Ius Publicum Europaeum

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Rückblickend erscheint die Mitte des rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts als Schöpfung der Wissenschaft.[134] So bedeutsam der französische Einfluss dabei war, so verdienen doch zwei Unterschiede Beachtung: Die dogmatischen Grundkategorien des deutschen Verwaltungsrechts beruhen auf einer entwickelten Dogmatik des Staatsrechts,[135] während in Frankreich die Dogmatik des Verwaltungsrechts jener des Verfassungsrechts vorangeht; es gab in Frankreich keine dem deutschen ius publicum vergleichbare Tradition.[136] Zudem ist die Rolle der Gerichte und Richter recht verschieden. Während die Dogmatik des französischen Verwaltungsrechts auf den Entscheidungen des Conseil d’État und den Veröffentlichungen seiner Mitglieder beruht,[137] beherrschen Professoren die verwaltungsrechtliche Dogmatik in Deutschland. Gerichtsurteile erlangen nicht die Zentralität, wie sie für das französische verwaltungsrechtliche Denken typisch ist. Ein sprechendes Detail: In Deutschland werden Gerichtsentscheidungen in der Regel nicht im Text als Gegenstand des Systembaus abgehandelt, sondern in den Fußnoten zur Bestätigung wissenschaftlicher Überlegungen angeführt. Dies entspricht dem Systemanspruch im deutschen Denken, dem es wesentlich zu verdanken ist, dass das deutsche Verwaltungsrecht an Bedeutung mit dem französischen gleich ziehen und sich zu einem eigenen Typus verdichten konnte.[138]

2. Die Ausbildung der Verwaltungsgerichtsbarkeit

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Das rechtsstaatliche Verwaltungsrecht verlangt Normativität, und Normativität ist ohne gerichtliche Institutionen kaum zu denken:[139] Der Rechtsstaat verlangt gerichtlichen Rechtsschutz.[140] Man kann die Entwicklung des Verwaltungsrechts im 19. Jahrhundert als Ausdifferenzierung desjenigen Teils des Staatsrechts sehen, dessen Einhaltung unabhängige Institutionen auf eine Klage hin rechtlich zu prüfen haben. Keine andere verwaltungsrechtliche Institution symbolisiert so gut wie der gerichtliche Rechtsschutz die Idee der Anerkennung. Dementsprechend findet das verwaltungsrechtliche Denken, ähnlich wie in vielen Staaten, über lange Jahre seinen Fokus in dieser Perspektive.

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Das lenkt den Blick auf die Entwicklung der einschlägigen Gerichtsbarkeit. Die Trennung der Verwaltungsrechtsprechung von der Verwaltung ist ein Phänomen des 19. Jahrhunderts. Zuvor sind Rechtspflege und Administration funktional wie institutionell oft eng verwoben,[141] eine Konstellation, wie man sie heute auf internationaler Ebene findet, etwa bei der Streitbeilegung in der Welthandelsorganisation oder in der Weltbank.[142] Die „Administrativjustiz“ des Landesherrn überwacht die Ausübung von Hoheitsgewalt durch nachgeordnete Stellen mit Blick auf die „wohlerworbenen Rechte der Bürger“; institutionell und organisatorisch aber bleibt sie Teil der Verwaltung. Den zum Teil noch ständisch verhafteten (ordentlichen) Gerichten sind derartige Streitigkeiten weitgehend entzogen.[143] Damit hilft die Administrativjustiz, wenngleich rechtsstaatlich gewiss mangelhaft, letztlich auch bei der Überwindung ständestaatlicher Verhältnisse.

