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b) Verwaltungsgerichtsbarkeit und verwaltungsgerichtliche Generalklausel

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Zur rechtsstaatlichen Konsolidierung des deutschen Verwaltungsrechts nach 1949 gehört die Errichtung einer bundeseinheitlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit, wenngleich die Verwaltungsgerichte (mit Ausnahme des Bundesverwaltungsgerichts) Institutionen der Länder bleiben. Seit 1960 ist auf der Grundlage der Gesetzgebungskompetenz von Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG die Verwaltungsgerichtsordnung in Kraft.[254] Mit Inkrafttreten des Grundgesetzes und der Zuweisung auch der Verwaltungsgerichtsbarkeit an unabhängige Richter (Art. 97 und 99 GG) wurde der aus dem 19. Jahrhundert überkommene Streit um die Zuordnung der Verwaltungsgerichtsbarkeit entschieden und der Administrativjustiz eine Absage erteilt. Letzte Reminiszenzen finden sich in der in Bayern noch heute bestehenden Ressortzuständigkeit des Innenministeriums für die Verwaltungsgerichtsbarkeit und wieder in der verwaltungsinternen Überprüfung von Vergabeentscheidungen in erster Instanz (§ 104 GWB).

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Die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG entzog dem Enumerationsprinzip den Boden, also der letztlich aktionenrechtlichen Konzeption, nach der die Verwaltungsgerichte für die Entscheidung bestimmter, enumerativ aufgeführter Angelegenheiten zuständig waren.[255] Dies konkretisierend vollendete die Verwaltungsgerichtsordnung mit der Einführung der verwaltungsgerichtlichen Generalklausel in § 40 Abs. 1 Satz 1 eine bereits in der Weimarer Zeit eingeleitete Entwicklung.[256] Vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Zuweisungen eröffnet sie seitdem den Verwaltungsrechtsweg in allen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nicht verfassungsrechtlicher Art, und zwar grundsätzlich unabhängig von der Handlungsform. Deshalb sind nicht nur erlassene und unterlassene Verwaltungsakte sowie Verwaltungsverträge Gegenstand der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle; auch Rechtsverordnungen,[257] Satzungen, Verwaltungsvorschriften, Warnungen, Empfehlungen und Stellungnahmen werden, zumindest implizit, zum Kontrollgegenstand.

c) Der Individualrechtsschutz nach Maßgabe subjektiv-öffentlicher Rechte

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Der in Art. 19 Abs. 4 GG enthaltenen Systementscheidung entsprechend gewährt das deutsche Verwaltungsprozessrecht Rechtsschutz grundsätzlich nur bei der Verletzung subjektiv-öffentlicher Rechte. Klagen sind nur zulässig, wenn der Kläger eine „Klagebefugnis“ besitzt, also die Möglichkeit geltend machen kann, in eigenen subjektiv-öffentlichen Rechten verletzt zu sein (§ 42 Abs. 2 und § 47 Abs. 2 VwGO), und sie haben zudem nur dann Erfolg, wenn der Kläger nach Feststellung des Verwaltungsgerichts tatsächlich in seinen Rechten verletzt ist (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 VwGO). Über den Wortlaut des Gesetzes hinaus gilt dies für alle Verwaltungsklagen, auch in der Sozial- und Finanzgerichtsbarkeit (§ 54 Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes und § 40 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung).

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Angesichts der Fixierung auf den gerichtlichen Rechtsschutz kann es nicht verwundern, dass die Frage nach dem subjektiv-öffentlichen Recht und seiner Bestimmung in der letzten Phase der Herausbildung des „klassischen“ deutschen Verwaltungsrechts im Mittelpunkt vieler Debatten stand. Die Betroffenheit in einem subjektiv-öffentlichen Recht löst den Vorbehalt des Gesetzes aus, begründet Anforderungen an das Verwaltungsverfahren (§ 28 des Verwaltungsverfahrensgesetzes [VwVfG]) und hat Konsequenzen für die Rechtmäßigkeit von Verwaltungsentscheidungen sowie für ihre gerichtliche Kontrolle.

