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III. Der Ursprung des Verwaltungsstaates

1. Der Einfluss der Industrialisierung

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Während des 18. Jahrhunderts überließen sowohl die Krone als auch das Parlament Angelegenheiten der inneren Verwaltung den kommunalen Behörden; nur wenige Verwaltungsbereiche gingen über deren Kompetenzen hinaus, und es gab kaum Beschränkungen hinsichtlich der Art und Weise ihrer Ausführung.[24] Die Verwaltungsarrangements waren zumeist zufälliger Natur und bildeten ein komplexes Mosaik parochialer, gutsherrlicher, gemeindlicher und grafschaftlicher Institutionen; es handelte sich um ein Durcheinander von lokalen Bräuchen, Common Law, königlichen Verordnungen und Parlamentsgesetzen, das untrennbar mit den örtlichen Bedürfnissen und Umständen verwoben war.[25] Ein System war dahinter gewiss nicht zu erkennen. Deshalb war es kaum überraschend, dass diese Strukturen des 18. Jahrhunderts besonders schlecht dafür gerüstet waren, den Herausforderungen zu begegnen, die sich aus den wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen der industriellen Revolution ergaben. Die Industrialisierung war der Schmelztiegel, aus dem die moderne Verwaltungspraxis hervorging.

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Die beginnende industrielle Revolution hatte auf die städtischen Gebiete besonders gravierende Auswirkungen. Infolge des zunehmenden Handels, des Bevölkerungswachstums und des schnellen Wandels von ländlichen Kommunen in urbane Zentren lösten sich die sozialen Strukturen auf, die das traditionelle Verwaltungsgefüge stützten. Die Folgen der Urbanisierung erschwerten das Regieren in denjenigen Gebieten am meisten, in denen die kommunalen Verwaltungsstrukturen am unzulänglichsten ausgestaltet waren. Mit Blick auf die Situation in Manchester schrieb Alexis de Tocqueville im Jahre 1835, „everything in the exterior appearance of the city attests the individual powers of man; nothing the directing powers of society“.[26]

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Die Veränderung der physischen Umgebung in den wachsenden urbanen Zentren führte zu erheblichen Problemen, was Wohnraum, Abfall- und Abwasserbeseitigung, Kriminalität und Umweltverschmutzung anbelangte. Für die Lösung dieser Probleme waren die traditionellen Arrangements gänzlich unzureichend; sie mussten durch neue ersetzt werden. Daher wurden nach Maßgabe örtlicher Vorschriften zunächst spezielle Institutionen geschaffen, etwa Abwasserkommissionen, Kommissionen zur Verbesserung der Lebensbedingungen und Mautbehörden, um die Regierungsaufgaben im Industriezeitalter anzugehen. Zwar repräsentierten die alten lokalen Einrichtungen zu jener Zeit formal weiterhin die Kommunen, aber es lag nahe, zur Übernahme der Versorgungsaufgaben, die der nationalen Regierungsgewalt zukamen, besondere Verwaltungsbehörden auch vor Ort einzurichten. Da diese von der Zentralregierung abhängig blieben, konnte ein Verwaltungsrechtsregime entstehen.

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Als dieses Regime Gestalt annahm, wurde die Lage allerdings noch komplizierter. So begannen in den Gemeinden und Städten die Industriellen und die Kaufleute, die von der traditionellen Kommunalregierung weitgehend ausgeschlossen waren, mit dem Leitspruch „equal privileges for all of equal station“ auf ihrem Banner die Reform dieser Institutionen zu fordern. Im Zuge entsprechender Reformen bekamen die kommunalen Institutionen wieder eine wichtige Rolle im Bereich der öffentlichen Dienstleistungen. Es entstand eine dauerhafte Spannung zwischen den alten, prinzipiell allzuständigen Institutionen und zentralstaatlich eingesetzten neuen, auf einen einzigen Zweck ausgerichtenen Behörden, zwischen lokaler Autonomie sowie (zentral gesteuerter) Uniformität und Effizienz.