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Im Zuge der konstitutionalistischen Bewegung gerät die exekutive Einbindung der Kontrollinstanzen zu Beginn des 19. Jahrhunderts bald unter Druck. Die Forderung nach einer unabhängigen Justiz führt zu § 182 der Reichsverfassung von 1849, der bestimmt: „Die Verwaltungsrechtspflege hört auf; über alle Rechtsverletzungen entscheiden die Gerichte.“[144] Das zielt auf eine Unterstellung der Verwaltung unter die ordentliche Gerichtsbarkeit, potenziell gar unter Geschworenengerichte. Jedoch setzt sich diese „Vergesellschaftung“ der Kontrolle der monarchischen Verwaltung nach dem Scheitern der Revolution von 1848/1849 nicht durch, wohl aber die Idee einer eigenständigen Verwaltungsgerichtsbarkeit.[145] Diese konkretisiert sich in gerichtlichen Institutionen mit der Bezeichnung Verwaltungsgerichtshof oder Oberverwaltungsgericht, insbesondere in Baden (1863), Preußen (1872), Hessen-Darmstadt (1875), Württemberg (1876) und Bayern (1879). Diese Institutionen werden regelmäßig mit zu Richtern ernannten hohen und damit in den Augen der Regierung bewährten Beamten besetzt,[146] von denen eine besonders kritische Rechtsprechung nicht zu erwarten war.[147] Den Gerichten vorgelagert bleibt die Eigenkontrolle der Verwaltung im Rahmen von Widerspruchsverfahren. Auf der seit 1867/1871 existierenden Reichsebene erfolgt die Kontrolle dagegen allein in den Reichsämtern;[148] zu einer Verwaltungsgerichtsbarkeit auf der Ebene des Reichs kommt es nicht. Damit zeichnet sich in Deutschland ein drittes Modell neben England und Frankreich ab. Zwar folgt Deutschland dem französischen Beispiel durch die Absonderung einer eigenen Materie des Verwaltungsrechts, die auch über eigene Kontrollinstitutionen verfügt. Anders als viele andere Länder folgen diese Kontrollinstitutionen aber nicht dem französischen Modell eines Staatsrats, der in die Exekutive eingebunden bleibt.[149] Die Kontrollinstitutionen sind vielmehr, wie in England,[150] nach Bezeichnung und Selbstverständnis Gerichte.

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Die alte Trennung von öffentlichem Recht und Privatrecht behält ihre Bedeutung bei, zumal der Kontrollbereich der Verwaltungsgerichte durchaus beschränkt ist. So hängt die Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs in der Regel an einer Maßnahme, die Mayer als belastenden Verwaltungsakt dogmatisch fasst. Viele Bereiche unterliegen als „besondere Gewaltverhältnisse“ oder kraft gesetzlicher Anordnung, etwa im Ausweisungsrecht, keiner gerichtlichen Kontrolle. Die gilt zumal für staatspolitisch bedeutende Akte, für die sich der Begriff des justizfreien Hoheitsakts einbürgert. Insoweit bildet sich das deutsche Verwaltungsrecht als der „unpolitische“ Teil des öffentlichen Rechts aus, beherrscht durch juristisches und „sachliches“ Denken.[151] Bei nicht wenigen Autoren gerät die Politikferne des Verwaltungsrechts zu einem Ideal.

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Umstritten ist über lange Zeit die eigentliche Stoßrichtung der gerichtlichen Kontrolle. Frühe Konzeptionen, so bei Paul Laband und Rudolf von Gneist, konzipieren sie analog zum französischen Modell als eine objektive Rechtmäßigkeitskontrolle. Subjektiv-öffentliche Rechte im heutigen Verständnis sind dogmatisch vor dem Hintergrund des alle Hoheitsgewalt monopolisierenden Staates zunächst kaum konzipierbar.[152] Erst Georg Jellineks Begründung von subjektiv-öffentlichen Rechten in der freien Selbstverpflichtung des Staates[153] bietet eine Plattform, auf der sich die verwaltungsgerichtliche Kontrolle als eine Institution des Rechtsschutzes, des Schutzes individueller Rechte, in Deutschland durchsetzt. Diese Konzeption soll überaus erfolgreich sein: Gerichtliche Kontrolle und (subjektiver) Rechtsschutz entwickeln sich fast zu Synonymen, was das Verständnis anderer Zugänge wie derjenigen in Frankreich, dem Vereinigten Königreich oder der Europäischen Union erschwert.

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Die rechtsstaatlichen Institutionen des 19. Jahrhunderts legen Grundlagen für ein rechtliches Anerkennungsverhältnis und damit für die Emanzipation des Untertans zum Bürger. Die sich im weiteren Verlauf durchsetzende Konzeption der gerichtlichen Kontrolle als Institution des subjektiven Rechtsschutzes führt zu einer spezifischen Sicht:[154] Das aus der Perspektive des Rechtsschutzes konzipierte Verwaltungsrechtsverhältnis begreift den Bürger als Verfechter seiner rechtlich geschützten Interessen. Darüber hinausgehende öffentliche Interessen stehen außerhalb dieser Konzeption. Aus diesem Vermächtnis resultieren wichtige Spannungen zwischen dem deutschen Verwaltungsrecht und dem Recht der europäischen Integration.[155]