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Die Frage nach dem subjektiv-öffentlichen Recht steht bereits am Beginn der modernen deutschen Verwaltungsrechtsentwicklung[258] und wird – damals wie heute – nach der dem Zivilrecht (§ 823 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs) entlehnten Schutznormtheorie beantwortet. Danach setzt die „Begründung eines subjektiven öffentlichen Rechts […] eine Norm des objektiven Rechts voraus, die geeignet ist, entweder unmittelbar oder durch Vermittlung eines von der Norm mit Rechtswirkungen ausgestatteten Aktes eine Rechtsposition des Einzelnen zu begründen“.[259] Entscheidender Ansatzpunkt für die Zuerkennung eines subjektiv-öffentlichen Rechts ist in der klassischen Lehre die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, der nach überkommener Auffassung bei der Ausgestaltung der Verwaltungsrechtsverhältnisse festlegen muss, welche Vorschriften (auch) Individualinteressen dienen und deshalb subjektiv-öffentliche Rechte begründen.

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Konsequenterweise erscheinen das Gesetz und die es konkretisierenden Normen, Verwaltungsakte und Verwaltungsverträge damit als entscheidende Grundlage der subjektiv-öffentlichen Rechte, so dass sich die verwaltungsrechtlichen Probleme vor allem auf die richtige Auslegung der einschlägigen Normen reduzieren. Offen bleibt freilich, wie weit der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Zuerkennung subjektiv-öffentlicher Rechte reicht. Hier hat sich, hinter der intakt gebliebenen Fassade der aus dem Konstitutionalismus übernommenen Schutznormtheorie im Zeichen der Konstitutionalisierung des Verwaltungsrechts seit den 1970er Jahren eine tektonische Verschiebung vollzogen, über deren Konsequenzen bis heute kein vollkommenes Einvernehmen besteht.

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Nach der Schutznormtheorie traditioneller Lesart ist der Gesetzgeber bei der Entscheidung über die Zuerkennung subjektiv-öffentlicher Rechte grundsätzlich frei. Er kann aus Gründen der Rechtssicherheit, der Rechtsklarheit oder der Verwaltungseffektivität davon absehen, die Regelungen eines Gesetzes auch in den Dienst seiner Adressaten zu stellen. Mitunter nimmt er diese Beschränkung sogar ausdrücklich vor und regelt, dass bestimmte Verwaltungsaufgaben allein im öffentlichen Interesse erledigt werden (siehe etwa § 3 Abs. 3 des Börsengesetzes und § 23a Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes). Es liegt freilich auf der Hand, dass dieser aus dem 19. Jahrhundert stammende Ansatz in einer Rechtsordnung, in der auch der Gesetzgeber an die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht gebunden ist (Art. 1 Abs. 3 GG) und in der diese nahezu alle Interessen und Verhaltensformen des Einzelnen schützen, jedes Gesetz also immer auch irgendwie die Grundrechte der Bürger berührt, nicht aufrecht erhalten werden kann. Soweit der objektive Regelungsgehalt eines Gesetzes daher grundrechtlich geschützte Interessen berührt, empfängt er von diesen auch im Hinblick auf die Zuerkennung subjektiver Rechte „norminterne Direktiven“, denen sich der Gesetzgeber nicht entziehen kann. Dabei macht es keinen prinzipiellen Unterschied, ob das in Rede stehende Gesetz bipolare Rechtsverhältnisse zwischen dem Einzelnen und dem Staat ausgestaltet oder ob es multipolare Verwaltungsrechtsverhältnisse im Rahmen einer normativen Ausgleichsordnung konstituiert,[260] wie sie etwa zwischen Anlagenbetreibern, Staat und Nachbarn im Bau- oder Immissionsschutzrecht existieren. Konsequenterweise muss die Frage, ob eine bestimmte Norm für den Einzelnen ein subjektiv-öffentliches Recht begründet aufgrund einer sorgfältigen Einzelnormanalyse[261] entschieden werden, bei der zunächst und vorrangig die norminternen Direktiven zu bestimmen sind, die das Gesetz von den Grundrechten empfängt.

