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3. Die gerichtliche Kontrolle des Verwaltungshandelns

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Eine weitere Folge der Reformen des 19. Jahrhunderts war die zunehmende Formalisierung der gerichtlichen Kontrollmechanismen. Grund dafür war in erster Linie die Entstehung der Ultra-vires-Lehre und ihre Anwendung auf den Bereich der öffentlichen Gewalt. Die Ultra-vires-Lehre wurde von den Gerichten Mitte des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit Streitigkeiten entwickelt, welche die Marktmacht von Bahngesellschaften betrafen. Diese waren nach Maßgabe gesetzlicher Vorschriften gegründet, und es wurde entschieden, dass „a statutory corporation, created by Act of Parliament for a particular purpose, is limited, as to all its powers, by the purposes of its incorporation as defined in that Act“[51]. Aufgrund der „Vergesetzlichung“ der Kommunalverwaltung fand diese Lehre alsbald auch auf die kommunalen Behörden Anwendung.[52]

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Die Anwendung der Ultra-vires-Lehre auf gewählte kommunale Institutionen und deren Aktivitäten wurde zwar kritisiert, jedoch war sie kaum vermeidbar angesichts der Vehemenz, mit der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts über die Frage der Zulässigkeit und der Grenzen der wirtschaftlichen Betätigung seitens der Kommunen diskutiert wurde.[53] Die Gerichte erkannten allerdings, dass eine strenge Anwendung der Lehre die Fähigkeit der kommunalen Behörden unterminieren könnte, die ihnen vom Parlament anvertrauten Aufgaben wahrzunehmen, und versuchten deshalb, einen flexiblen Ansatz einzuführen, wonach „whatever may fairly be regarded as incidental to or consequential upon those things which the Legislature has authorised, ought not (unless expressly prohibited) to be held to be ultra vires“[54].

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Der Ausbau einer allgemeinen gerichtlichen Kontrolle administrativer Maßnahmen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfolgte hauptsächlich durch die Weiterentwicklung der prerogative writs.[55] Die Gerichte dehnten die prärogativen Rechtsbehelfe, die zur Kontrolle der Tätigkeiten untergeordneter Gerichte geschaffen worden waren, auf die quasi-judiziellen Funktionen der Verwaltungsbehörden aus. Es ist allgemein anerkannt, dass die Gerichte dem von Lord Justice William Brett eingeschlagenen Kurs folgten, der im Jahre 1882 die Auffassung vertreten hatte: „[W]henever the Legislature entrusts to any body of persons other than the superior Courts the power of imposing an obligation upon individuals, the Courts ought to exercise as widely as they can the power of controlling those bodies of persons, if those persons admittedly attempt to exercise powers beyond the powers given to them by Act of Parliament.“[56] Seit den 1880er Jahren haben die Gerichte die writs angepasst, um die öffentlichen Behörden innerhalb der Kompetenzgrenzen zu halten.

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Als die Ausübung der gerichtlichen Aufsicht über die Behörden Anfang der 1930er Jahre Gegenstand einer offiziellen Überprüfung wurde, kam man zu dem Schluss, dass die Fortführung dieser Gerichtsbarkeit unentbehrlich sei. Zugleich aber hieß es, die Verfahren seien „too expensive and in certain respects archaic, cumbrous and too inelastic“[57]. Obwohl diese Kritik im Folgenden ständig wiederholt wurde, erfolgte erst im Jahre 1977 mit der Einführung eines einheitlichen Rechtsbehelfs für öffentlich-rechtliche Streitigkeiten, der application for judicial review,[58] eine Rationalisierung der Verfahren. Aufgrund einer seit Anfang des 20. Jahrhunderts bestehenden allgemeinen Tendenz, dass Gesetze, die öffentlichen Behörden Aufgaben übertragen, zugleich Betroffene dazu ermächtigen, in Rechtsfragen den High Court anzurufen (appeals on questions of law), war die theoretisch begrenztere originäre, durch prärogative Rechtsbehelfe ermöglichte gerichtliche Überprüfung (judicial review) oft nur von geringer Bedeutung.