3. Die weitere Entwicklung bis zur Schwelle des Grundgesetzes

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Die berühmteste, wenngleich bestrittene verwaltungsrechtliche Formel der Weimarer Jahre lautet „Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht“.[156] Sie steht für die Beharrungskräfte in Staat und Verwaltung gegenüber einer liberaldemokratischen Fortentwicklung des Verwaltungsrechts im Lichte der im Ausland oft als exemplarisch verstandenen Weimarer Verfassung.[157] Die Unerfülltheit des verfassungsrechtlichen Projekts zeigt sich etwa anhand von Art. 107 der Weimarer Reichsverfassung, wonach Verwaltungsgerichte gegen „Anordnungen und Verfügungen der Verwaltungsbehörden“ des Reiches und der Länder in Stellung gebracht sein müssen, und zwar „zum Schutze der einzelnen“. Entsprechend dem eher programmatischen denn normativen Verständnis dieser Verfassung verläuft die Einrichtung erstinstanzlicher Verwaltungsgerichte wie auch die Gründung des Reichsverwaltungsgerichts schleppend.[158] Letzteres sollte erst unter der nationalsozialistischen Diktatur im Jahre 1941 unter Zusammenlegung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts und des Verwaltungsgerichtshofes Wien entstehen.[159] Aber natürlich haben im Nationalsozialismus auch die Verwaltungsgerichte keinen Schutz gegen Staatsunrecht geboten.[160] Nach dem Zweiten Weltkrieg wird insbesondere auf amerikanisches Drängen zunächst eine zweistufige Verwaltungsgerichtsbarkeit reorganisiert, neben die im Jahre 1953 das Bundesverwaltungsgericht tritt.[161]

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Die Innovationen des Verwaltungsrechts unter dem Grundgesetz sind kaum aus der Weimarer Zeit,[162] sondern vielmehr als Reaktion auf die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur zu erklären. Dies gilt gerade für viele Besonderheiten des geltenden deutschen Verwaltungsrechts im europäischen Vergleich wie die weitreichende Konstitutionalisierung des Verwaltungsrechts, vor allem mittels der Grundrechte, den Umfang und die Dichte verwaltungs- und verfassungsgerichtlicher Kontrolle oder eine Reihe von Sonderdogmatiken wie die Unterscheidung von Ermessen und Beurteilungsspielraum.

 

Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 42 Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Deutschland › IV. Verwaltung und Verwaltungsrecht unter dem Grundgesetz bis zur Europäisierung

IV. Verwaltung und Verwaltungsrecht unter dem Grundgesetz bis zur Europäisierung

1. Die institutionelle Entwicklung

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Unter dem Grundgesetz entwickelt sich zwischen 1949 und 1990 das, was heute als die „klassische“ Gestalt der zeitgenössischen deutschen Verwaltung verstanden werden kann.[163] Bisweilen wird insoweit gar eine „veritable Neugründung des Öffentlichen Rechts“ in Deutschland unter „Anverwandlung älterer Traditionen“ angenommen.[164] Das Grundgesetz mag insoweit als Zäsur erscheinen, die, anders als vergleichbare Zäsuren in anderen Staaten,[165] die Aufgabe von Teilen des bisherigen Entwicklungspfades im Verwaltungsrecht bedeutet. Im Mittelpunkt steht dabei ein neues Staatsverständnis, wonach, in den Worten des Herrenchiemseer Entwurfs für eine neue Verfassung, „der Staat […] um des Menschen willen da“ zu sein hat.[166] Diese Wahrnehmung steht im Einklang mit der allgemeinen, allerdings durchaus bestrittenen Geschichtsschreibung, 1945 als „Stunde Null“ zu begreifen. Wie auch immer: Das deutsche Verwaltungsrecht gewinnt unter dem Grundgesetz eine neue Form, die ihren Zenit Ende der 1980er Jahre erreicht, also just zu dem Zeitpunkt, zu dem sie der Epochenwechsel des Jahres 1989/1990 vor neue Herausforderungen und tiefgreifende Veränderungen stellt.[167]