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Der Weg zu dieser Einsicht war steinig und ist noch immer nicht vollständig durchschritten. Gleichwohl lässt sich feststellen, dass seit Beginn der 1970er Jahre eine signifikante Ausweitung der subjektiv-öffentlichen Rechte stattgefunden hat, bei der die – erst später so genannten – norminternen Direktiven der Grundrechte zumindest im Hintergrund die entscheidende Rolle gespielt haben und das Dogma von der politischen Entscheidungsfreiheit des Gesetzgebers bei der Zuerkennung subjektiv-öffentlicher Rechte zu Recht ins Wanken geraten ist.

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Unproblematisch gestaltete sich dies für die bipolaren Verwaltungsrechtsverhältnisse zwischen Bürger und Staat. Nachdem das Bundesverfassungsgericht den weiten Schutzbereich der Allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) anerkannt hatte, stand fest, dass die Auferlegung jeglicher Pflicht einen – rechtfertigungsbedürftigen – Grundrechtseingriff darstellt und dass jedermann, gestützt jedenfalls auf Art. 2 Abs. 1 GG, insofern auch einen Anspruch auf Freiheit vor gesetzlosem wie gesetzwidrigem Zwang geltend machen kann. Daher geht die – von Rechtsprechung und Lehre einmütig akzeptierte[262] – sog. Adressatentheorie davon aus, dass der Adressat eines ihn belastenden Verwaltungshandelns grundsätzlich einen umfassenden Anspruch auf dessen Rechtmäßigkeit besitzt – von der Einhaltung der behördlichen Zuständigkeitsordnung über das Verwaltungsverfahren bis hin zu der Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips. Vergleichbares gilt, soweit das Gesetz der Ausgestaltung grundrechtlich radizierter Teilhabeansprüche dient.[263] Im Bereich bipolarer Verwaltungsrechtverhältnisse hat dies eine weitgehende Subjektivierung des Gesetzmäßigkeitsprinzips zur Folge.

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Schwieriger gestalteten sich die Dinge im Bereich multipolarer Verwaltungsrechtsverhältnisse, was auch mit der nur zögerlichen Anerkennung faktischer Grundrechtseingriffe zusammenhing. Im Detail bereitet die Bestimmung der subjektiv-öffentlichen Rechte hier nach wie vor erhebliche Probleme; der Trend zu ihrer substantiellen Ausdehnung unter Rückgriff auf die Grundrechte und ihre norminternen Direktiven ist jedoch eindeutig. Das mögen zwei Beispiele belegen: Im Bau- und Planungsrecht nutzte das Bundesverwaltungsgericht in seiner berühmten Schweinemäster-Entscheidung das „Gebot der Rücksichtnahme“, um eigentlich rein objektiv-rechtlich konzipierten Normen wie den Regelungen über die Zulässigkeit von Bauvorhaben in Gebieten, für die kein Bebauungsplan erlassen ist (§§ 34 und 35 des Baugesetzbuches),[264] unter qualifizierten Voraussetzungen doch Schutznormcharakter für die Nachbarschaft zuzusprechen, was in der Sache nichts anderes war als ein kaschierter Rückgriff auf die norminternen Direktiven der einschlägigen Grundrechte der Nachbarn, vor allem des Rechts auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 und der Eigentumsfreiheit aus Art. 14 GG.[265] Im öffentlichen Wirtschaftsrecht, um ein zweites Beispiel zu nennen, begann die Literatur schon 1970, kommunalrechtliche Vorschriften, welche die kommunale Wirtschaftstätigkeit begrenzten, wegen der Ausstrahlungswirkung der in Art. 12 Abs. 1 GG gewährleisteten Berufsfreiheit als subjektiv-öffentliche Rechte der privaten Konkurrenten zu qualifizieren.[266] Es sollte aber noch weitere 35 Jahre dauern, bevor die Verwaltungsgerichte nach verschlungenen Umwegen über das Wettbewerbsrecht[267] das eigentlich Offensichtliche anzuerkennen begannen.[268] Vergleichbares gilt für die späte Anerkennung des Allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) im Vergaberecht.[269] Mit der nach 1990 einsetzenden flächendeckenden Europäisierung des Verwaltungsrechts und der Flut unionsrechtlich begründeter individueller (Klage-)Rechte hat die Zuerkennung subjektiv-öffentlicher Rechte aufgrund nationaler Entscheidungen mittlerweile jedoch erheblich an Bedeutung verloren.[270]