2. Die Philosophie der Verwaltungsreform

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War die Industrialisierung die treibende Kraft der Verwaltungsreform, so war deren philosophische Untermauerung Jeremy Benthams Utilitarismus.[27] Der Jurist, Philosoph und Sozialreformer Bentham hatte es unternommen, auf der Grundlage der unveränderlichen Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Natur eine Wissenschaft der Politik zu konstruieren. Im Mittelpunkt stand das Utilitätsprinzip mit der Maxime, das größte Glück einer größtmöglichen Anzahl von Menschen zu verwirklichen. Sie sollte ausgehend von individualistischem Eigeninteresse öffentliches Handeln ausrichten.[28] Der Nutzen war der Maßstab, anhand dessen alle rechtlichen Vorschriften und Institutionen bewertet werden sollten. Die Konsequenzen waren radikal: Jede Forderung, örtliche Bräuche und lokales Common Law zu bewahren, weil sie traditionelle, von unseren Vorfahren überlieferte Weisheiten verkörperten, wurde als schlichter Aberglaube zurückgewiesen. Benthams Philosophie war zudem ein Feldzug gegen den Einfluss des aristokratischen Prinzips im Regierungswesen.

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Mit dieser Philosophie gewappnet entwarf Bentham eine Reihe von Plänen für eine Reform der gesellschaftlichen Verhältnisse, zu deren Umsetzung die meisten einer grundlegenden Verwaltungsreform bedurft hätten. Die Reformvorschläge, die sich auf solche Bereiche wie Schulen, Gefängnisse und Kommunalverwaltung sowie auf die Umgestaltung des Armenrechts und der Sozialhilfe bezogen, folgten einem gemeinsamen Organisationsmuster.

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Bentham stützte seine Verwaltungsreformen auf die Grundsätze der Hierarchie und der Zentralisierung sowie auf die Einführung eines Systems von Belohnungen und Bestrafungen, das einen effektiven und verantwortungsvollen öffentlichen Dienst gewährleisten sollte.[29] Er meinte, die öffentliche Verwaltung sei wirtschaftlichen Prinzipien zu unterwerfen. Beispielsweise sollten Bieterwettbewerbe hinsichtlich der Durchführung öffentlicher Bauvorhaben oder der Leitung von Gefängnissen ausgeschrieben und danach die Auftragnehmer einer Kontrollaufsicht unterworfen werden, welche die ordnungsgemäße Arbeit sicherstellte. Die Philosophie Benthams war äußerst zentralistisch. Der französische Philosoph und Historiker Élie Halévy merkte in diesem Zusammenhang an: „The State, as conceived by Bentham, is a machine so well constructed that every individual, taken individually, cannot for one instant escape from the control of all the individuals taken collectively.“[30] Da es notwendig war‚ das größte Glück einer größtmöglichen Anzahl von Menschen zu gewährleisten, konnten kommunale Behörden über keine autonomen Befugnisse verfügen. Es gab bei Bentham keinen Bereich der öffentlichen Verwaltung, in den sich die Zentralregierung nicht einmischen konnte.

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Benthams Reformvorschläge waren ausnahmslos zentralisierend und rationalisierend. Sie zielten auf klare administrative Verantwortlichkeiten unter der Aufsicht der zentralen Regierungsbehörden. Die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen sollte auf einer eindeutigen gesetzlichen Grundlage erfolgen. In der Konsequenz dieses Ansatzes sollte nicht nur ein einheitlicher Rahmen für die Verwaltung geschaffen werden, sondern es sollte auch zu der Ersetzung einer primär gerichtlichen Kontrolle durch eine solche der Zentralbehörden kommen. Auf diese Weise sollte sich ein englisches Verwaltungsrecht abzeichnen.

Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 44 Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Großbritannien › IV. Die Reform der Kommunalverwaltung und die Entwicklung des Verwaltungsrechts