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Einige Wissenschaftler haben sich sehr kritisch über die Auswirkungen der gerichtlichen Kontrolle administrativen Handelns geäußert, insbesondere mit Blick auf die Wirksamkeit demokratischer Steuerung (policies).[59] William Ivor Jennings etwa kam in seinen Studien über gerichtliche Entscheidungen, die kommunale Behörden betrafen, zu dem Ergebnis, augenfällig sei „the frequency with which the Courts manage to interpret – no doubt correctly in law – in such a way as to obstruct efficient administration“. „It is a remarkable fact“, so fuhr er fort, „that so often a decision of a court acts as a spanner in the middle of delicate machinery“[60]. Gleichwohl steht außer Frage, dass sich die Gerichte seit Ende des 19. Jahrhunderts der Entstehung dieses relativ geschlossenen Systems des Verwaltungsrechts nicht in den Weg gestellt haben.

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Betrachten wir zum Beispiel den Fall Pasmore v. Oswaldtwistle U.D.C.,[61] in dem der klagende Mühleneigentümer, nach erfolglosem Antrag auf Herrichtung der Kanalisation entsprechend den rechtlichen Anforderungen, eine gerichtliche Verfügung (order of mandamus) erstrebte, mit der die Behörde zur Befolgung ihrer gesetzlichen Verpflichtung aus dem Public Health Act von 1875 verurteilt werden sollte. Das House of Lords vertrat in seiner Entscheidung zugunsten der beklagten Behörde die Ansicht, dass der Kläger von dem Säumnisverfahren, das in dem Gesetz vorgesehen war, hätte Gebrauch machen sollen. Es argumentierte, dass dort, wo ein Gesetz eine Verpflichtung schafft und einen Rechtsbehelf zu deren Durchsetzung vorsieht, die allgemeine Regel verlangt, dass die Verpflichtung nicht auf andere Weise durchgesetzt werden kann als mittels dieses Rechtsbehelfs. Lediglich der zentralen Aufsichtsbehörde, und nicht einem Einzelnen, sollte es zustehen, von der lokalen Behörde die Erfüllung ihrer Aufgaben im Bereich der Wasserversorgung und Abwasserbeseitigung einfordern zu können: „[T]he particular jurisdiction to call upon the whole district to reform their mode of dealing with sewage and drainage should not be in the hands, and should not be open to litigation, of any particular individual, but should be committed to a Government department“.[62] Entscheidungen wie diese schienen dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die ordentlichen Gerichte schlichtweg nicht in der Lage waren, in derartigen Verwaltungsstreitigkeiten zu einer angemessenen Lösung zu gelangen.[63] Die Angelegenheiten waren besser bei behördlichen Beschwerdeinstanzen aufgehoben. Durch die Etablierung dieser zentralen Überprüfungsmechanismen entstand ein außerjustizielles System des Verwaltungsrechts. Die gerichtliche Überprüfung der öffentlichen Verwaltungen als grundlegendes Merkmal des alten Regimes wurde durch die administrative Überprüfung seitens der Zentralbehörden ersetzt.

Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 44 Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Großbritannien › V. Die moderne Konzeption: Vom Wohlfahrtsstaat zum Regulierungsstaat

V. Die moderne Konzeption: Vom Wohlfahrtsstaat zum Regulierungsstaat

1. Die Kontroverse um das Verwaltungsrecht

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„Where shall we now find the ardent believers in the constitution of England?“, fragte Dicey 1905 rhetorisch. „If they exist at all“, fuhr er fort, „they belong in spirit to the past“.[64] Dicey sah die liberale Grundstimmung des 19. Jahrhunderts durch politische Überzeugungen, die den Kollektivismus bevorzugten, an den Rand gedrängt. Dabei handelte es sich allerdings um Überzeugungen des „new liberalism“.[65] Im Gegensatz zum sozialen Atomismus des klassischen Liberalismus ging der new liberalism (auch als Progressivismus oder Sozialdemokratie bekannt) davon aus, dass Menschen an sich soziale Wesen sind und echte Freiheit nicht ohne kollektives Handeln realisiert werden kann.[66] Im Jahre 1915 beklagte Dicey in der letzten Auflage seines klassischen Werkes Introduction to the Study of the Law of the Constitution, dass „the law of England is being ‚officialised‘ […] by statutes passed under the influence of socialistic ideas“[67]. Zudem war das Wachstum des Verwaltungsrechts – oder, wie Dicey den Vorgang bezeichnete, „the invasion of the rule of law by imposing judicial functions upon officials“ – zurückzuführen auf „the whole current of legislative opinion in favour of extending the sphere of the State’s authority“[68].

