Stollentod

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4

Manja Hähnlein schreckte aus dem Schlaf auf, für einen Moment fühlte sie sich desorientiert und ihr Herz klopfte stolpernd, ihr Atem stockte, sie fühlte sich leicht schwindelig. Schon wieder war sie schweißgebadet erwacht, in dem kürzlich bezogenen Haus im Ehrenfriedersdorf im Herzen des Erzgebirges hatte sie noch keine einzige Nacht ruhig durchschlafen können. Den Schrei, der ihr auf den Lippen lag, unterdrückte sie mühsam, in der vergangenen Nacht hatte sie damit auch ihren Mann Richard aus dem Schlaf gerissen, manchmal sogar die beiden Mädchen, die nebenan schliefen.

»Schon wieder dieser Traum?«, murmelte Richard Hähnlein verschlafen, vielleicht war er von ihrer abrupten Bewegung erwacht.

Manja nickte wortlos, was er in der Dunkelheit sicher nicht sehen konnte, er hatte sich bereits wieder in sein Kissen gekuschelt, würde bald eingeschlafen sein, vermutete sie. Manja schlug ihre verschwitzte Decke zurück, erhob sich langsam mit Rücksicht auf ihr Schwindelgefühl und wankte barfuß ins Badezimmer, um ihr erhitztes Gesicht mit kaltem Wasser zu erfrischen. Ihr Herz holperte und stolperte immer noch in rasendem Tempo. Im Spiegel begegnete sie ihren eigenen, schreckgeweiteten Augen, sie empfand sich selbst als blass und hohlwangig. Nachdem ihr der geplante Umzug nach Sachsen zuerst gutgetan und sie sich voller Energie gefühlt hatte, verschlechterte sich ihr psychischer Zustand, seit sie in dieses Haus gezogen waren.

Natürlich, sie war schon immer sensibel und leicht empfänglich für Unruhezustände gewesen. Aber was sie im Moment schwächte, war eindeutig ein Geist. Richard stand ihr wie üblich neutral gegenüber, als sie behauptete, in ihrem neuen Heim etwas Ungewöhnliches zu spüren, er wunderte sich nicht darüber, schließlich kannte er seine Frau nicht erst seit gestern, und wenn er ehrlich war, spürte Manja ständig irgendwas. Er wünschte, dass sie sich einen Job suchte, das würde sie von ihren Grübeleien und inneren Kämpfen ablenken, sie zerstreuen und ihr sicher guttun. Dann hätte sie weniger Zeit, zu tief in sich hineinzuhören. Aber das war nur seine stille Meinung, und weil er Manja abgöttisch liebte, mimte er den verständnisvollen Ehemann, der beteuerte, sie könnte sich mit dem Wiedereinstieg in den Job nach dem Ortswechsel ruhig Zeit nehmen. Natürlich wäre es schön, wenn etwas mehr Geld hereinkäme, hatte er einmal ganz vorsichtig formuliert, auch wenn sie das alte Haus in ihrer neuen Wahlheimat mehr als günstig erworben hatten. Jeder Bauherr, der nicht mit Scheuklappen herumlief, wusste schließlich, dass es vor allem die Sanierungsarbeiten waren, die trotz umfangreichen Eigenleistungen Unsummen kosteten.

Manjas Herzschlag hatte sich beruhigt, ihre Körpertemperatur normalisiert. Ins Bett wollte sie aber noch nicht wieder, also ließ sie sich auf den neu erworbenen Toilettendeckel sinken, der mit einem Südsee-Motiv bedruckt war. Genau erinnerte sie sich an den Tag der Erstbesichtigung des Hauses. Zuerst waren sie mehrfach vorbeigefahren, so unscheinbar geduckt wirkte es in der Reihe von Häuschen, die zu den ältesten von Ehrenfriedersdorf zählten, wie sie inzwischen wusste. Das Haus kam Manja düster vor, die beiden winzigen Fensteröffnungen beidseits der niedrigen, leicht schrägen Eingangstür erweckten den Eindruck eines misslaunigen Gesichts – und das nicht nur bei Betrachtern mit ausreichend Fantasie. Das Gebäude ging regelrecht unter in einer Reihe wesentlich besser sanierter Häuser. Salpeter sprengte den Putz von den Felssteinmauern des Erdgeschosses, der Firstbalken am Dach hing beträchtlich nach unten durch und über die Regenrinne ragten wahre Moosteppiche. Von Baumängeln hatte Manja keine Ahnung, der bauliche Zustand des Hauses war Sache ihres Mannes.