a) Organisatorische Grundlagen

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In organisatorischer Hinsicht knüpft das Grundgesetz freilich an die seit der Reichsgründung 1867/1871 bestehenden Traditionslinien an; es findet kein grundsätzlicher Wechsel statt.[168] Das Grundgesetz behält das Konzept des Exekutivföderalismus bei,[169] so dass der Vollzug der Bundesgesetze – für Landesgesetze gilt das ohnehin – in der Regel Sache der Länder ist, der Bund aber über abgestufte Einwirkungsmöglichkeiten verfügt (Art. 83ff. GG). Sieht man von der Ministerialverwaltung, dem Auswärtigen Dienst, der Bundesfinanz-, Bundeswehr-, Eisenbahn-, Telekommunikations-, Luftverkehrs- und Schifffahrtsverwaltung ab, bleibt öffentliche Verwaltung grundsätzlich Landesverwaltung und das Feld, auf dem sich die Staatlichkeit der Länder vor allem entfaltet. Das belegt nicht zuletzt ein Blick auf die Beschäftigten: Von den derzeit 5,5 Millionen Angehörigen des öffentlichen Dienstes entfallen nur ca. 500 000 auf die Bundesverwaltung und etwa 374 000 auf die Sozialversicherungsträger, jedoch 2,3 Millionen auf den Bereich der Landes- und 1,72 Millionen auf die Kommunalverwaltung.[170] Das zwingt die Länder, fast 50% ihres Budgets für Personalkosten aufzuwenden. In den 1960er Jahren entstehen im Bereich der Verwaltung vielfältige Formen der Verflechtung zwischen Bundes- und Landesebene, die eine demokratische Verantwortungszurechnung erschweren und die Staatlichkeit der Länder zunehmend in Frage stellen.[171]

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Bundes- und Landesverwaltung lassen sich in die hierarchisch gegliederte unmittelbare Staatsverwaltung und die mittelbare Staatsverwaltung unterteilen, bei welcher der Staat Verwaltungsaufgaben nicht selbst wahrnimmt, sondern durch rechtlich selbständige Körperschaften (z.B. Gemeinden, [Land-]Kreise, Universitäten, Kammern), Anstalten (z.B. öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten) und Stiftungen (z.B. Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Stiftung Weimarer Klassik).[172] Der hierarchische Aufbau bedeutet, dass die Spitze in der ihr unterstellten Organisation „durchregieren“, also der Minister jede Sache an sich ziehen kann. Dies ist keineswegs selbstverständlich, wie insbesondere das schwedische Beispiel zeigt.[173]

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Unter den Trägern mittelbarer Staatsverwaltung nehmen die Gemeinden und (Land-)Kreise einen hervorgehobenen Platz ein, weil ihr Recht zur Selbstverwaltung durch Art. 28 Abs. 2 GG und die jeweilige Landesverfassung besonders abgesichert ist.[174] Sie sind allerdings immer wieder Gegenstand mehr oder weniger breit angelegter Gebietsreformen. In den 1970er Jahren wird die Anzahl der Gebietskörperschaften dadurch erheblich reduziert und größere, leistungsfähigere Einheiten geschaffen.[175] So gab es in Westdeutschland 1960 insgesamt 425 (Land-)Kreise, 141 kreisfreie Städte und 24 371 kreisangehörige Gemeinden.[176] Ihre Zahl hatte sich bereits 1981 nach diversen Reformen auf 235 (Land-)Kreise, 88 kreisfreie Städte und 8514 kreisangehörige Gemeinden verringert.[177] Heute gibt es in der Bundesrepublik 301 (Land-)Kreise (64 davon in den „neuen“ Bundesländern), 111 kreisfreie Städte (22) und 11 496 kreisangehörige Gemeinden (3014).

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Dem öffentlichen Dienst gehörten im Jahre 2008 1,56 Millionen Beamte, 21826 Richter, 183 571 Zeit- und Berufssoldaten sowie 2,54 Millionen sonstige Arbeitnehmer an. Während sich Beamte, Richter und Soldaten beim Bund mit den Angestellten und Arbeitern etwa die Waage halten, sind die Beamten in den Kommunen bis auf wenige Restbestände verschwunden.[178] Ihre Verwendung erfolgte nach 1949 trotz des in Art. 33 Abs. 4 GG enthaltenen Funktionsvorbehalts in der Regel unreflektiert und konzeptionslos. Es kann daher nicht verwundern, dass die aus der Monarchie übernommene Institution des Berufsbeamtentums ungeachtet ihrer rechtsstaatlichen und demokratischen Gewährleistungsfunktion seit den 1970er Jahren zunehmend unter Druck geraten ist.[179]

b) Die Stellung der Verwaltung im Staatsgefüge

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Blickt man auf die horizontale Gewaltenteilung und auf das Verhältnis der Exekutive zu Legislative und Judikative, so ist unverkennbar, dass das Grundgesetz darauf angelegt ist, die Exekutive, verglichen wohlgemerkt mit den exekutivlastigen früheren deutschen Verfassungen, stärker einzubinden, selbst wenn die Regierung und gerade das Amt des Bundeskanzlers weiterhin machtvoll ausgestaltet sind. Auch lebt das alte Verständnis fort, wonach die Verwaltung die Substanz des Staates ausmacht. Dies zeigt anschaulich ihre weiterhin vorherrschende Bestimmung über die Subtraktionsdefinition, nach der all jene Formen und Organisationen von Hoheitsgewalt zur Verwaltung zählen, die nicht Gesetzgebung, Regierung oder Rechtsprechung sind.[180] Es gilt also: Verwaltung ist der Normalfall von Staatlichkeit.