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Dicey befürchtete, dass die Einführung und Verstetigung von Verwaltungstribunalen (administrative tribunals) zu einem unabhängigen und formalisierten Verwaltungsrechtssystem in England führen werde, insbesondere wenn die Kompetenzen der traditionellen Gerichtsbarkeit beschnitten würden. Dies ist allerdings genau die Forderung einiger „moderner“ Wissenschaftler. Im Jahre 1928 stellte William Alexander Robson die Behauptung auf, dass „no modern student of law or political science has today the slightest doubt that there exists in England a vast body of administrative law“. Die Schwierigkeit war seiner Meinung nach „not to discover it but rather to master its widespread ramifications and reduce it to some kind of order and coherence“[69]. Die von den Modernisierern vorgeschlagene Lösung bestand darin, die bestehenden, eher zufälligen Arrangements in Bezug auf die Tribunale zu rationalisieren und ein vom High Court getrenntes administratives Beschwerdetribunal (Administrative Appeal Tribunal) zur Überwachung der Tribunale einzurichten.[70] Dieser Vorschlag wurde von den Donoughmore-[71] und Franks-Ausschüssen[72] (den zwei wichtigsten offiziellen Untersuchungskommissionen zum Verwaltungsrecht im 20. Jahrhundert), jeweils auf Anregung von Robson, amtlich begutachtet. Beide lehnten seinen Vorschlag ab.

 

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In dem auf den Ersten Weltkrieg folgenden Jahrzehnt, das sich nicht nur dadurch auszeichnete, dass die Regierung an ihren während des Krieges erworbenen umfassenden Verwaltungskompetenzen festhielt, sondern auch durch die Wahl der ersten Labour-Regierung, war das Verwaltungsrecht ein höchst umstrittenes politisches Thema. Die Kontroverse spitzte sich im Jahre 1929 zu, als Lord Gordon Hewart, Lord Chief Justice und oberster Richter der Common-Law-Gerichte, mit seinem Buch The New Despotism die Fortentwicklung des Verwaltungsrechts angriff.[73] Der „neue“ Despotismus bedeutete nach Hewarts Vorstellung – im Gegensatz zu dem alten Despotismus der Forderungen des Hauses Stuart im 17. Jahrhundert[74] –, dass sich die Zentralgewalt (d.h. die Ministerien und ihre Beamten) „above the Sovereignty of Parliament and beyond the jurisdiction of the Courts“ positionierte.[75] Das Buch veranlasste die Regierung, einen Ausschuss einzuberufen, der sich mit der Ministerialgewalt befassen sollte, wobei dessen Zusammensetzung allerdings so gut wie garantierte, dass das Verständnis Diceys und Hewarts keine Gefolgschaft fand.

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Der Bericht des Ausschusses führte zwar dazu, dass einzelne Praktiken der Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen rationalisiert wurden, änderte jedoch ansonsten wenig. Tatsächlich war die Kontroverse im Kern ideologischer Natur: Es ging um den Wohlfahrtsstaat, der ohne delegierte Rechtsetzung nicht zu verwirklichen war. Allerdings ist festzustellen, dass sich im Zuge der grundlegenden Umstrukturierung des Wohlfahrtsstaates, manche würden von einer Demontage sprechen, durch die konservativen Regierungen zwischen 1979 und 1997 der Anteil exekutiver Rechtsetzung nicht nur nicht reduzierte, sondern sogar erhöhte.[76]