 

4. Die Verwaltung und das demokratische Prinzip

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In der Perspektive des klassischen deutschen Verwaltungsrechts kommt der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft eine überragende Bedeutung zu. Der Bürger erscheint in ihr vor allem als natürlicher Widerpart der Verwaltung, deren „Eingriffe“ in seine Rechtssphäre er auf der Grundlage des rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts und mit Hilfe (verwaltungs-)gerichtlichen Rechtsschutzes abzuwehren oder auf das unbedingt Erforderliche zu beschränken sucht. Dass das Verwaltungsrecht vor diesem Hintergrund rechtsschutzzentriert sein muss, liegt auf der Hand.

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Diese Perspektive ist zeitlos gültig, denn nicht nur der Verwaltungs-, sondern auch der Verfassungsstaat ist freiheitsgefährdend,[271] und in zahlreichen Hinsichten ist der staatliche Zugriff intensiver denn je.[272] Gleichwohl beinhaltet sie ein im demokratischen Rechtsstaat unzulängliches Verständnis des Bürgers.[273] Das allein rechtsstaatlich ausgerichtete Verwaltungsrecht begrenzt den Bürger auf die gesellschaftliche Sphäre und seine individuellen Rechte. Die Sorge um das Gemeinwohl als solches verbleibt „dem Staat“, „der Verwaltung“, in der Tradition einer „Obrigkeit“, die des Bürgers insoweit nicht bedarf.

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Die Rechtsschutzzentriertheit des deutschen Verwaltungsrechts hatte zudem eine problematische Blickverengung des Verwaltungsrechts zur Folge, in welcher der Stellenwert des (objektiv-rechtlichen) Gesetzmäßigkeitsprinzips sowie die Steuerung und Effektivität der Verwaltung zu stark an den Rand gedrängt wurden. Das sollte das deutsche Verwaltungsrecht in der Konfrontation mit den Anforderungen der Europäisierung mitunter als besonders schwerfällig erscheinen lassen, etwa mit Blick auf die Vorschriften über die Rücknahme rechtswidriger Verwaltungsakte (§§ 48ff. VwVfG). In den 1990er Jahren sollte dies den Ruf nach einer „Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft“ auslösen, deren zentrales Anliegen es ist, die „klassische“ Rechtsschutzperspektive durch eine Steuerungsperspektive zu ergänzen.[274]

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Die Fixierung des Verwaltungsrechts auf den Individualrechtsschutz und die damit verbundene Koppelung des Rechtsschutzes an die mögliche Verletzung subjektiv-öffentlicher Rechte erweist sich mittlerweile auch als Hindernis für die Modernisierung der öffentlichen Verwaltung. So wird der Paradigmenwechsel von der grundsätzlich geheimen Verwaltung, deren Unterlagen nur für den Dienstgebrauch bestimmt sind und die in der Regel allein Beteiligten Akteneinsichtsrechte zugesteht (§ 29 VwVfG), zur „gläsernen“ Verwaltung, in welcher der freie Aktenzugang die Regel und seine Verweigerung die rechtfertigungsbedürftige Ausnahme ist, nur mühsam und schleppend vollzogen.[275] Darüber hinaus tun sich Verwaltung und Verwaltungsrecht schwer mit im Zuge der Internationalisierung und Europäisierung immer wichtiger werdenden Popular- und Verbandsklagen sowie der selbständigen Einklagbarkeit von Verfahrensrechten,[276] was mitunter zu grotesk wirkenden Konstruktionen zwingt.[277]