Lothar Brunner hatte der jungen Familie das Haus vermittelt, nachdem Richard den Arbeitsvertrag von SMF ausgeschlagen und stattdessen bei Brunner unterschrieben hatte. Manja verstand nicht ganz, wieso dieses neue Bergbauprojekt, das der Chef ihres Mannes in Ehrenfriedersdorf plante, so geheim war, dass Richard sie gebeten hatte, niemandem davon zu erzählen. Letztlich war ihr das egal, schließlich hatte die Familie eine großzügige Vorauszahlung erhalten, die die Umzugskosten aufgefangen hatte. Außerdem hatte Richards neuer Chef ihnen das Haus nicht nur besorgt, sondern direkt die erste Rate bezahlt. Auch nebenan gingen Handwerker ein und aus, dort würden wohl bald neue Nachbarn einziehen, hoffentlich welche, die angenehm waren und ihnen das Leben nicht schwermachten, wünschte Manja. Endlich fühlte sie sich bereit, ins Schlafzimmer zurückzukehren.

»Was war’s denn diesmal?«, murmelte Richard mit geschlossenen Augen, als Manja unter ihre Decke kroch.

»Alte Häuser haben Geister. Und dieses Haus hat auch einen«, erklärte sie und kuschelte sich an seinen Rücken.

»Wenn du meinst«, nuschelte er. Augenblicke später schnarchte er bereits wieder.

Sie hatte von Anfang an Vorbehalte gegen ein Haus gehabt, nicht gegen dieses Haus und auch nicht gegen irgendein anderes, sondern gegen ein eigenes Haus ganz allgemein. Dass es Arbeit verursachte, war die eine Sache, dass sie es sich ihrer Meinung nach auf Dauer nicht leisten konnten, eine andere. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie sich für die Drei-Zimmer-Mietwohnung in der Steinbüschelstraße entschieden. Aber es war eben nicht nach ihr gegangen, ihr Mann und ihre ältere Tochter Teresa hatten sie überstimmt. Josefine war noch zu klein für eine eigene Meinung in dieser Sache. Wenigstens schien die Aussicht auf ein eigenes Kinderzimmer Teresa davon abgehalten zu haben, wegen des Umzugs zu rebellieren. Und so hatten beide Mädchen ihre Zimmer bekommen, die beiden Räume, die im besten Zustand gewesen waren. Das Elternschlafzimmer, die Küche und das Wohnzimmer benötigten dringend mehr als nur frische Farbe und neue Fußböden, so wie das Haus im Ganzen eine Menge baulicher Zuwendung bedurfte. Richard sah das gelassen. Solange er einen Arbeitsvertrag hatte und Geld verdiente, ohne zur Arbeit erscheinen zu müssen, weil es seinen Arbeitsplatz noch gar nicht gab, konnte er seine Energie in das Haus stecken.

Das Abenteuerlichste daran schien der Keller zu sein. Die Treppe, die ins Nirgendwo hinunterlief, hätte jedem Horrorfilm zur Ehre gereicht, sie führte schlichtweg in ein dunkles Loch, das Ende der Stufen war nur zu erahnen. Feuchter, muffiger Geruch schlug Manja entgegen, wenn sie von Zeit zu Zeit wagte, die Tür zu öffnen. Sie hörte ein leises Plätschern, als würde Wasser durch den Keller fließen, an den Wänden glitzerte das nackte Felsgestein.

»Da unten gibt es weder Eisenträger noch Beton, keine Mauern, nichts. Alles Natur, sozusagen. Aber was die letzten hundert Jahre gehalten hat, hält auch weitere fünfzig, mindestens«, hatte Richard behauptet. »Mach dir keine Sorgen, Schatz, solange ich die Zeit habe, bringe ich unser neues Zuhause schon auf Vordermann.« Mit Zärtlichkeit in seinen Augen hatte er sie auf die Wange geküsst. Ihm schien der Ortswechsel gut bekommen zu sein, dafür litt Manjas Psyche zunehmend auch unter den ständigen, beängstigenden Nachrichten über das neuartige Coronavirus, das sich weltweit ausbreitete. Irgendwo in Italien schien die Situation bereits außer Kontrolle geraten zu sein, Manja befürchtete wie immer das Schlimmste. Und meistens behielt sie recht.