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Ähnliches gilt in Bezug auf die administrative Rechtsprechung. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts nahm die Anzahl der Tribunale beträchtlich zu, allerdings ohne dass dabei irgendein Ordnungsprinzip ersichtlich war. In ihrer überkommenen Form wurden die Tribunale vielfach als Ad-hoc-Mechanismen der Streitbeilegung angesehen. Ohne leitende Grundsätze und eine rationale institutionelle Struktur der Kontrolle konnten sie sich nicht zu einem echten System der Verwaltungsrechtsprechung fortentwickeln. Die Tribunale wurden als Beschwerdeinstanzen eingestuft, die eher eine mediative und bloß streitschlichtende als eine echte gerichtliche Funktion ausübten. Obwohl sie jedes Jahr ein Sechsfaches der Menge an Prozessen bewältigten, verglichen mit der allgemeinen Gerichtsbarkeit, konnten sie keine eigenen Rechtsprinzipien von Relevanz ausbilden. Deshalb wurde das Monopol der ordentlichen Gerichte, die allgemeingültigen rechtlichen Maximen zu gestalten, nicht in Frage gestellt. Die Einrichtung verwandter institutioneller Mechanismen, vom schwachen teilzeitbeschäftigten Tribunalrat (Council on Tribunals) bis hin zum „administrativen Palliativum“ in Gestalt des Ombudsmannes verstärkte diesen Eindruck.[77] Die einschneidendsten Reformen des Tribunalsystems, die in gewissem Maße Robsons Forderungen umsetzen, werden erst jetzt allmählich implementiert.[78] Solche Maßnahmen werden heutzutage allerdings lediglich am Maßstab der Effizienz und Effektivität gemessen, und über sie konnte erst eingehend nachgedacht werden, nachdem die ordentlichen Gerichte eine effiziente Kontrollaufsicht entwickelt hatten.[79]

2. Die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates

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In den politischen Auseinandersetzungen galt das Verwaltungsrecht als das von der Exekutive stammende Recht. Danach bestand das Verwaltungsrecht aus den legislativen und judikativen Kompetenzen, die sich die Exekutive angeeignet hatte; entsprechend warfen diese Kompetenzen und damit das Verwaltungsrecht verfassungsrechtliche Probleme hinsichtlich der Parlamentssouveränität und der rule of law auf. Als sich die politische Debatte abschwächte, trat das Verwaltungsrecht als eigenständige Materie in einem sehr viel weiteren begrifflichen Rahmen in Erscheinung. Es wurde schlicht als dasjenige Rechtsgebiet angesehen, welches die öffentliche Verwaltung etabliert, organisiert und reguliert. Demnach handelt es sich um ein überaus weites Gebiet, das Gründung und Zuständigkeiten der öffentlichen Behörden, das Recht des öffentlichen Dienstes und anderer Amtswalter, die Beziehungen zwischen der Zentralregierung und den kommunalen Behörden sowie zwischen den Ministern und den öffentlichen Körperschaften, die Pflichten und die Haftung der öffentlichen Verwaltungen, die gerichtliche Überprüfung von Verwaltungsmaßnahmen, die Organisation der administrativen Tribunale und, nicht zuletzt, die Rechtsetzungskompetenzen der Regierung umfasst.

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Unter Zugrundelegung dieses weiten Verständnisses nahm das Verwaltungsrecht im 20. Jahrhundert erheblich zu, im Wesentlichen im Zuge der Herausbildung des Wohlfahrtsstaates. Wie bereits dargestellt, wurde die im 19. Jahrhundert neugestaltete Kommunalverwaltung in ein wichtiges Instrument der öffentlichen Daseinsvorsorge umgewandelt, was sich nicht zuletzt daran zeigte, dass fast ein Viertel der öffentlichen Ausgaben von der Kommunalverwaltung getätigt wurden. Da dieses Wachstum allerdings durch staatliche Zuweisungen und Zuschüsse finanziert wurde, spielte die Zentralregierung in örtlichen Angelegenheiten weiterhin eine aktive Rolle; das Netzwerk der Beziehungen zwischen der zentralen und der kommunalen Ebene wurde auf diese Weise zu einem bedeutenden Bereich des Verwaltungsrechts.