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Schließlich macht es die Rechtsschutzzentrierung des Verwaltungsrechts unmöglich, den Beitrag zu erkennen und dogmatisch einzuordnen, den die Rechtsprechung für die Gewährleistung des Gesetzmäßigkeitsprinzips leistet. Für die mit der Eröffnung gerichtlichen Rechtsschutzes verbundene demokratiespezifische Ventil- und Kompensationsfunktion, für den nicht unerheblichen Beitrag der Rechtsprechung zur demokratischen Legitimationsvermittlung staatlicher Entscheidungen, fehlen dem deutschen öffentlichen Recht insoweit die Antennen.[278]

Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 42 Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Deutschland › V. Der Begriff des Verwaltungsrechts

V. Der Begriff des Verwaltungsrechts

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Die juristische Konstruktion der Wirklichkeit erfolgt maßgeblich über das Definieren von Begriffen, gerade in der deutschen Tradition, zu der die Begriffsjurisprudenz einen fundamentalen Beitrag geliefert hat. Gemeinsam mit den Aufbauschemata bilden zentrale Definitionen das Unverzichtbare, um die Staatsexamina zu bestehen; sie formen also den harten Kern der juristischen Bildung, auf dem weitere Kenntnisse und Fähigkeiten aufsetzen. Sie sind sozusagen das gemeinsame „Betriebsprogramm“ aller deutschen Juristen als Moment ihrer kollektiven Identität. Somit verspricht eine Analyse des Begriffs des Verwaltungsrechts eine Quintessenz dieses Rechtsgebiets.

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Dem Verwaltungsrecht ist eine ganz besondere Definition zu Eigen, denn es ist nach herrschendem Verständnis durch seine Definitionslosigkeit definiert.[279] Es ist Teil des kollektiven Wissens deutscher Juristen, für viele vielleicht gar das einzige bekannte Grundlagenproblem des Verwaltungsrechts, dass es mangels einer positiven Definition der Verwaltung keine entsprechende Definition des Verwaltungsrechts gibt. In den beiden erfolgreichsten deutschen Lehrbüchern heißt es: „Von jeher ist die Verwaltungsrechtswissenschaft um eine Definition ihres Gegenstands, der Verwaltung, verlegen“; es liege „in der Eigenart der Verwaltung begründet, daß sie sich zwar beschreiben, aber nicht definieren läßt“,[280] eine Aussage, der Hartmut Maurer sich anschließt.[281] Rainer Wahl führt die Definitionslosigkeit des Verwaltungsrechts auf die Unmöglichkeit einer vollständigen Staatsaufgabenlehre zurück und hält abschließend fest: „Demzufolge ist Verwaltungsrecht das Recht einer großen Fülle von inhaltlich unterschiedlichen Aufgaben.“[282]