Obwohl sie wieder im Bett lag und die Decke bis über die Ohren gezogen hatte, fröstelte sie. Nicht einmal die Bettsocken schienen in dieser Nacht ihren Dienst zu tun. Richard schnarchte beharrlich, egal wie oft sie ihn anrempelte. Das würde wieder eine dieser schlaflosen Nächte werden, die ihr Tage später noch in den Knochen steckten, fürchtete sie. Da konnte sie genauso gut wieder aufstehen und die Wäsche bügeln. Oder das Mittagessen für den nächsten Tag vorbereiten oder in der Tageszeitung die Stellenanzeigen studieren. Sie wollte gern einen Job annehmen, für den Anfang stundenweise, eine einfache, anspruchslose Stelle, bis sie für Josefine einen Kinderkrippenplatz gefunden hatten. Eine Tätigkeit als Haushaltshilfe schwebte ihr vor.

Über diesen Gedanken war sie munterer statt müder geworden. Also stand sie erneut auf, diesmal regte Richard sich nicht. Sie beneidete ihn um seinen festen Schlaf, ihr Mann schlief immer und überall gut. Manja zog sich eine Sweatjacke über, der Bademantel war seit dem Umzug nicht mehr auffindbar, sicher verbarg er sich getarnt in einem Stapel mit Duschtüchern. Leise ging sie in die Küche und stellte ein Glas Milch mit Honig in die Mikrowelle, dann nahm sie sich die Stellenanzeigen in der Tagespresse vor. Sie studierte sie gewissenhaft und strich dann eine Telefonnummer an. Für vier Stunden in der Woche wurde in Annaberg eine Haushaltshilfe gesucht. Das wäre doch ein guter Anfang, entschied sie. Und während sie in der nächtlichen Stille am Küchentisch saß, hörte sie es wieder, das Geräusch, das sie aus dem Schlaf gerissen hatte: es war ein jammerndes Wehklagen, schaurig anzuhören, das aus den Tiefen des Kellers zu ihr heraufdrang.

*

Die Bergbauvergangenheit des Erzgebirges interessierte Lothar Brunner seit einiger Zeit brennend, historisch wie finanziell. Der fünfundvierzigjährige Geschäftsmann stammte aus der Lausitz, allein der Zufall hatte ihn ins Erzgebirge verschlagen.

Während eines Winterurlaubes vor drei Jahren an der tschechischen Grenze im Kurort Oberwiesenthal hatte er sich bei einem Skiunfall nicht nur das linke Bein, sondern auch das Becken gebrochen. Von einem Transport in die Heimat rieten ihm die Mediziner ab. Auf dem Krankenbett las und informierte Lothar sich intensiv über das Erzgebirge, und nach der Reha stand für ihn fest, dass er hier, am Ort des Weltkulturerbes, investieren wollte. Und vor allem, dass er bleiben wollte. Er verkaufte seine Firma, ein Lausitzer Tiefbauunternehmen, der Erlös ruhte seither gut angelegt in Wertpapiere und wartete auf die Chance, wieder in Spiel gebracht zu werden. Lothar hatte seine Ohren diesbezüglich überall.

 

Als in Pöhla bei Schwarzenberg ein neues Bergwerk entstehen und dort wieder Zinn und Wolfram gefördert werden sollte, zeigte er Interesse für das Projekt, für das Geldgeber gesucht wurden. Eigentlich wollte er umfangreiche Anleihen der Sächsischen Mineralienförderung AG für die Lagerstätte Pöhla-Globenstein zeichnen, doch dann landete ein ganz anderes, sehr verlockendes und vielversprechendes Angebot auf seinem Schreibtisch. Für dieses Projekt entschied er sich schließlich und investierte sowohl Geld als auch Energie. Jetzt nahm die Sache mehr und mehr Gestalt an, allein die bürokratischen Hürden bremsten ihn ein wenig aus, aber es war hoffentlich nur eine Frage der Zeit, bis es ihm gelang, alle relevanten Auflagen zu erfüllen. Ihm und seinem stillen Hauptteilhaber und Ideengeber, der nicht öffentlich in Erscheinung treten wollte. Mit Hilfe einiger weiterer, kleinerer Teilhaber, die er von früher kannte und deren Geld unter anderem auch schon in Lausitzer Tagebauen steckte, hatte er die Firma Brunner-ERZ gegründet. Deren Anteile waren zwar weitestgehend unwesentlich, aber niemand konnte zum jetzigen Zeitpunkt absehen, in welche Richtung die finanzielle Entwicklung gehen würde. Er arbeitete bereits an einem Plan zum Auswechseln seines Hauptteilhabers, denn keine böse Überraschung sollte ihn ausbremsen können, er wollte für alle Eventualitäten gewappnet sein.

