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Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 44 Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Großbritannien

Martin Loughlin

§ 44 Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Großbritannien

I.Einleitung1, 2

II.Verfassungsgeschichte und Verwaltungspraxis3 – 20

1.Der Mythos von der alten Verfassung3 – 5

2.Die Tradition des Common Law6 – 9

3.Verwaltung und Parlament10 – 12

4.Verwaltung und Gerichtsbarkeit13, 14

5.Verfassungsrechte und Verwaltungspflichten15 – 20

III.Der Ursprung des Verwaltungsstaates21 – 28

1.Der Einfluss der Industrialisierung21 – 24

2.Die Philosophie der Verwaltungsreform25 – 28

IV.Die Reform der Kommunalverwaltung und die Entwicklung des Verwaltungsrechts29 – 49

1.Die Modernisierung der Kommunalverwaltung29 – 36

2.Die Entstehung des Verwaltungsrechts37 – 43

3.Die gerichtliche Kontrolle des Verwaltungshandelns44 – 49

V.Die moderne Konzeption: Vom Wohlfahrtsstaat zum Regulierungsstaat50 – 74

1.Die Kontroverse um das Verwaltungsrecht50 – 54

2.Die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates55 – 59

3.Das moderne System gerichtlicher Kontrolle60 – 66

4.Die Genese des Regulierungsstaates67 – 74

VI.Fazit: Der Stand des Verwaltungsrechts75

Bibliographie

Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 44 Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Großbritannien › I. Einleitung

I. Einleitung

Der Beitrag wurde aus dem Englischen übersetzt von Franziska Sucker, Marc Jacob und Dr. Diana Zacharias.

1

Die Erfahrung Großbritanniens in Bezug auf die Themen Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht unterscheidet sich von derjenigen der meisten kontinentalen Rechtsordnungen. Ein klares Staatskonzept haben die Briten nie entwickelt, zumindest nicht im juristischen Sinne. „We cannot get on without the State, or the Nation, or the Commonwealth, or the Public“, stellte der britische Jurist und Rechtshistoriker Frederic William Maitland Ende des 19. Jahrhunderts fest, aber das, so behauptete er, „is what we are proposing to do“.[1] Dieser Situation wurde seitdem nicht abgeholfen.[2] Ebenso wenig gab es aufgrund unserer Verfassungstradition zu irgendeiner Zeit einen hierarchischen und einheitlichen Begriff der Verwaltung. Selbst das Konzept des Verwaltungsrechts ist ein schwieriges Kapitel in der britischen Tradition. Die ursprüngliche Sichtweise wurde von Albert Venn Dicey, dem tonangebenden viktorianischen Verfassungsrechtler, in seiner Bemerkung gegenüber Henry Berthélemy von der Universität Paris folgendermaßen zusammengefasst: „[I]n England we know nothing of administrative law, and wish to know nothing about it.“[3] Obwohl sich diese Einstellung im Laufe des 20. Jahrhunderts geändert hat – es könnte auch kaum anders sein, angesichts der Herausbildung eines umfassenden Verwaltungsstaates –, tragen moderne Regierungsstrukturen nach wie vor Züge, die auf das Vermächtnis seiner Denkweise hinweisen.

2

Aus guten Gründen wurde England[4] oft als eine „stateless society“ bezeichnet, als eine Gesellschaft, der eine Staatstradition fehlt.[5] Um nachzuvollziehen, wie im britischen Regierungssystem die Begriffe „Staat“, „Verwaltung“ und „Verwaltungsrecht“ verstanden werden, ist es notwendig, die insoweit einschlägige Verfassungsgeschichte ein wenig zu beleuchten. Bevor die Genese der Ideen von Staat und Verwaltung, die moderne Entwicklung des Verwaltungsrechts sowie die Muster der verwaltungsrechtlichen Ausgestaltung der britischen Staatsgewalt im 20. Jahrhundert skizziert werden, muss geklärt werden, auf welche Weise Verfassungsentwicklungen die Ansichten über die administrative Herrschaftsausübung bestimmt haben.

Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 44 Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Großbritannien › II. Verfassungsgeschichte und Verwaltungspraxis

II. Verfassungsgeschichte und Verwaltungspraxis

1. Der Mythos von der alten Verfassung

3

Die Gründe, weshalb sich die Konzepte von Staat und Verwaltungsrecht nie im britischen System etablieren konnten, sind tief in der englischen Verfassungsgeschichte vergraben. Ein Schlüssel zu ihrem Verständnis ist die Bedeutung, die der institutionellen Kontinuität zuerkannt wird. Die Tatsache, dass die Konturen unserer Hauptregierungsinstitutionen bis in die dunkelste und entfernteste Vergangenheit zurückverfolgt werden können, führte zu der Eigentümlichkeit der englischen Verfassungsgeschichte, die sich in dem augenscheinlichen Bedürfnis manifestiert zu behaupten, Fortschritt müsse der altehrwürdigen Verfassung gerecht werden. Diese Behauptung wurde während der Verfassungskonflikte des 17. Jahrhunderts vorgebracht, als die Vertreter des Common Law den Mythos von der alten Verfassung ersannen. Sie argumentierten, es gebe eine auf den Prinzipien der Freiheit und Demokratie basierende traditionelle angelsächsische Verfassung, die als Quelle unserer fundamental laws weiterhin Bestand habe.[6] Zwar wurde das Argument damals in erster Linie dazu benutzt, um Privilegien des Parlaments und der Common-Law-Gerichte gegen die Prärogativrechte der Krone geltend zu machen. Die Vorstellung lebte jedoch weiter und formte eine bedeutende Tradition der verfassungsgeschichtlichen Erzählung, die im 19. Jahrhundert vollständig erblühte[7] und als „Whig interpretation of history“ bekannt wurde.[8]

4

Eine elementare Lehre dieses Verständnisses besagt, dass die kommunale Selbstverwaltung im Zentrum der historischen Verfassung steht.[9] Nach der alten Verfassung, so wurde behauptet, lag die ausschließliche Verantwortung für die Verwaltung der örtlichen Angelegenheiten, einschließlich solcher der Besteuerung, bei der gemote (von moot oder meeting), der Versammlung aller freien Männer der Ortschaft. Die gemote bildete die Grundlage der gesamten Regierungsstruktur, da sich die jeweiligen Vorsitzenden der gemotes, die „reeves“ genannt wurden, gemeinsam im witenagemote, d.h. in der Erweiterten Versammlung bzw. im Großen Rat, trafen. Aus diesem Rat ging das moderne Parlament hervor. Die Struktur der Herrschaftsgewalt ruhte demnach auf dem Willen des Volkes, wie er durch die kommunalen Gemeinschaften artikuliert wurde. Weder der König noch seine Regierung besaßen die Befugnis, Gesetze zu erlassen oder Steuern zu erheben, ohne zunächst die Zustimmung der Nation, die durch das Parlament vertreten wurde, einzuholen.

5

Im Lichte dieser Gedanken ist die englische Verfassungsgeschichte als eine Geschichte der Bemühungen zu betrachten, die alten lokalen Freiheiten – die fundamental laws – gegen eine Usurpation durch die Zentralregierung abzusichern. Nach der traditionellen Ansicht der Whigs bedeutete die normannische Eroberung keinen Verfassungsbruch, sondern lediglich eine Störung in der Verfassungskontinuität, und das historische Resultat der nach der Eroberung durchgeführten Bemühungen zur Sicherung der lokalen Freiheit spiegelte sich in Dokumenten wie der Magna Carta (1215), der Petition of Right (1628) und der Bill of Rights (1689) wider. Diese, so behaupteten die Whigs, stellten keine neuen politischen Grundsätze auf, sondern verlangten lediglich eine genaue Beachtung der alten fundamental laws und zielten auf eine Beseitigung der Missstände ab, die infolge ihrer Vernachlässigung entstanden waren. In dieser Narrative ist „England […] pre-eminently the country of local government“.[10] Die lokale Herrschaftsausübung hat die Entstehung eines unitarischen Verwaltungsbegriffs verhindert und dafür gesorgt, dass kein Verwaltungsrechtssystem aufgebaut werden konnte.