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In dieser Definition mittels Definitionslosigkeit scheint die metaphysische Tiefe des deutschen Staats- und Verwaltungsverständnisses auf. Konkretere Anhaltspunkte finden sich im positiven Recht. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass der Begriff des Verwaltungsrechts positivrechtlich unbedeutend ist. Der Gesetzgeber geht von der summa divisio des deutschen Rechts in Bürgerliches Recht, Strafrecht, und Öffentliches[283] Recht aus (§ 5a Abs. 2 des Deutschen Richtergesetzes);[284] das in jener Norm selbständig und zusätzlich erwähnte Verfahrensrecht wird gemeinhin dem öffentlichen Recht zugeordnet. Der Begriff Verwaltungsrecht findet sich, anders als etwa im französischen oder spanischen Recht,[285] nur an nachgeordneter Stelle als Teil des öffentlichen Rechts, etwa in den Verordnungen über die Juristenausbildung zwecks Beschreibung des Prüfungsstoffes. Da diese gesetzlichen Vorgaben auf dem Entwicklungspfad des deutschen Verwaltungsrechts aufruhen und zudem die universitäre Lehre und die entsprechende wissenschaftliche Lehrbuchproduktion ausrichten, kann man davon ausgehen, dass sie ein gutes Verständnis davon vermitteln, was zumindest den Kern dieses Rechtsgebiets ausmacht. § 8 Ziff. 9 der Juristenausbildungs- und Prüfungsordnung 2002 Baden-Württemberg etwa bestimmt als Gegenstand des Verwaltungsrechts: „Allgemeines Verwaltungsrecht und allgemeines Verwaltungsverfahrensrecht (verfassungsrechtliche Grundlagen, Rechtsquellen und Normen des Verwaltungsrechts, Handlungsformen der Verwaltung, Teile I bis IV des Verwaltungsverfahrensgesetzes) ohne besondere Verwaltungsverfahren, Verwaltungsvollstreckungsrecht, Staatshaftungsrecht; aus dem Besonderen Verwaltungsrecht: Polizeirecht, Baurecht (Recht der Bauleitplanung, Zulässigkeit von Bauvorhaben, bauaufsichtsrechtliche Instrumentarien), Kommunalrecht (ohne Kommunalwahlrecht und Kommunalabgabenrecht).“ Weiter gelten, wie sich in der Schwerpunktausbildung zeigt, als verwaltungsrechtliche Materien das öffentliche Wirtschaftsrecht, das Umweltschutzrecht, das Recht des öffentlichen Dienstes sowie das Straßen- und Wegerecht als Kernmaterien.[286] Das Prozessrecht wird, entsprechend der Vorgabe des Deutschen Richtergesetzes, als eigenes Fach geführt, so dass § 8 der Juristenausbildungs- und Prüfungsordnung 2002 Baden-Württemberg in einer eigenen Ziff. 10 verlangt: „aus dem Verwaltungsprozessrecht im Überblick: Verfahrensgrundsätze, Prozessvoraussetzungen, Klagearten (einschließlich Normenkontrolle), Arten und Wirkungen von gerichtlichen Entscheidungen, vorläufiger Rechtsschutz“. Dies sind die Materien, die ein deutscher Jurist mit dem Begriff „Verwaltungsrecht“ assoziiert. Das Sozialrecht und das Steuerrecht, wenngleich durch einen gewaltigen Verwaltungsapparat angewandt, stehen allenfalls am Rande dieses Verständnisses; ihr Eigenleben zeigt sich nicht zuletzt darin, dass ihnen zwei eigene Gerichtszweige zugeordnet sind.[287]

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In vergleichender Perspektive ist an dieser Stelle festzuhalten, dass der deutsche Begriff des Verwaltungsrechts nicht, wie etwa nach der britischen „Red Light Theory“, auf das Recht beschränkt ist, das gegen die Verwaltung schützt.[288] Es ist nicht allein das Recht des gerichtlichen Rechtsschutzes, sondern immer schon das Recht staatlicher Regelung und Steuerung gewesen, auch wenn der Steuerungsaspekt oft weniger betont wurde. Es umfasst aber stets solche Normbestände, die nach europäischem Recht als Politiken bezeichnet werden, also auf Steuerung ausgerichtet sind.[289] Entsprechend unterscheidet man im deutschen Verwaltungsrecht zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen Verwaltungsrecht. Andere Traditionen bezeichnen hingegen nur diejenigen Normbestände, die das deutsche Verständnis dem Allgemeinen Verwaltungsrecht zuordnen, als Verwaltungsrecht, und adressieren Bereiche wie das Polizeirecht, Baurecht oder Umweltrecht als eigenständige Gebiete.