Brunners Firma hatte Grundstücke gekauft und gepachtet, Material beschafft, Maschinen geleast, sogar schon Arbeitsverträge geschlossen, die ersten Mitarbeiter steckten in den Startlöchern, denn Personal rekrutierte man nicht von heute auf morgen, bei dieser Ressource musste man längerfristig planen. Jetzt erwartete er täglich die Genehmigung für seine neue Förderstätte am Ehrenfriedersdorfer Sauwald.

In gleichem Maße widmete er sich seinem Interesse an der Vergangenheit, vor allem weil seine Pläne für die Zukunft zwischenzeitlich gezwungenermaßen ruhen mussten. Nur zu gern verlor er sich in den alten Geschichten über Bergleute, Berggeister und Grubenunglücke. All das faszinierte ihn, ohne dass er genau hätten sagen können, warum. Es war wohl der Zauber des Mystischen, der Hauch des Unheimlichen und Geheimnisvollen. Die Geschichte von der langen Schicht am Sauberg kannte er mittlerweile samt aller kursierenden Variationen auswendig. Je weiter er sich in alte Aufzeichnungen und historische Berichte vertiefte, desto klarer wurde ihm, wie gefährlich die Arbeit unter Tage in den vergangenen Jahrhunderten gewesen war, wie hart und entbehrungsvoll das Leben der Bergleute – die all das wohl nur auf sich nahmen, um frei zu sein in einer Zeit, da vielerorts Leibeigenschaft die Gesellschaft beherrschte.

Ein denkmalgeschütztes Haus in Ehrenfriedersdorf sollte als Firmensitz dienen, er hatte es weitestgehend sanieren lassen und dort erst gestern die Geschäftsräume untergebracht, seine Wohnung sollte folgen. Den Umzug würde er in Kürze organisieren, im Moment ließ er es sich noch in Schönfeld gutgehen, wo er seit drei Jahren eine möblierte Ferienwohnung als Dauerwohnsitz mietete und nutzte. Er war überzeugt, hier im Erzgebirge nicht nur sein geschäftliches Glück, sondern auch den Schatz seines Lebens zu finden. Er entschied sich, den Abend zu nutzen, um sein neues Büro weiter zu organisieren und einzurichten. Er war ein Einzelgänger, den Abend mit Freunden in der Kneipe zu verbringen, war ihm fremd. Und die Frau fürs Leben, die suchte er auch noch. Aber immer schön eines nach dem anderen, dachte er. Ich bin doch erst Mitte vierzig, das beste im Leben kommt noch!

*

Emilie Voigt nestelte nervös an einer Strähne ihres blonden Haares, die ihr lose ins Gesicht hing. Die ehemalige Geologin hatte verfrüht in den Ruhestand gehen müssen, dafür aber eine ansehnliche Abfindung kassiert, die sie milde mit den Umständen stimmte. Ihr Beamtenstatus hatte sie zur teuersten Lehrkraft in einem Kollektiv selbständiger Dozenten werden lassen, man hatte ihr den Ruhestand nahegelegt. Aber da sie weder körperlich noch geistig auf dem absteigenden Ast saß, intensivierte sie ihr Engagement für die Umwelt und fand so wieder eine Aufgabe, ihre Tage zu füllen. Trotz ihrer dreiundsechzig Jahre war sie eine sehr attraktive Frau, die viel jünger wirkte. Emilie Voigt war schlank, fit und agil, besuchte dreimal in der Woche ein Fitnessstudio. Ihr blondiertes Haar kaschierte die grauen Strähnen und fiel ihr in das nahezu faltenfreie Gesicht. Wohlwollend musterte sie sich allmorgendlich im Spiegel. Ihr gefiel, was sie sah.

An diesem Morgen traktierte sie die unschuldigen Tasten ihres Computers mit wenig Feingefühl, der Inhalt der Website von SMF, den sie wieder und wieder las, blieb davon unbeeindruckt derselbe. Auch wenn sie es nicht gut fand, dort stand es immer noch: Das Unternehmen Sächsische Mineralienförderung AG war auf erhebliche Mengen von werthaltigem Wolfram- und Fluoriterz gestoßen. Sie wusste, dass dies unweigerlich zu einer Ausweitung des Abbaubetriebes führen würde und dabei interessierte es niemanden, dass sie selbst absolut gegen eine Ausweitung des Bergbaus oder neue Schachtverläufe war. Allerdings würde genau das in Pöhla passieren.