IV. Die Reform der Kommunalverwaltung und die Entwicklung des Verwaltungsrechts

1. Die Modernisierung der Kommunalverwaltung

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Der Reform Act von 1832 bildet einen Meilenstein in der Modernisierung des englischen Regierungssystems. Da das Gesetz das Wahlrecht lediglich auf etwa fünf Prozent der Bevölkerung ausdehnte, lässt es sich kaum als eine demokratische Maßnahme qualifizieren. Aber gerade als eine Kompromisslösung, die nicht auf Prinzipien baute, leitete es einen Übergang ein und ebnete den Weg für eine sukzessive Demokratisierung des Parlaments. Das reformierte Parlament wandte seine Aufmerksamkeit unverzüglich dem veralteten Gefüge der Kommunalregierung zu, das sich durch den Druck des sozialen und wirtschaftlichen Wandels in einem kritischen Zustand befand. Nachdem im Jahre 1833 eine königliche Kommission eingesetzt worden war, welche die Situation der bestehenden kommunalen Körperschaften untersuchen sollte, folgte alsbald eine Reform. Der Municipal Corporations Act von 1835 stellte die kommunalen Körperschaften als Regierungsinstitutionen wieder her, indem er die Funktionen des Justizwesens von denen der Verwaltung trennte und die Körperschaften als von den örtlichen Grundsteuerpflichtigen gewählte Repräsentantenräte ausgestaltete. Das Gesetz läutete die moderne Ära der Kommunalverwaltung ein.[31]

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Die Bedeutung des Municipal Corporations Act von 1835 erklärt sich aus zwei grundlegenden Charakteristika. Erstens beinhaltete das Gesetz eine Maßnahme von durchschlagender Schlichtheit: Es etablierte einen einheitlichen juristischen Begriff der kommunalen Körperschaft und damit einen einheitlichen Status.[32] Zweitens verpflichtete das Gesetz den Gemeinderat zur „good rule and government of the Borough“. Damit kehrte es die Tendenz um, Spezialbehörden mit Verwaltungsaufgaben zu betrauen. Das Gesetz erneuerte den Grundsatz, dass eine allgemeine Behörde die Verantwortung für den administrativen Bedarf der Kommune übernehmen sollte.

 

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Dieser Kommunalisierungsprozess wurde während des 19. Jahrhunderts sukzessiv ausgeweitet.[33] Der Local Government Act von 1888 sah zur Ausübung der Regierungsaufgaben, die bisher Richtern in vierteljährlichen Gerichtssitzungen, den Quarter Sessions, anvertraut waren, gewählte Grafschaftsräte (county councils) vor. Diese Räte wurden als Körperschaften eingerichtet; sie verfügten über eine Verfassung, und das Wahlrecht für die Bestimmung ihrer Mitglieder war annähernd mit demjenigen der sonstigen kommunalen Körperschaften identisch. Der Local Government Act von 1894 gab das historische System der Pfarrbezirksversammlungen (parish government by vestries) auf und schuf stattdessen ein Modell städtischer und ländlicher Bezirksräte (urban bzw. rural district councils). Infolge dieses Prozesses wurde es im 20. Jahrhundert möglich, die Normen, welche die verschiedenen örtlichen Einrichtungen betreffen, zu vereinheitlichen und gesetzlich niederzulegen.[34] Auch wenn die Sozialwissenschaftler Sidney und Beatrice Webb in den Grundzügen des Gesetzes von 1835 „the pure milk of Benthamism“[35] ausfindig machten, waren die Strukturen des 19. Jahrhunderts nach wie vor recht kompliziert und blieben bis zu den Kommunalreformen der 1970er Jahre mehr oder weniger unverändert.[36]

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Der Einfluss Benthams auf die Reform der Kommunalverwaltung wird offensichtlicher, wenn der Fokus von den Strukturen auf die Funktionen verlagert wird. Aus dieser Perspektive betrachtet war der entscheidende Moment, der die neue Ära einläutete, nicht das Gesetz von 1835, sondern der Poor Law Amendment Act, der bereits im Jahre 1834 in Kraft getreten war. In den 1830er Jahren wurden die finanziellen Lasten der Armenfürsorge, der sich die 15 000 Kirchengemeinden annahmen und die „affected everybody, pleased few, and was understood by nobody“[37], immer schwerer. Eine königliche Kommission wurde eingerichtet, in der zahlreiche Schüler Benthams vertreten waren. Der von dieser Kommission erstellte Bericht mündete in das Gesetz von 1834, das einen klaren Bruch mit den Traditionen der kommunalen Selbstverwaltung markierte.

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Die Verwaltungsarrangements, die mit der Armenrechtsreform realisiert wurden, fielen radikal aus. Statt innerhalb der hergebrachten Grenzen der örtlichen Verwaltung zu operieren, wurde die Verwaltungslandschaft neu gestaltet und es wurden neuartige Institutionen kreiert. Statt den Kommunen Gestaltungsermessen einzuräumen, wurde ein relativ einheitliches System örtlicher Verwaltung errichtet. Um die Ziele dieses nationalen Systems zu verwirklichen, schuf das Gesetz eine Zentralbehörde mit umfassenden Befugnissen, Vorschriften und Weisungen zu erlassen, welche die Vertreter der Kommunen befolgen mussten. Die Einrichtung einer zentralen Verwaltungsaufsicht über die örtliche Verwaltung der Armenfürsorge bildet einen ersten Schritt in Richtung eines Verwaltungsrechts.