 

2. Die Tradition des Common Law

6

Der Mythos von der alten Verfassung lebte in der Mentalität des Common Law fort und übte auf diesem Wege Einfluss auf die Gestaltung der Verwaltungsarrangements aus. Diese Arrangements können am prägnantesten durch eine Kontrastierung mit kontinentalen Gegebenheiten dargelegt werden. Beispielsweise wurde Ende des 18. Jahrhunderts in Kontinentaleuropa weitgehend anerkannt, dass die interne Verwaltung des Landes in den Verantwortungsbereich des Herrschers fällt. Mit der Zunahme der Regierungsfunktionen bildete sich eine Unterscheidung zwischen Rechtsprechung und Vollziehung heraus. Daran anknüpfend ließen sich zwei separate Arten hoheitlicher Tätigkeit identifizieren: Herrschaftsausübung durch das Gerichtswesen (rule of judicature) und Herrschaftsausübung durch die Verwaltung (rule of administration). Die Regelungen für die Herrschaftsausübung durch die Verwaltung wurden als Verwaltungsrecht bekannt. Dieses Verwaltungsrecht basierte auf der Macht des Souveräns, Verordnungen zu erlassen. Da die Verwaltung als eine besondere Domäne des Souveräns galt, wurden die auf sie bezogenen Gebote und Verbote als sein Recht behandelt, und der Korpus dieser Gebote und Verbote, aus dem später das Verwaltungsrecht wuchs, wurde als ein vom gemeinen Recht getrenntes, aber diesem durchaus gleichwertiges System begriffen. Durch dieses Recht regulierte und kontrollierte die Zentralregierung die Aktivitäten der nachgeordneten Verwaltungsbehörden.

7

Dieser kontinentalen Entwicklung kann die englische Erfahrung gegenübergestellt werden. Obwohl England zumindest seit der normannischen Eroberung stets zentral regiert wurde, strebte die Regierung generell nicht danach, auch zentral zu verwalten. Während gewisser Zeiträume, wie etwa der Reformation unter Heinrich VIII. oder der Herrschaft der Stuart-Dynastie, wurden Versuche unternommen, ein Recht der Verwaltung im kontinentalen Sinne einzuführen. Der Gedanke, dass die Verwaltung eine Domäne des Souveräns ist und dass Verwaltungsstreitigkeiten von separaten Gerichten nach besonderen Prinzipien entschieden werden sollen, wurde jedoch zu keiner Zeit akzeptiert. Dies ist in erster Linie das Ergebnis von Anstrengungen, die darauf zielten, dass das Common Law ein einheitliches Rechtssystem bildet. Konsequenterweise wurde im englischen System keine klare Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Recht (oder zwischen Verwaltungsrecht und Common Law) getroffen. Da die Verwaltung dem gewöhnlichen, für alle geltenden Recht unterworfen blieb, bedeutete die rule of law, das rechtsstaatliche Prinzip, im englischen System die Herrschaft der Gerichte.[11]

8

Diese Lesart der rule of law hatte zwei bemerkenswerte Implikationen, die wichtige Aspekte der Verwaltung und des Verwaltungsrechts hervortreten ließen. Die erste bestand darin, dass sich aufgrund der Bedeutung der Kommunalverwaltung in England nie ein hierarchisches und einheitliches Verwaltungskonzept entwickelt hat. Kommunale Institutionen traten nicht als Geschöpfe der Zentralgewalt, sondern als Vertretungen der historischen Gemeinden im Rahmen eines Rechtskorpus in Erscheinung, an den sowohl die Krone als auch die Kommunen in gleicher Weise gebunden waren. Die Zentralregierung verfügte gegenüber den kommunalen Institutionen daher nicht über inhärente übergeordnete Kompetenzen. Insofern steht die englische Tradition nicht nur für eine kommunale Selbstverwaltung, sondern auch und vor allem für eine echte kommunale Selbstregierung.