Sie griff nach dem Telefon, um sich abzulenken. Im Moment begleitete sie als Mentorin die Doktorarbeit eines ihrer Lieblingsstudenten damals in der Bergakademie Freiberg. Matthias Ullmann bekleidete seit kurzem selbst ein Lehramt an der Universität, hatte seine Dissertation fast fertig verfasst. Grundlage seiner Arbeit war eine Theorie, die von Emilie stammte, die sie im Grunde aber gemeinsam erarbeitet hatten und die bis zu diesem Zeitpunkt geheim war. Und gerade weil sich ihre Neigungen in bestimmten Bereichen der Geologie ähnelten, telefonierten sie und philosophierten über die Zusammenhänge von geologischen Gegebenheiten und speziellen Bodenschätzen. Sie selbst hatte dazu ein Gutachten über das ehemalige Abbaugebiet in Ehrenfriedersdorf vorgelegt, den Rest musste Matthias selbst erledigen, ein Doktortitel war schließlich kein Geschenk, sondern wollte hart erarbeitet werden. Jedenfalls war sie überzeugt, dass sich vor allem in der Nähe von Wolfram- und Fluoriterzvorkommen noch ganz andere Dinge finden ließen und in der Vergangenheit auch gefunden worden waren. Hinweise darauf lieferten alte Aufzeichnungen, Beweise gab es nicht. Das überließ sie Matthias. Seine Nummer war in Emilies Handy gespeichert.

Sie rief ihn an und als er sich meldete, erhellte sich ihr Gesicht.

5

»Und, genießt du die letzten Tage mit mir jetzt endlich? Oder hast du immer noch Sorge, es nicht zu schaffen?«, erkundigte sich Hauptkommissar Lorenz bei seiner Kollegin Annalena, die ihm gerade eine Tasse Kaffee reichte, ein Dienst, den sie normalerweise von sich wies.

»Wenn ich mir vor Augen halte, dass es nur die vorübergehend letzten Tage sind, geht’s schon. Sie kommen ja nach Ihrer Kur wieder, oder? Was, wenn die Ihnen dort den Ruhestand einreden?«

»Ruhestand? Niemals!«, wies Lorenz diesen Gedanken von sich. »Ich ermittle noch ein paar Jahre weiter, auch wenn ich für meine Knochen einen Rollator brauche. Schließlich muss ich von irgendwas leben und die Pensionierung liegt in unerreichbarer Ferne.« Er machte ein gespielt wehmütiges Gesicht. »Aber abgesehen von meinem Rücken und der Kur … ich habe kein besonders gutes Gefühl, was die nächsten Wochen angeht, Annalena. Nicht weil du den Job nicht schaffen könntest, du packst das, da hab ich keinen Zweifel. Die allgemeine weltweite Situation und was das in naher Zukunft für uns alle bedeuten könnte, das macht mir echt Kopfzerbrechen.«

Annalena hob abwehrend die Hände, sie wusste sofort, was der Hauptkommissar meinte.

»Ich finde das auch ganz schrecklich. Und am liebsten würde ich wie der Vogel Strauß den Kopf in den Sand stecken, um nichts mehr davon zu hören. Corona-Infizierte weltweit, mittlerweile auch in Deutschland, die vielen Toten in Italien und Spanien … alles ist so irreal, als würde man einen Katastrophenfilm im Fernsehen anschauen, und nicht die Nachrichten. Ich hätte das noch vor ein paar Wochen nicht für möglich gehalten, aber bald ist es auch hier so weit, dass Ausgehverbote ausgesprochen werden. Die Leute hamstern schon Mineralwasser, Nudeln und Toilettenpapier.«

»Gestern Abend habe ich mit Roswitha das Thema gestreift, ich war gespannt auf ihre Meinung als Medizinerin. Aber auch ihr Wissen ist diesbezüglich vage, sie hält sich bedeckt.«

»Gefährliches Halbwissen weltweit und allerorten Angst. Tolle Situation.«

Annalenas Nerven waren wegen ihres näherrückenden Umzugs ohnehin gereizt. Lorenz verstand zwar nicht genau, warum, wollte das Thema aber kein zweites Mal erörtern. Sie zog mit ihrem Freund zusammen, ein Grund zur Freude eigentlich, doch auch die Änderung des Freiheitsstatus. Vielleicht lag es daran. Oder am Perfektionismus: Annalena ähnelte Lorenz verstorbener Tochter sehr, auch Anna hatte gern alles im Griff gehabt und bis ins letzte Detail durchgeplant, jede Abweichung hatte auch sie in Nervosität versetzt.