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Die Spannungen zwischen den Grundprinzipien der Gesetze von 1834 und 1835 machen es möglich, die Logik des Reformprozesses zu identifizieren. Die Kommunalisierung stützte sich hauptsächlich auf das Selbstverwaltungsprinzip. Allerdings stand kein effektives Verfahren zur Verfügung, um einen Rat (council) dazu zu bringen, seine Befugnisse in bestimmter Weise auszuüben. Selbst für die Erzwingung gesetzlich gebotener Maßnahmen bedurfte es einer gerichtlichen Entscheidung. Zudem verfügten die Räte nur über schmale Befugnisse, erweiterbar allein durch Parlamentsgesetz. Ursprünglich kam es zu Befugniserweiterungen im Wesentlichen durch kommunale Initiative auf Erlass von private Bills.[38] Als dies nicht mehr reichte, erfolgte eine ermächtigende Rahmengesetzgebung, d.h. eine öffentliche allgemeine Gesetzgebung, die es den kommunalen Behörden allerdings freistellte, die verliehenen Befugnisse auszuüben.[39] Schließlich wurde dann von einem Typus öffentlicher allgemeiner Gesetzgebung Gebrauch gemacht, der die Behörden mitunter sogar verpflichtete, bestimmte Aufgaben wahrzunehmen.[40] Aufgrund dieser Entwicklung gewannen die Prinzipien des Armenverwaltungsrechts – insbesondere diejenigen betreffend die zentrale Verwaltungsaufsicht – mehr und mehr an Bedeutung.[41]

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Die den Reformen der 1830er Jahre innewohnende Spannung zwischen Selbstverwaltung und Zentralisierung prägte den gesamten Prozess der Erneuerung und Umgestaltung der Kommunalverwaltung im 19. Jahrhundert. Dem ersten Anschein nach diente die Wiederherstellung der Kommunalverwaltung allein dem Zweck, das Selbstverwaltungsprinzip zu stärken. Tatsächlich aber fand die Reform ebenso ihren Anstoß in der Notwendigkeit, den Herausforderungen zu begegnen, die sich dem öffentlichen Bewusstsein als Folge des demographischen, sozialen und wirtschaftlichen Wandels aufdrängten. Die Armenrechtsreformen waren die Vorboten der Zentralisierung und ein Modell, das insbesondere im Gesundheitswesen nach 1840 und im Bildungswesen nach 1870 Nachahmung fand. Allgemein kann festgestellt werden, dass sich die Kernprobleme des Systems kommunaler Verwaltung aus der Spannung zwischen Effizienz und Autonomie ergaben und daher Effizienzbestrebungen die Kommunalverwaltungsreformen des 19. Jahrhunderts motivierten. Das bewirkte eine enge Verbindung zwischen der Kommunalverwaltung und der Zentralregierung.

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Die Situation verschärfte sich im 20. Jahrhundert. Zunächst wurde das Kommunalverwaltungsrecht durch den Local Government Act von 1933 konsolidiert, der erstmalig allgemeine Organisationsvorschriften einführte, die für sämtliche kommunalen Behörden galten. Das Gesetz markierte zudem die Kulmination des in dem Gesetz von 1835 niedergelegten Prinzips, wonach der Gemeinderat die Verantwortung für alle auf der örtlichen Ebene angebotenen kommunalen Dienstleistungen übernehmen sollte. Nach den Strukturreformen im späten 19. Jahrhundert wurde die Verwirklichung dieses Prinzips weiter vorangetrieben, vor allem dadurch, dass die Schulbehörden im Jahre 1902 von den Gemeinderäten (local councils) übernommen wurden und die Armenrechtsverwaltung im Jahre 1929 in das Kommunalverwaltungssystem integriert wurde. Diese Maßnahmen stellten sicher, dass den kommunalen Behörden für die öffentliche Daseinsvorsorge eine große Bedeutung zukam, was sich nicht zuletzt in der Tatsache widerspiegelt, dass der Anteil der Ausgaben für die Kommunalverwaltung eine Steigerung von 4,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Jahre 1890 auf 18,4 Prozent im Jahre 1975 zu verzeichnen hatte.[42] Allerdings wurden diese Ausgaben fast ausschließlich durch Zuweisungen und Zuschüsse der Zentralregierung an die Kommunalbehörden ermöglicht. Dies führte dazu, dass die Zentralbehörden im 20. Jahrhundert auch im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge eine wichtige Rolle spielten, da sie die Aufsicht über deren Wahrnehmung auf örtlicher Ebene ausübten.