9

Die zweite, nicht minder bedeutende Implikation betrifft die Rolle des Parlaments. Das Common Law konnte nicht einseitig durch die Krone geändert werden, sondern nur mit der Zustimmung des Volkes in Gestalt des Parlaments. Das Prinzip der parlamentarischen Souveränität ist demnach mit dem Gedanken der Einheit des Rechts verflochten. Da es nur wenige bedeutsame Prärogativrechte im innerstaatlichen Wirkungsbereich gab, wuchs der Crown-in-Parliament als oberstem Gesetzgeber die Rechtsmacht zu, absolute Hoheitsgewalt über die interne Verwaltung auszuüben. Der Act of Parliament wurde nicht nur zur Form aller Gesetze, sondern auch zum Rahmen aller exekutiven Maßnahmen, welche die Verwaltungstätigkeiten regelten. Das hatte zur Konsequenz, dass sich die Verwaltungsbehörden für die Ausübung ihrer Befugnisse nicht gegenüber der Zentralregierung, sondern gegenüber den Gerichten und letztendlich gegenüber dem Parlament verantworten mussten. In der englischen Tradition wurde das Verhältnis zwischen der Verwaltung auf zentraler und derjenigen auf kommunaler Ebene allerdings nicht durch übergreifende Regelungen, sondern primär durch ein Netzwerk an Beziehungen zwischen der Kommunalverwaltung, der Zentralregierung, dem Parlament und den Gerichten koordiniert.

3. Verwaltung und Parlament

10

Innerhalb der englischen Tradition entwickelte sich das Parlamentsgesetz zu der Handlungsform, durch die der Wille der Zentralgewalt gegenüber allen Verwaltungsbehörden ausgedrückt wurde. Die Zentralregierung musste sich daher das Wohlwollen des Parlaments sichern, das sich im Wesentlichen aus den Repräsentanten der örtlichen Gemeinschaften zusammensetzte. Das House of Commons war, wie der Name bereits anzeigt, ein aus Vertretern der alten örtlichen Gemeinschaften bestehendes Organ, wobei die Mitglieder in den Parlamentssitzungen auch als solche verstanden wurden und weiterhin verstanden werden (dies gilt sogar für die Mitglieder des Hochadels; obwohl sie dem Parlament aufgrund eigenen Rechts angehören, tragen sie ortsgebundene Titel). Mit dem Parlament wurde den Kommunen ein Forum zur Verfügung gestellt, in dem sie die Zentralregierung auf ihre Interessen und Probleme aufmerksam machen konnten.

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Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts erlegten Krone und Parlament den Kommunen im Allgemeinen keine Beschränkungen auf, wie sie ihre Verwaltungsaufgaben wahrnehmen sollten. Sobald allerdings neue Bedürfnisse aufkamen, wurde das Zentrum unweigerlich einbezogen, da die örtlichen Hoheitsträger Petitionen einbrachten, die auf neue Kompetenzen zielten, welche nur ein Act of Parliament begründen konnte. Hierdurch gewann das Parlament eine Rolle, die in kontinentaleuropäischen Staaten zu einer Domäne der Zentralregierung wurde und dort zum spezifischen Verwaltungsrecht führte. In England war das Mittel hingegen vor allem das Private-Bill-Verfahren, in dem Gesetzentwürfe generell auf ein entsprechendes Ersuchen kommunaler Körperschaften hin in das Parlament eingebracht und hauptsächlich von den Repräsentanten der betroffenen Kommunen beraten wurden. In der Entwicklung der parlamentarischen Praxis wurde allmählich erkannt, dass unter die allgemeine Form eines Gesetzes zwei verschiedene Aktivitäten fielen, und zwar die Gesetzgebung zugunsten der gemeinsamen Interessen des Landes (allgemeine öffentliche Gesetzgebung) und diejenige zugunsten besonderer administrativer Erfordernisse (private oder kommunale Gesetze). Durch die Entwicklung des letztgenannten Instruments[12] wurde das Parlament zum Vermittler zwischen der Zentralgewalt und den kommunalen Behörden, die Verwaltungsaufgaben wahrnahmen.