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Seit den 1930er Jahren wurde die allgemeine Praxis, dass vor Ort allein kommunale Behörden agieren, durch eine Politik der Verstaatlichung ergänzt. Es gab im Wesentlichen drei Gründe, warum bestimmte Leistungen aus dem Zuständigkeitsbereich der Kommunalverwaltung entfernt wurden: (1) die dezentralisierte Verwaltung bestimmter Leistungen war ineffizient und anachronistisch; (2) obwohl die kommunale Anbindung einer bestimmten Aufgabe grundsätzlich möglich war, erwies sich deren Erfüllung wegen der bestehenden kleinräumigen Strukturen in administrativer Hinsicht als unpraktikabel; und (3) es wurde als politisch wünschenswert angesehen, öffentliche Versorgungsbetriebe in Staatseigentum zu überführen. Beispiele, die unter die erste Kategorie fallen, sind die Übertragung der Arbeitslosenhilfe im Jahre 1934 auf eine staatliche Behörde, das Unemployment Assistance Board,[80] und die Übernahme der Verantwortung für das Fernstraßennetzwerk durch das Verkehrsministerium im Jahre 1936.[81] Ein gutes Beispiel, das im Zusammenhang mit den unzulänglich dimensionierten Gebieten der kommunalen Behörden steht und damit der zweiten Kategorie zuzurechnen ist, stellt die Eingliederung des aus den Institutionen des Armenrechts hervorgegangenen örtlichen Krankenhauswesens in das staatliche Gesundheitswesen dar, das im Jahre 1946 eingerichtet wurde.[82] Die Verstaatlichungspolitik als dritte Kategorie schließlich hatte auf die Kommunalverwaltung Auswirkungen hauptsächlich in Form des Verlustes ihrer Strom- und Gasversorgungsbetriebe, der einher ging mit der Schaffung entsprechender staatlicher Strukturen, die durch Regionalbehörden gesteuert werden.[83]

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Obwohl der Verlust dieser Verantwortlichkeiten nicht unweigerlich den Status der Kommunalverwaltung verringerte, hatte er eine beachtliche Umstrukturierung zur Folge. Die kommunalen Behörden büßten vor allem ihre produktionsorientierten Dienstleistungen ein. Vor dem Hintergrund, dass die Reformen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts den Gemeinderäten (local councils) Kompetenzen in Bereichen wie der Bildung und dem Armenrecht gebracht hatten, führte die Neuordnung darüber hinaus zu einer ausgeprägten Ausrichtung der Kommunalverwaltung auf Sozialleistungen. Mit der Etablierung des Wohlfahrtsstaates erlangten zahlreiche Dienste der Kommunalverwaltung, etwa die Vermittlung von Bildung, der Wohnungsbau und die persönlichen sozialen Hilfen, eine herausragende Bedeutung für die Regierung. Infolgedessen setzte sich das Wachstum des auf die Kommunalverwaltung entfallenden Anteils an den öffentlichen Gesamtausgaben trotz des Verlustes bestimmter Aufgaben fort, wobei die Umstrukturierung allerdings die kommunale Abhängigkeit von staatlichen Zuweisungen noch verstärkte.

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Die Grundentscheidungen des wohlfahrtsstaatlichen Programms fielen in den Jahren der ersten Labour-Nachkriegsregierung (1945–1951). In Übereinstimmung mit den Vorschlägen, die der Wirtschaftswissenschaftler William Henry Beveridge in seinem Report to the Parliament on Social Insurance and Allied Services von 1942 unterbreitet hatte, schuf die Regierung nicht nur ein staatliches Gesundheitswesen, sondern auch ein umfassendes System der staatlichen Sozialversicherung. Sie führte eine breit angelegte Sozialfürsorge ein und weitete ihre Maßnahmen in den Bereichen Bildungswesen und sozialer Wohnungsbau aus.[84] Überdies nahm die Regierung eine Verstaatlichung von Schlüsselbranchen in Angriff: Neben den öffentlichen Versorgungsbetrieben verstaatlichte sie die Zentralbank, die zivile Luftfahrt, den Straßengüterverkehr und die Stahlindustrie. Ferner erstellte sie umfangreiche Regulierungsprogramme, die von der Landwirtschaft bis zur Stadt- und Raumplanung reichten. Das Verwaltungsrecht entwickelte sich zu einer sehr umfangreichen und äußerst unhandlichen Materie, welche die grundlegende allgemeine Frage nach dem Rechtsstatus von öffentlichen Körperschaften ebenso erfasste wie beispielsweise die komplexen und spezialisierten Rechtsgebiete betreffend das Wohnungswesen, die Bauplanung oder die Sozialversicherung.

3. Das moderne System gerichtlicher Kontrolle

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Während der Nachkriegszeit leiteten die Gerichte ein bedeutendes Projekt zur Modernisierung des „Verfahrens zur Verhinderung von Machtmissbrauch (procedure for preventing the abuse of power)“[85] ein. Das „Projekt“, das lediglich im Nachhinein als ein solches einzustufen ist, begann zunächst zögerlich, nahm aber ab Mitte der 1960er Jahre Gestalt an. Heute gilt es als eine der bemerkenswertesten justizpolitischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts.