»Ich denke immer noch, dir macht der Umzug mehr Stress als der Gedanke an dieses Corona«, erklärte er mit dem Brustton der Überzeugung. Noch überzeugter war er davon, dass Annalena am Ende Muffensausen vor der Enge einer Bindung mit einem Mann in gemeinsamer Wohnung hatte. Er würde ihr das bei Gelegenheit sagen, irgendwann nach der Kur, denn jetzt war ganz sicher nicht der richtige Moment dafür. Lorenz spürte Annalenas Anspannung und wenn sie gegenüber seinen väterlichen Anwandlungen nicht so abwehrend reagieren würde, hätte er sie gern in den Arm genommen. Stattdessen ermunterte er sie:

»Annalena, du wirst das ohne Probleme schaffen. Mich für drei Wochen zu vertreten wird dir keine Schwierigkeiten bereiten. Auch der Ortswechsel wird bald hinter dir liegen und du wirst mit Lukas glücklich sein, hoffe ich. Und wenn nicht, schmeiß ihn raus. Oder bring ihn um, ich ermittle nicht gegen dich wegen Befangenheit.«

Zugegebenermaßen war ihm dieser Scherz etwas zu grob geraten. Annalena hob erstaunt den Blick.

»Gut zu wissen, Herr Hauptkommissar.« Sie kicherte.

Es klingelte. Lorenz erhob sich, trat an den Kleiderständer und durchwühlte seine Manteltasche nach dem Handy. Seinem Gesicht nach zu urteilen, war ihm die angezeigte Nummer nicht bekannt.

»Lorenz«, meldete er sich und lauschte. Dann nickte er. »Ja, ja, genau. Natürlich. Für vier Stunden die Woche. Sehr gern. Wann, heute Abend? Prima. Gegen neunzehn Uhr? Wunderbar. Bis dahin!« Er beendete das Gespräch.

»Ich sehe mich nach einer Haushaltshilfe um. Ich muss mich immer mehr um meine Mutter kümmern, im Moment bleibt irgendwie alles andere auf der Strecke. Wenigstens wären dann meine Hemden wieder gebügelt«, erklärte er.

»Warum eigentlich nicht, das ist sicher keine schlechte Idee. Und überhaupt, haben Sie schon mal über einen Pflegedienst für Frieda nachgedacht?«

»Nachgedacht schon. Roswitha hat mir da schon ins Gewissen geredet. Aber es ist gar nicht so leicht, jemanden für die ambulante Pflege zu finden. Ich meine, trotz des Schlaganfalls ist meine Mutter ja eigentlich wieder gut drauf, sie schafft das schon noch eine Weile, auf jeden Fall die nächsten drei Wochen, eine Nachbarin schaut nach ihr und Roswitha auch. Mal sehen, wir müssen nach der Kur noch mal über einiges nachdenken, vorher wird’s ohnehin nichts mehr. Vielleicht hole ich sie irgendwann auch ganz zu mir. Vielleicht kaufe ich mir ja noch ein Häuschen auf meine alten Tage, das wollte ich immer schon.«

»Was spricht gegen Ihr Haus in Annaberg?«

»Nichts. Rein gar nichts. Ich habe eine günstige Miete und genug Platz. Aber erstens gehört es mir nicht und zweitens ist die Heizung seit Jahren nicht in den Griff zu kriegen, wie du weißt. An oder aus, kalt oder heiß. Und das gilt auch fürs Wasser. Ich komme damit klar. Aber meiner Mutter will ich das nicht zumuten.«

»Vielleicht sollten Sie noch mal den Klempner wechseln?«

Lorenz winkte ab.

»Ich hab die Hoffnung aufgegeben. Wahrscheinlich hab ich die auch alle schon verschlissen. Der letzte war der Meinung, das Leitungssystem im Haus müsse verhext sein, na ja, auch eine Erklärung. Nach einem halben Jahr Fehlersuche und unverrichteter Dinge hat er sogar auf die letzte Rechnung verzichtet. Ich kann nur hoffen, der Arme ist nicht in psychiatrischer Behandlung wegen meines Heizungsproblems.« Während Lorenz das sagte, sortierte er die wenigen Unterlagen, die noch auf seinem Schreibtisch verblieben waren. Das meiste hatte er mit Annalena bereits durchgesprochen und für die nächsten Wochen ihrer Verantwortung übergeben.

 

»Was war denn hiermit noch gleich?« Eine Telefonnotiz war ihm in die Hände gefallen, nach der ein Junge seinen Vater des Mordes beschuldigte. Dass noch keine Akte angelegt worden war, konnte nur bedeuten, die Beschuldigung hatte sich längst als gegenstandslos herausgestellt. Doch irgendetwas irritierte ihn an der Sache.

Annalena kramte auf ihrem Tisch nach dem dazugehörigen Bericht.

