Mordkommission stand offen. Ole Tiedemann befestigte gerade Tatortfotos an einem Whiteboard, Sven Andresen saß an seinem Schreibtisch und blätterte in Unterlagen. Die rechte Wange des rothaarigen Ermittlers war geschwollen und bläulich verfärbt. Er trug eine seiner schwarzen Lederhosen und ein schwarzes Seidenhemd. Sein Handgelenk zierten neben einer protzigen Golduhr zahlreiche Lederarmbänder. Im Gegensatz zu dem schlaksigen Tiedemann, der im akkurat gebügelten Hemd und der Bundfaltenhose eher wie ein Steuerberater wirkte, erinnerte der muskulöse Andresen in seinem Auftreten an eine Kiezgröße.

»Guten Morgen.« Malin setzte sich an ihren Schreibtisch. Der gegenüberliegende Platz ihres Kollegen Bartels war verwaist.

»Moin, Malin«, erwiderte Tiedemann.

»Mahlzeit, Brodersen.« Andresen sah sie missmutig an. »Hattest du nicht noch ein paar Tage frei?«

»Gestrichen.«

»Ausgleichende Gerechtigkeit«, murrte Andresen und rieb sich seine geschwollene Wange. »Schließlich durfte ich hier trotz Wurzelbehandlung antanzen.«

Malin musste sich beherrschen, nicht die Augen zu verdrehen. »Gibt es etwas Neues, Ole?«

Tiedemann drehte sich zu ihr um. »Die Spusi hat einiges an Spuren in Wenningers Haus gefunden. Sie werden gerade ausgewertet.«

»Weiß man schon Genaueres über die Tatwaffe?«

»Bislang nicht, die Waffentechniker sitzen noch an der Hülse. Ist wohl etwas kniffelig, da die Prägung in schlechtem Zustand ist. Aber vielleicht helfen die Projektile weiter, sobald wir sie aus der Rechtsmedizin bekommen.«

»Vielleicht haben wir Glück und es gibt Fingerabdrücke«, überlegte Malin laut.

Andresen erhob sich von seinem Stuhl und platzierte sich auf Tiedemanns Schreibtischkante. Das Leder seiner Hose spannte bedenklich an seinen kräftigen Beinen. »Auf den Projektilen?« Er rieb an seinem Schnauzer. »Schon klar, Brodersen.«

»Ich meine natürlich auf der Hülse«, stellte Malin richtig. »Wenn der Täter unvorsichtig genug war, zu übersehen, dass eine Hülse fehlt, könnte es genauso gut sein, dass er keine Handschuhe getragen hat.«

»Oder die Täterin, Brodersen. Im Allgemeinen verlieren Frauen eher die Nerven und begehen Fehler.« Er warf ihr einen provozierenden Blick zu.

Malin atmete einmal tief durch. »Das ist völlig aus der Luft gegriffen, und das weißt du. Laut Statistik sind im letzten Jahr rund neunzig Prozent aller Morde von Männern verübt worden.« Ihre Stimme wurde lauter. »Bei Totschlag liegt der Prozentsatz sogar noch höher.«

»Siehst du, genau das habe ich gemeint.« Der rothaarige Ermittler grinste süffisant. »Ihr Frauen seid einfach viel zu schnell aus der Ruhe zu bringen.«

Fricke erschien in der Tür. »Wie ich sehe, ist hier alles beim Alten. Anscheinend habt ihr problemlos an dem Punkt angeknüpft, den ihr vor Brodersens freien Tagen erreicht hattet.« Er wandte sich an seinen Stellvertreter. »Seit wann befinden die beiden sich im selben Raum?«

Tiedemann lächelte schmallippig. »Keine fünf Minuten.«

Fricke setzte eine strenge Miene auf. »Wir sind erst am Anfang dieser Ermittlung, zumal wir, solange Fred im Urlaub ist, mit einem Mann weniger auskommen müssen. Also schont meine Nerven und reißt euch zusammen!« Er ging zum Whiteboard mit den Tatortfotos. »Legen wir los. Was wissen wir bisher über diesen Kurt Wenninger?«

 

Tiedemann rutschte hinter seinen Schreibtisch und zog ein paar Unterlagen zu sich heran. »Leider sind die Informationen bisher eher dürftig. Laut Melderegister wurde er 1936 in Hamburg geboren. Die Familie war bis Anfang der vierziger Jahre unter einer Adresse in Eimsbüttel gemeldet. Der nächste Eintrag stammt dann«, er sah auf einen Computerausdruck, »aus dem Jahr 1949. Interessanterweise umfasst er nur Margarethe und Ilse Wenninger.«