2. Die Entstehung des Verwaltungsrechts

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Während des 18. Jahrhunderts agierten die kommunalen Institutionen unabhängig von der Zentralregierung. Die Friedensrichter „enjoyed, in their regulations, an almost complete and unshackled autonomy“, und die kommunalen Körperschaften „regarded their corporate property […] as well as their exemptions and privileges as outside any jurisdiction other than their own“.[43] Die örtlichen Verwaltungen leiteten ihre Befugnisse direkt aus dem geltenden Recht ab und konnten nur durch die Gerichte kontrolliert werden. Es gab keine wirksame Aufsicht seitens der Zentralregierung. Im Jahre 1815 wurde der Innenminister von zwei Staatssekretären und 18 Regierungsangestellten unterstützt:[44] Ein Stab von lediglich zwanzig Mitarbeitern erlaubte dem Innenministerium einfach nicht, eine wirksame Aufsicht über die Kommunalverwaltung auszuüben. Infolge der Reformen des 19. Jahrhunderts begann die Zentralregierung jedoch, die Gerichte als primäre Institution der Aufsicht zu ersetzen.

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Die unter dem Gesetz von 1834 errichtete Armenrechtskommission (Poor Law Commission) war die erste staatliche Zentralbehörde, um die Kommunalverwaltung zu steuern und zu beaufsichtigten. Im Jahre 1871 wurde diese Kommission mit der Gesundheitsabteilung des Privy Council und dem Kommunaldezernat des Innenministeriums zu der Kommunalverwaltungsbehörde (Local Government Board) zusammengefasst. Aus dieser Behörde ging infolge einer funktionalen Reorganisation im Jahre 1919 das Gesundheitsministerium hervor. Zusammen mit dem Innenministerium, das die Verantwortung für die Polizei behielt, und dem Bildungsministerium, das im Jahre 1899 aus zwei Kommissionen des Privy Council geschaffen worden war, bildete sie die Trias der wichtigsten Zentralbehörden, die allgemeine Aufsichtsbefugnisse über innerstaatliche Verwaltungsbelange erlangt hatten.

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Die Gesetze gestalteten die Verwaltungsbeziehungen zwischen der Zentralgewalt und den kommunalen Behörden nicht schlicht im Sinne eines Verhältnisses der Über- und Unterordnung. Die kommunalen Behörden wurden zwar durch ein vielmaschiges Verwaltungsgeflecht an das Local Government Board gebunden, die zentrale Behörde besaß aber keine allgemeine Befugnis, bindende administrative Anordnungen zu erlassen. Sie zeichnete sich weniger durch eine starke dirigistische Führung von Seiten des Zentrums, denn durch ihren Pragmatismus und ihre konservative Grundhaltung aus.[45] Das Mosaik aus Kontrollelementen respektierte, insbesondere angesichts der Art und Weise, wie von diesen in der Praxis Gebrauch gemacht wurde, die Eigenständigkeit der kommunalen Behörden.

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Gleichwohl übernahmen die Zentralbehörden während dieser Zeit sowohl vom Parlament als auch von den Gerichten einige wichtige Kompetenzen. Die Kommunalverwaltungsbehörde erwarb insbesondere gewisse Befugnisse aus dem Bereich der Private-Bill-Gesetzgebung, die traditionell allein durch das Parlament ausgeübt wurde.[46] Dies stellte eine Rationalisierung der zentralen Aufgabenwahrnehmung dar, kennzeichnete aber auch eine Machtverlagerung von der Legislative zur Exekutive.[47] Als ein Beispiel für die Übernahme einer rechtsschützenden Funktion lässt sich anführen, dass der Behörde die Befugnisse einer Appellationsinstanz zukamen in Fällen, in denen Mitglieder der kommunalen Räte durch die Entscheidung der Rechnungsprüfung, ihnen wegen rechtswidrigen Handelns eine Geldstrafe aufzuerlegen oder bestimmte Aufwendungen nicht zu ersetzen, beschwert waren. Diese Befugnisse schlossen die Möglichkeit ein, die Strafe zu erlassen, falls dies als „fair and equitable“ angesehen wurde.[48] Die Aufsichtsmethoden schienen demnach nicht so sehr auf die Etablierung einer zentralen Steuerung, sondern vielmehr auf den Aufbau eines Verwaltungsrechtssystems hinzuweisen.