»Hier steht alles. Ich bin natürlich dort gewesen, hab den kleinen Kerl erst genommen und mir seine Sorgen angehört. Der Junge heißt Nico Schlegel und ist neun Jahre alt, sein großer Bruder Sebastian ist vierundzwanzig, aber nur selten zu Hause, er studiert Geologie in Freiberg und hat dort eine Studentenunterkunft, so dass der Kleine oft mit dem Vater allein ist. Die Mutter lebt nicht mehr, Genaues weiß ich nicht. Der Vater, Wolf Schlegel, ist Schichtleiter in einem Bergwerk in Pöhla, und scheinbar mag er entweder keine Haustiere oder er ist ein ziemlicher Hitzkopf. Der Junge hatte von den Großeltern zum Geburtstag einen Wellensittich geschenkt bekommen und der Vater, den wohl das Gezwitscher nervte, hat dem Vogel den Hals umgedreht. Deshalb hat der Nico angerufen, die Polizei, dein Freund und Helfer und so … Aber hier zu helfen ist schwierig … Schlegel soll wohl auch dem Alkohol nicht abgeneigt sein, was ihn nur noch impulsiver macht, jedenfalls hatte die Nachbarin kein gutes Wort für ihn übrig. Um es auf den Punkt zu bringen: Kein Fall für uns, es ging um den Mord an einem Vogel …«

Lorenz spürte einen leichten Kopfschmerz anklopfen. Wenn Kindern etwas zuleide getan wurde, egal ob seelische oder körperliche Schmerzen, ging ihm das persönlich nahe.

»Was hat der Typ gemacht? Dem Vogel, den der Junge von den Großeltern bekam, den Hals umgedreht? Unfassbar. Der Mann gehört gemaßregelt, auch wenn das dem Kind nicht hilft, das dem Kerl tagtäglich ausgeliefert ist. Armer Junge.« Lorenz legte fassungslos die Stirn in Falten. Verrohung der Gesellschaft? Tyrannische Väter hatte es immer schon gegeben. Jugendämter jedoch nicht.

Annalena nickte zustimmend, und als hätte sie seine Gedanken gelesen:

»Ich hab die Sache mal pro forma dem Jugendamt gemeldet. Weil es noch keine Vorfälle in der Familie gab, jedenfalls keine, die bekannt geworden sind, wird das folgenlos bleiben. Ich hoffe dennoch, jemand hat ein Auge auf die Familie. Der Kleine tat mir leid. Er wirkte sehr sensibel, ein kleiner, dünner Bursche mit rotgeweinten Augen.«

»Scheiße«, brummte Lorenz. »Sorry.«

»Sehe ich aber genauso.« Über ihr Gesicht huschte ein trauriger Ausdruck.

Lorenz schaute auf die Uhr.

»Schluss für heute, würde ich sagen«, brummte er. »In Bereitschaft sind wir ja sowieso.« Normalerweise hatte er nichts und niemanden, der ihn zum Feierabend erwartete, so dass ihm Überstunden nichts ausmachten, zumal Roswitha ohnehin in Leipzig war. Aber heute musste er bis neunzehn Uhr in Annaberg sein wegen der Frau, die sich auf seine Annonce gemeldet hatte und sich als Haushälterin vorstellen kommen würde. Ihr Dialekt hatte thüringisch geklungen, aber sie wohnte in Ehrenfriedersdorf, hatte sie erklärt. Er griff nach seinem Mantel.

»Und, was steht bei dir heute noch an?«, fragte er Annalena, die sich ebenfalls anschickte zu gehen.

»Umzugskartons packen. Was sonst. Schon dieses Wochenende kommt der Möbelwagen, nächste Woche muss dann noch die alte Wohnung vorgerichtet werden und bis zum Monatsende soll die Abnahme über die Bühne sein, damit ich meine Kaution zurückbekomme. Ich werde froh sein, wenn das abgehakt ist.«

»Na dann, frohes Schaffen«, wünschte der Kommissar. »Und niemals das Ziel aus den Augen verlieren.«

»Gleichfalls.« Annalena schulterte ihre Tasche und ging. Die Schritte ihrer Absatzschuhe, auch wenn diese nicht besonders hoch waren, hallten noch lange nach.

Lorenz nahm sein Telefon, steckte die Brieftasche mit den Papieren in seinen Mantel und löschte das Licht. Dann machte er sich auf den Weg nach Hause. Die Strecke von Chemnitz über die B 95 war die schnellste, in knapp fünfundvierzig Minuten würde er zu Hause sein. Eine Woche Dienst lag noch vor ihm, dann standen alle Zeichen auf Kur, sein Rücken schien allein bei diesem Gedanken zu entspannen.