»Ach, und Kurt Wenninger und sein Vater?«

»Unbekannt verzogen«, erwiderte Tiedemann. »Danach gibt es eine zeitliche Lücke. Aber nach dem Krieg war das nichts Ungwöhnliches, das Melderegister musste erst wieder vollkommen neu aufgebaut werden. 1990 taucht der Name Kurt Wenninger im Hamburger Melderegister wieder auf. Und zwar unter der Adresse am Schleusenredder, die wir bereits kennen. Wo Wenninger sich zwischenzeitlich aufgehalten hat, bleibt noch offen.«

Fricke runzelte die Stirn. »Aber er muss doch bei der Anmeldung seine bisherige Wohnadresse angeben haben.«

»Hat er aber nicht«, erwiderte Tiedemann. »Oder die Meldebehörde hat es nicht erfasst.«

»Was hat die Befragung der Schwester ergeben?«

Tiedemann fasste das Gespräch mit Ilse Wenninger knapp zusammen.

»Die Sache mit dem Brief ist merkwürdig«, kommentierte Fricke.

»Die ganze Situation war merkwürdig. In meinen Augen hatte die Frau einfach nur keine Lust, über den Brief zu sprechen, genauso wenig wie über ihren Bruder. Irgendetwas ist zwischen den beiden extrem schiefgelaufen.«

Fricke nickte. »Wir behalten die Angelegenheit fürs Erste im Hinterkopf und sehen zu, dass wir mehr Informationen über das Mordopfer bekommen.«

»Vielleicht sollten wir Wenningers ehemalige Praxis aufsuchen«, schlug Malin vor. »Laut Stefan Biedermann, das ist der Postbote, war Wenninger Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, in Volksdorf.«

»Ein Seelenklempner?« Andresen rümpfte die Nase. »Vielleicht hat ihn irgendein durchgeknallter Patient umgebracht.«

»Wenniger war schon achtundsiebzig«, gab Malin zu bedenken. »Er wird schon länger nicht mehr praktiziert haben. Ich kann überprüfen, ob es die Praxis noch gibt, und gegebenenfalls sofort hinfahren.«

»Gut, mach das«, sagte Fricke. »Vielleicht arbeitet dort noch jemand, der Kontakt mit Wenninger hatte.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Ich habe gleich einen Termin mit dem Pressesprecher, danach fahre ich in die Rechtsmedizin. Sven, du begleitest mich, dann kannst du dir ein besseres Bild machen.«

»Soll ich mir in der Zwischenzeit einen Überblick über Wenningers Finanzen verschaffen?«, fragte Tiedemann.

Fricke nickte. »Und gib mir bitte Bescheid, wenn die Spusi mit dem Tatort fertig ist. Wir sollten sehen, was wir in dem Haus noch an Unterlagen finden. Noch Fragen? Keine? Gut, dann an die Arbeit.« Er hob die Hand zum Gruß und verließ den Raum.

Kurt Wenningers ehemalige Praxis für Neurologie und Psychiatrie in Volkdorf erwies sich als Sackgasse. Zwar hatte Malin mit seinem Nachfolger sprechen können, doch der hatte nur im Rahmen der Übernahme sporadisch Kontakt zu ihm gehabt. Die Abwicklung selbst war von Beratern vorgenommen worden. Obwohl der Patientenstamm im Jahr 2000 Bestandteil des Übernahmevertrages gewesen war, waren seitdem viele Patientenakten dem Schredder zum Opfer gefallen, da die gesetzliche Aufbewahrungspflicht überschritten war. Für die Einsicht in die restlichen noch von Wenninger angelegten Akten verlangte der Praxisinhaber einen richterlichen Beschluss.

Auch die Gespräche mit zwei von drei Sprechstundengehilfinnen verliefen im Sand. Keine von ihnen hatte mit Wenninger zusammengearbeitet, ebenso wenig wie die dritte im Bunde, die zur Zeit mit Magen-Darm-Grippe das Bett hütete.

Mittlerweile war es Mittag. Malin saß an der Fensterfront des Asia-Imbisses Seoul an der Alsterdorfer Straße und wartete auf ihre Bestellung, S4, Hühnchen mit Cashewnüssen. Das Seoul lag nur wenige Gehminuten vom Präsidium entfernt und galt unter den LKA-Beamten schon seit langem als Geheimtipp. Die Einrichtung des kleinen Lokals war schlicht. Weiße Kacheln, ein roter Tresen, auf dem ein dicker Buddha thronte, und halbhohe Spitzengardinen. In der offenen Küche hinter der Bedientheke wirbelte der Koch Schulter an Schulter mit der Inhaberin Frau Hu, die alle Hände damit zu tun hatte, Bestellungen entgegenzunehmen.