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Zwar handelte es sich bei den Reformen hauptsächlich um prozessuale Veränderungen, jedoch wurden diese von wichtigen Entwicklungen im materiellen Recht begleitet. Die Bewegung setzte mit der Verabschiedung des Crown Proceedings Act von 1947 ein, der es dem Einzelnen ermöglichte, vor den Gerichten gegen die Krone zu klagen. Entsprechende Gerichtsverfahren konnten allerdings nach wie vor verhindert werden, sobald für deren Durchführung der Zugang zu Dokumenten erforderlich war, die sich im Besitz der Krone befanden. Von Bedeutung war daher die Einschränkung dieser Privilegien der Krone, die das House of Lords im Jahre 1968 vornahm, indem es die alte Regel aufhob, wonach es dem Richter nicht gestattet war, einen ministeriellen Beschluss zu überprüfen, der die Freigabe von Dokumenten an den Kläger als einen Verstoß gegen das öffentliche Interesse wertete.[86]

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Im spezifisch verwaltungsrechtlichen Kontext bestand der erste prozessuale Entwicklungsschritt darin, dass die Erklärung (declaration), die ein Feststellungsbegehren darstellt, als ein Rechtsbehelf gegen Entscheidungen öffentlicher Behörden ausgestaltet wurde. Dies führte zu einer Verbesserung hinsichtlich gewisser technischer Einschränkungen, die mit den Anordnungen unter der königlichen Prärogative (prerogative writs) verbunden waren (etwa die generelle Nichtoffenlegung relevanter Dokumente und das generelle Fehlen des Kreuzverhörs). Außerdem wurden Verzögerungen beim Divisional Court, der eine spezielle Abteilung der Queen’s Bench Division des High Court und traditionell mit Prerogative-writ-Anträgen, d.h. mit der gerichtlichen Kontrolle der Verwaltung, befasst ist, umgangen,[87] und die Gerichte wurden in die Lage versetzt, einer Beschwer präziser und angemessener abzuhelfen, als dies im Rahmen der prärogativen Anordnungen möglich war.[88] Zu einem noch grundlegenderen Wandel kam es im Jahre 1977, als die prärogativen Verfahren durch den einheitlichen Rechtsbehelf für öffentlich-rechtliche Rechtsstreitigkeiten (application for judicial review) ersetzt wurden.[89]

 

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Unter den Entwicklungen im materiellen Recht, die diese prozessualen Neuerungen begleiteten, sind zu nennen: erstens das Wiederaufleben der gerichtlichen Kompetenz, Fälle auf der Grundlage der Akten auf offensichtliche Rechtsfehler hin zu überprüfen, was es den Gerichten ermöglichte, Fehler, welche die Verwaltungstribunale innerhalb ihrer Zuständigkeit gemacht hatten, aufzudecken und zu sanktionieren;[90] zweitens die beachtliche Ausweitung des Anwendungsbereichs des gewährleisteten Rechtsschutzes seit Ridge v. Baldwin im Jahre 1963, wonach nicht nur administrative, sondern auch judizielle und quasi-judizielle Entscheidungen, welche die Interessen und Rechte des Einzelnen tangieren und von Institutionen getroffen werden, die öffentlich-rechtliche Befugnisse wahrnehmen, den Prinzipien der natural justice genügen müssen und daher zur Überprüfung gestellt werden können;[91] drittens die Entstehung eines flexiblen Konzepts der Verfahrensgerechtigkeit (procedural fairness); viertens die Möglichkeit seit Anisminic v. Foreign Compensation Commission im Jahre 1968, jeden Rechtsfehler als zuständigkeitsrelevant zu qualifizieren, wodurch die Unterscheidung zwischen Fehlern innerhalb der Zuständigkeit und solchen, welche die Zuständigkeit an sich betreffen, potenziell aufgehoben wurde;[92] fünftens die Abkehr von der Vorstellung, dass eine subjektiv formulierte Befugnis zur Ermessensausübung den Ministern eine uneingeschränkte Entscheidungsfreiheit gewährt,[93] sowie sechstens die Erkenntnis, dass prärogative, also originäre Kompetenzen grundsätzlich anhand derselben Prinzipien überprüfbar sind wie gesetzliche Kompetenzen.[94]