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Mit diesen Aufsichtsbefugnissen wurden die Anträge auf Erweiterung der kommunalen Befugnisse zusehends durch die Zentralbehörden kanalisiert, und die kommunalen Behörden begannen, ihren direkten Zugang zum Parlament zu verlieren. In gewisser Weise wurde das Parlament erstmalig zu einem echten, primär mit dem Erlass allgemeiner Rechtssätze befassten Legislativorgan, indem es die Verwaltungsfragen den Ministerien überließ. Mit der Zeit nahmen dann die ministeriellen Befugnisse beträchtliche Ausmaße an und umfassten die Möglichkeit, Vorschriften, Richtlinien und Weisungen zu erlassen, Satzungen, Pläne und Projekte der kommunalen Behörden zu genehmigen, über Beschwerden gegen Entscheidungen kommunaler Behörden zu befinden, bei Handlungsverzug kommunaler Behörden zu intervenieren sowie Kontrollen gegenüber kommunalen Beamten durchzuführen. Neben der allgemeinen Verwaltungsaufsicht bestanden zudem eine Reihe finanzieller Befugnisse, die sich auf die Zahlung von Beihilfen bezogen, und die Befugnis, kommunale Anleihen zu kontrollieren.

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Zur charakteristischen Vorgehensweise bei der Wahrnehmung dieser zentralen Aufsicht entwickelte sich die Inspektion. Sie kam beispielsweise bei der Aufsicht des Innenministers über die Polizei zum Einsatz. Jede Polizeibehörde musste nunmehr einen jährlichen Bericht für die Inspektoren anfertigen, die ihrerseits verpflichtet waren, „to visit and inquire into the state and the efficiency of the police for every county and borough“ und „to report generally on such matters“[49]. Die Inspektion, eine von Bentham erfundene und propagierte Methode, erstarkte nicht nur im Bereich der Polizei zur Grundlage der zentralen Aufsicht, sondern kam auch in der Armenfürsorge, im öffentlichen Gesundheitswesen, im Bildungswesen sowie – über die Rechnungsprüfung – im kommunalen Haushalts- und Kassenwesen zur Anwendung. Die Inspektion, so bemerkten Josef Redlich und Francis Wrigley Hirst in ihrem Werk über die englische Kommunalverwaltung, ist eine typisch englische Erfindung, denn „it is designed to obtain the advantages of efficiency without the incubus of bureaucracy“[50].

 

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In der Praxis wurde von den zentralen Aufsichtsbefugnissen aus strategischen Gründen lediglich Gebrauch gemacht, um einen elementaren Mindeststandard an Daseinsvorsorge durchzusetzen oder die Interessen des Zentrums bezüglich der Wirtschaftssteuerung zu verfolgen. Es scheint, als wären die Befugnisse hauptsächlich zu dem quasi-judiziellen Zweck geschaffen worden, eine angemessene Behandlung der verschiedenen örtlichen Interessen zu gewährleisten, die von der Ausübung der den kommunalen Behörden eingeräumten Kompetenzen betroffen wurden. Streitigkeiten sollten in administrativen Verfahren gemäß den Standards, die sich in der Praxis herausgebildet hatten, beigelegt werden. In dem Umfang, in dem die Zuständigkeit der Gerichte zurückgedrängt wurde, entstand ein relativ geschlossenes System des Verwaltungsrechts. Das System der zentralen Kontrollen, das in Erscheinung trat, sollte daher nicht verkürzt nur als ein System zur Steuerung der öffentlichen Daseinsvorsorge verstanden werden, sondern vielmehr als eine sich entwickelnde Verwaltungsrechtsordnung.