»S4!« Frau Hu reichte Malin das dampfende Hühnchengericht und die obligatorische Dose Cola light über die Theke. Malin ging zurück an ihren Fensterplatz und widmete sich ihrem Essen. Ihre Gedanken wanderten zu Thies. Die Enttäuschung über ihren abrupten Aufbruch am vergangenen Abend hatte ihrem Freund im Gesicht gestanden.

Ich darf das nicht vermasseln, dachte Malin. Nicht schon wieder. Sie trank einen Schluck Cola. Vielleicht war sie auch einfach nur beziehungsunfähig. Seit Thies davon angefangen hatte, sie unbedingt seiner Mutter vorstellen zu wollen, war die Leichtigkeit ihrer Beziehung verflogen. Oder lag es daran, dass sie in einem neuen Fall ermittelte?

Malin war erst knapp zwölf Monate bei der Mordkommission, hatte sich seitdem aber schon zweimal in äußerst brenzligen Situationen befunden. Das hatte Spuren hinterlassen. Immer wieder gab es Momente, in denen sie sich fragte, ob es beim nächsten Mal genauso glimpflich für sie ausgehen würde. Seit einigen Wochen quälte sie fast jede Nacht ein Albtraum, in dem ihr jemand minutenlang eine geladene Waffe an den Hinterkopf hielt und schließlich abdrückte.

Ihr Handy klingelte. Es war Fricke. »Konntest du in der Praxis etwas in Erfahrung bringen?«

»Leider nein.« Malin berichtete von dem Gespräch mit Wenningers Nachfolger.

»Gibt es noch Personalunterlagen oder die Adressen ehemaliger Mitarbeiter?«

»Ebenfalls Fehlanzeige. Wenningers letzte Arzthelferin ist 2003 in Rente gegangen. Mehr als den Namen konnte man mir nicht sagen. Es gibt noch einen Restbestand an Patientenakten, aber dafür brauchen wir einen Beschluss.«

»Gut, ich kümmere mich darum«, brummte Fricke. »Wo steckst du jetzt?«

»Beim Koreaner, eine Kleinigkeit essen, danach wollte ich zurück ins Büro.«

Fricke räusperte sich. »Pass auf, Brodersen, ich bin auf dem Weg in die Rechtsmedizin. Es wäre gut, wenn du dich in Wenningers Haus noch mal etwas genauer umsiehst. Vielleicht findest du ein paar aussagekräftige Unterlagen.«

»Alles klar, Chef. Ist die Spurensicherung fertig?«

»Die Kollegen packen gerade ein. Am besten rufst du Glaser an und fragst, wie lange noch jemand vor Ort ist. Wenn ich es schaffe, komme ich später nach. Ansonsten treffen wir uns gegen Abend zur Besprechung im Präsidium. Bis dann, Brodersen.« Er legte auf.

Draußen regnete es noch immer Bindfäden. Ein Taxi fuhr vorbei. Es erinnerte Malin an etwas, das eine von Wenningers Nachbarinnen gesagt hatte. Die mit den vielen Kindern. Malin zog ihr Notizbuch heraus. Nadine Schröder hatte beobachtet, wie Kurt Wenninger vor zwei Wochen spät in der Nacht mit dem Taxi nach Hause gekommen war. Vielleicht wäre es interessant zu erfahren, woher.

Malin machte sich eine kurze Notiz und widmete sich dann ihrem Hühnchengericht.

Eine eigenartige Stille lag über dem Anwesen am Schleusenredder, als Malin vierzig Minuten später ihren Mini vor dem Spitzgiebelhaus abstellte. Endlich hatte es aufgehört zu regnen. Die Thujenhecke und die Pflanzen in den angrenzenden Beeten glitzerten vor Feuchtigkeit. Die Luft roch nach Moos, Tannen und Erde.

Vor dem Eingang blieb sie stehen. Kein Laut war zu hören. Als wüssten selbst die Vögel, dass der Tod an diesem Ort Einzug gehalten hatte. Malin öffnete die Haustür mit dem Schlüssel, den ihr ein Kollege von der Spurensicherung im Präsidium ausgehändigt hatte.

Der Leichengeruch hing noch immer in jedem Winkel des Hauses, hatte sich tief in Wände, Böden und Textilien gefressen. Sie zog ein Döschen mit Mentholsalbe aus ihrer Umhängetasche und strich sich etwas davon unter die Nase. Anschließend streifte sie Latexhandschuhe über.