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§ 5a des Deutschen Richtergesetzes bestimmt das Verwaltungsrecht als Teil des Öffentlichen Rechts; der andere Teil ist, neben dem Prozessrecht, das Verfassungsrecht. Deutlich scheint hierin der Entwicklungspfad des deutschen Verwaltungsrechts auf, insbesondere seine Konstitutionalisierung ab 1949.[290] Ein Verwaltungsrecht ohne verfassungsrechtliche Grundierung, Durchdringung und Ausrichtung ist positiv-rechtlich nicht mehr denkbar.[291] Dies hat zur Folge, dass die Unterscheidung von Verwaltungsrecht und Verfassungsrecht rechtspraktisch problematisch ist.[292] Natürlich kann man rechtsquellentheoretisch auf den Rangunterschied und den Vorrang der Verfassung abstellen, doch dieses Kriterium hilft bei dem praktischen Schlüsselproblem, der Bestimmung der gerichtlichen Zuständigkeit angesichts der Konstitutionalisierung des Verwaltungsrechts, nicht weiter. Die Verschleifung der beiden Bereiche zeigt sich daran, dass es auf die rechtsquellentheoretische Differenz nicht ankommt.

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Für die eigene Kontrolle von (Verwaltungs-)Gerichtsentscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht die materiell-rechtlich ausgerichtete Formel vom „spezifischen Verfassungsrecht“ entwickelt,[293] nach der es Entscheidungen der Fachgerichte nicht auf ihre Richtigkeit hin überprüft, sondern nur darauf, ob sie bei der Anwendung des einfachen Rechts Bedeutung und Tragweite der Grundrechte erkannt und zutreffend in Rechnung gestellt haben. Die Unterscheidung ist weiter im Rahmen von § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO von Gewicht, wonach die Verwaltungsgerichte nur für Streitigkeiten „nicht verfassungsrechtlicher Art“ zuständig sind. Dieses Tatbestandsmerkmal wird, das Bundesverfassungsgericht vor einer Prozessflut schützend, weit ausgelegt: Eine verfassungsrechtliche Streitigkeit wird nur dann angenommen, wenn der Rechtsstreit unmittelbar am Verfassungsleben Beteiligte betrifft und sich auf Rechte oder Pflichten bezieht, die unmittelbar in der Verfassung geregelt sind (sog. doppelte Verfassungsunmittelbarkeit). Zahlreiche Streitfragen mit verfassungsrechtlichen Bezugspunkten unterstehen damit den Verwaltungsgerichten.[294]

 

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Die definitorische Unfasslichkeit der Verwaltung und des Verwaltungsrechts ruhen nach herrschendem Verständnis auf der definitorischen Unfasslichkeit des Staates. Danach ist das Verwaltungsrecht das Recht der staatlichen Verwaltung. Von hieraus sei abschließend auf wesentliche Entwicklungen, ja Mutationen in unserem Gegenstand hingewiesen.[295] Man betrachte nur den Bedeutungswandel hinter dem bestimmten Artikel „der“. Ihm liegt die Vorstellung der Verwaltung als einer hierarchisch geordneten Einheit zugrunde, als die Verwaltung des (einsilbigen) Staates. Heute ist die Verwaltung aber, zunächst einmal allein organisatorisch betrachtet, allenfalls ein mehr oder weniger gut koordiniertes Gefüge.[296] Dies gilt bereits für staatliche Verwaltung in föderaler Aufstellung und verstärkt sich noch, zieht man Phänomene administrativer „Entstaatlichung“ durch Europäisierung und Internationalisierung hinzu. Die Verwaltung Deutschlands erfolgt heute, materiell wie organisatorisch, nicht allein durch deutsche staatliche Stellen und in den Bahnen des deutschen Rechts, sondern in erheblichem Maße auch durch supranationale sowie zunehmend durch internationale Stellen. Das Verwaltungsrecht wandelt sich damit im europäischen Rechtsraum von einer Teilmenge des staatlichen öffentlichen Rechts zu einem Rechtsgebiet, dessen konzeptionelle und akademische Verortung unsicher ist.[297] Bei aller Unsicherheit legt die deutsche Tradition des Verwaltungsrechts allerdings eines nahe: Seine Neubestimmung sollte als Teil einer Neubestimmung des öffentlichen Rechts erfolgen.[298]

Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 42 Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Deutschland › Bibliographie