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Die öffentliche Verwaltung verfügt nach 1949 jedoch nicht mehr über viele frühere Machtinstrumente. Insbesondere ihre Rechtsetzungsbefugnisse erscheinen im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union schwach (Art. 80 Abs. 1 GG, Wesentlichkeitsdoktrin),[181] und sie ist, was noch wichtiger ist, einer weitgehend lückenlosen gerichtlichen Kontrolle unterworfen. Zudem besitzt die Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen einen belasten (Verwaltungs-) Akt, im Gegensatz zu den meisten anderen Rechtsordnungen, grundsätzlich aufschiebende Wirkung (§ 80 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung [VwGO]); der Grundsatz wird allerdings zunehmend durch Ausnahmen aufgeweicht.[182]

c) Funktionen von Verwaltung und Verwaltungsrecht nach 1949

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Versucht man die Entwicklung der öffentlichen Verwaltung in ihrer „klassischen“ Epoche unter dem Grundgesetz bis 1990 zu strukturieren, so lassen sich verschiedene Phasen unterscheiden, in denen sich die wirtschaftliche und soziale Entwicklung jener Jahre spiegelt.[183] Nach einer Periode der rechtsstaatlichen Konsolidierung treten im Gefolge des „Wirtschaftswunders“ Ende der 1960er Jahre leistungs-[184] und planungsrechtliche Fragen in den Vordergrund, die Ausdruck eines enormen Vertrauens in die wirtschaftliche und technische Leistungsfähigkeit der Gesellschaft und in die Möglichkeiten staatlicher Steuerung sind. Schon bald weicht diese Zuversicht jedoch der Ernüchterung, mit erheblichen Konsequenzen für die öffentliche Verwaltung. So werden die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit sichtbar, Entscheidungen – etwa im Atom- und Fachplanungsrecht – verlieren an Akzeptanz. Ab Mitte der 1970er Jahre findet sich die öffentliche Verwaltung vor allem im neu entstehenden Referenzgebiet des Umweltrechts,[185] aber auch im Technik- und Planungsrecht mehr und mehr in der Rolle eines Schiedsrichters wieder, der die Interessengegensätze zwischen den Beteiligten im Rahmen multipolarer Verwaltungsrechtsverhältnisse ausgleichen und Zustimmung für das (im Gesetzgebungs- und Verwaltungsverfahren konkretisierte) staatliche Interesse finden muss.

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Otto Mayer hatte die zentrale Aufgabe des Verwaltungsrechts darin gesehen, die „flutende Masse der Verwaltungstätigkeit einzudämmen“.[186] Darauf besinnt man sich nach der Katastrophe der nationalsozialistischen Herrschaft und macht sich entschlossen an die Konsolidierung und Perfektionierung einer rechtsstaatlichen öffentlichen Verwaltung und des sie steuernden Verwaltungsrechts. Die Jahre nach 1949 erscheinen auch in dieser Hinsicht weniger als Bruch mit den Traditionslinien der deutschen Verwaltungsentwicklung denn als konsequente Fortsetzung eines bereits im Kaiserreich eingeschlagenen Weges. Dieser stellte angesichts des ihm zugrunde liegenden Kompromisses zwischen monarchischem und demokratischem Prinzip tendenziell ein deutsches Spezifikum dar und sollte es auch nach dem Zweiten Weltkrieg bleiben, bis die Herausbildung des europäischen Rechtsraums eine Fusion rechtsstaatlicher und demokratischer Traditionslinien auf die Tagesordnung gesetzt hat. Zunächst prägen jedoch eine tiefgreifende Konstitutionalisierung des Verwaltungsrechts (2), der Ausbau des (verwaltungs-)gerichtlichen Rechtsschutzes (3) und ein erst nach der Wiedervereinigung allmählich wahrgenommenes demokratisches Defizit (4) die „klassische“ Gestalt der modernen deutschen Verwaltung und des Verwaltungsrechts. In einer wirkungsmächtigen Interpretation begreift Rainer Wahl Umfang und Tiefe von Verrechtlichung, Konstitutionalisierung und Judizialisierung gar als Merkmale eines deutschen Sonderwegs, der im europäischen Rechtsraum auf dem Prüfstand steht.[187]