Das Haus Am Michaelisstollen in Annaberg-Buchholz hatte er von einem Kollegen, Hauptkommissar Volkmann gemietet, der in den Norden geheiratet hatte. Volkmann war einer der wenigen, denen Lorenz das Prädikat »Freund« verliehen hätte. Manchmal vergingen Monate, ohne dass sie einander kontaktierten, aber wenn sie dann telefonierten, dauerte das meist die ganze Nacht. Volkmann berechnete ihm eine mehr als günstige Miete, Lorenz zahlte wirklich nur einen Freundschaftspreis, denn das Haus war weitestgehend unsaniert und die Temperatur im Inneren ein Lottospiel. Mal war das Duschwasser kalt, dafür die Räume brütend heiß, dann verbrühte man sich fast in der Dusche und saß mit Mantel auf dem Sofa. Regeln ließ sich nichts. Mit den Jahren hatte Lorenz sich daran gewöhnt und das Unterfangen, wiederholt einen Klempner zuzuziehen, aufgegeben. Der letzte Handwerker war, wie sein Vorgänger, der die Flinte ebenso ins Korn geworfen hatte, überzeugt gewesen, dass die Ursache des Dilemmas in der Elektronik des Heizkessels zu suchen war. Als das Problem auch mit neuer Elektronik und letztlich ausgetauschtem Heizkessel nicht behoben werden konnte, blieb die Schlussrechnung seitens des Klempners zwar aus, aber auch eine weitere Terminvereinbarung. Bis heute.

Während der Fahrt verfolgte Lorenz die Nachrichten im Autoradio. Von Tag zu Tag hatte er mehr den Eindruck, dass es kaum noch andere Nachrichten als die über die Ausbreitung der Coronapandemie zu geben schien. Was war aus der noch kürzlich aktuellen Debatte um Mikroplastik und Globale Erwärmung geworden? Und wieso fragte niemand mehr nach Datenschutz? Im Moment interessierten die heißdiskutierten Themen von gestern scheinbar niemanden mehr. Genauso wenig wie das allgemeine Leid des Lebens, Erkrankungen wie Krebs – daran war seine Frau Clara viel zu früh gestorben – oder gar kriminelles Geschehen – seine Tochter Anna war ermordet worden. Corona begann siegessicher alles andere zu überschatten. Die Leipziger Buchmesse, die in dieser Woche hätte stattfinden sollen und die er auf der Suche nach Neuerscheinungen zum Thema Sagen und Mythen alljährlich besuchte, war abgesagt worden. Unglaublich – ein lähmendes Gefühl, verbunden mit der Frage, ob er vielleicht nur schlecht träumte, drohte von Zeit zu Zeit an die Oberfläche zu drängen. Dann wünschte er sich aufzuwachen in einer Welt, wie sie noch vor ein paar Wochen ausgesehen hatte.

All die beängstigenden Entwicklungen rund um das Virus erschienen absolut surreal. Und wenn er ehrlich war, kam ihm die geplante Kur gerade noch viel weniger gelegen als ohnehin schon. Aber Roswitha hatte recht. Er musste sich um seinen Rücken kümmern, wenn er auch in Zukunft mobil bleiben wollte. Seinen Ruhestand wollte er als aktiver Rentner mit ihr verbringen und nicht im Rollstuhl sitzend. Ob er Roswitha eines Tages einen Antrag machen sollte? Erwarten würde sie das wohl kaum. Immer dann, wenn er diesen Gedanken hegte, ließ er ihn argwöhnisch beobachtet vorüberziehen. Lorenz hatte ihr im Nachklang seines letzten großen Falles, als die Frau seines Herzens beinahe Opfer eines Mordanschlages geworden wäre, einen Ring geschenkt. Ohne Antrag, nur so. Und er war sicher, dass sie das sündhaft teure Schmuckstück, das er erworben hatte bei einem Annaberger Juwelier, der ihn ebenfalls mit einem Fall verband, auch richtig wertete: als Zeichen seiner Zuneigung und ihrer beider ungezwungener Zusammengehörigkeit. Und genau das war das Schöne an dieser wunderbaren Frau. Nicht nur, dass sie klug und gutaussehend war, das bemerkenswerteste an ihr waren die feinen Antennen, mit denen sie zur Erkundung von Lorenz’ sensibler Gefühlswelt ausgestattet war. Roswitha akzeptierte kritiklos den Teil in seinem Herzen, der für immer Clara und Anna gehören würde, und auch, dass dieser Teil der Größere war. Es gab Tage im Jahr, die gehörten seiner Trauer um die beiden und das akzeptierte sie vorwurfslos.

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