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Schließlich ist es dem House of Lords im Jahre 1982 in O’Reilly v. Mackman[95] gelungen, Inhalt und Verfahren zusammenzuführen. Die application for judicial review wurde als ausschließlicher Rechtsbehelf in öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten aufgefasst, was eine konzeptionelle Unterscheidung zwischen öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Angelegenheiten erforderlich machte. In diesem Stadium meinte Lord William John Kenneth Diplock den Erfolg des Modernisierungsprojekts kundgeben zu können. Er erklärte: „[T]he progress towards a comprehensive system of administrative law [...] I regard as having been the greatest achievement of the English courts in my judicial lifetime“.[96] Die Errungenschaft, die Lord Diplock ausmachte, bestand allerdings im Wesentlichen in der Hegung des Verwaltungsrechts durch die Mittel des Common Law. Wenn schon die Zunahme an Verwaltungsbefugnissen nicht verhindert werden konnte, dann sollten diese zumindest in das allgemeine Recht des Landes integriert werden, damit sichergestellt ist, dass sie sich im Einklang mit dem Common Law fortentwickeln.

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Einer der umstrittensten Aspekte des gesamten Modernisierungsprogramms war die Etablierung einer Unterscheidung zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht. Sir William Wade, der zunächst in Oxford und später in Cambridge Verwaltungsrecht lehrte, war ihr schärfster Kritiker. Er bezeichnete die Unterscheidung als „a serious setback“ und argumentierte, dass „declaiming a rigid dichotomy […] without explaining how the line was to be drawn the House of Lords created a host of new problems for litigants“[97]. Diese Sichtweise blieb nicht unwidersprochen. Lord Harry Kenneth Woolf etwa bewertete die Behauptung Wades, dass das öffentlich-rechtliche Sonderverfahren dazu führen werde, dass viele an sich begründete Fälle an der Zulässigkeitshürde scheitern, als übertrieben.[98] Diese Bewertung hat sich im Laufe der Jahre als zutreffend erwiesen, nicht zuletzt wegen des pragmatischen Entgegenkommens und der aus den Justizreformen der 1990er Jahre resultierenden prozessleitenden Verantwortung der Richterschaft.[99] Im Ergebnis haben nahezu alle materiell-rechtlichen Entwicklungen dazu gedient, die Kontrollmacht der Judikative zu stärken. Es ließen sich aus der Verlagerung des Fokus von der natural justice zur procedural fairness, von dem Gedanken des Rechtsschutzes durch Verfahren zur Verfahrensgerechtigkeit,[100] aus der Ausweitung der gerichtlichen Kontrolle[101] oder aus der Art und Weise, auf welche die Gerichte dazu kamen, die Unangemessenheit und Irrationalität beanstandeter Maßnahmen zu prüfen, gleichwohl kaum klare Prinzipien ableiten.[102] Sterile kompetenzielle Fragen wurden durch pragmatische Entscheidungen vermieden.

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Die Reformen des Prozessrechts Ende der 1970er Jahre stellten einen Rahmen zur Verfügung, innerhalb dessen der Zunahme richterlicher Überprüfung Rechnung getragen werden konnte. Im Zuge dieser Reformen wurde im Jahre 2000 der Divisional Court der Queen’s Bench Division des High Court in den Administrative Court mit speziell ernannten High-Court-Richtern umgewandelt, wodurch ein besonderes, gleichwohl weiterhin als Teil des High Court institutionalisiertes Gericht für die Beurteilung sämtlicher öffentlich-rechtlicher Klagen und generell für die Wahrnehmung der richterlichen Aufsicht über alle Aspekte der Verwaltung ins Leben gerufen wurde. Diese Veränderungen führten in den letzten 25 Jahren zu einer erheblichen Steigerung der Arbeitsbelastung des High Court. Abschließend lässt sich festhalten, dass es dem Modernisierungsprojekt zu verdanken ist, dass das Verwaltungsrecht sowohl im engeren, als auch im weiteren Sinne einer echten Kontrolle der Common-Law-Gerichte unterworfen wurde.