12

Diese unmittelbare parlamentarische Kontrolle über die administrativen Kompetenzen stellte einen Mechanismus zentraler Regelung zur Verfügung, der mit dem Geist der Verfassung vereinbar war. Die Kontrolle durch ein Parlament, in dem die Kommunen vollständig repräsentiert wurden, erschien als Ausdruck der Tradition der kommunalen Selbstverwaltung. Da das Parlament bei der Durchführung des Private-Bill-Verfahrens überwiegend gerichtsähnlich vorging, verstärkte diese Praxis des „High Court of Parliament“ auch das Prinzip der rule of law.

4. Verwaltung und Gerichtsbarkeit

13

Das Prinzip der rule of law wurde im englischen System auf der Herrschaft der Gerichtsbarkeit (rule of judicature) errichtet. Das bedeutet im Wesentlichen, dass jegliche Ausübung von öffentlicher Gewalt einer rechtmäßigen Ermächtigungsgrundlage bedarf und dass über die Rechtmäßigkeit, weil es kein System des Verwaltungsrechts gibt, allein die ordentlichen Gerichte unter Anwendung des gewöhnlichen Rechts, d.h. des Common Law, urteilen. Gelegentlich, insbesondere zu Zeiten der Herrscher aus den Häusern Tudor und Stuart, wurde versucht, eine besondere Verwaltungsgerichtsbarkeit einzurichten. Beispielsweise waren unter Heinrich VIII. öffentliche Bekanntmachungen und königliche Anordnungen (warrants) unmittelbar an die Friedensrichter (Justices of the Peace) gerichtet, wodurch diese unmittelbar der Autorität der Krone unterstellt wurden, und unter der Herrschaft der Stuarts waren Ansätze zu beobachten, die Star Chamber, ein Komitee des als politisches Beratungsgremium des Monarchen fungierenden Privy Council, in eine oberste Verwaltungsbehörde umzuwandeln.[13] Derartige Maßnahmen führten im 17. Jahrhundert allerdings zu fundamentalen Verfassungskonflikten. Nach der Wiederherstellung der Monarchie im Jahre 1660 wurden daher keine weiteren Versuche unternommen, eine separate Verwaltungsgerichtsbarkeit zu entwickeln.

14

Im Verlaufe des 18. Jahrhunderts erwiesen sich die Gerichte als die wichtigsten Organe der Kontrolle von Verwaltungshandeln mittels sog. prerogative writs.[14] Zugleich festigte die Tatsache, dass während dieser Zeit Friedensrichter, die ebenfalls Aufgaben im Bereich der Justiz wahrnahmen, die meiste Arbeit der örtlichen Verwaltung verrichteten, die Überzeugung, dass die Verwaltung auf dem Recht beruhte und dass sämtliche Verwaltungsaufgaben im Geiste des Rechts wahrgenommen werden sollten.

5. Verfassungsrechte und Verwaltungspflichten

15

Die Institutionalisierung der Doktrin von der Parlamentssouveränität im 18. Jahrhundert hat das Verständnis des Rechts als einem Korpus alter Bräuche, an die alle gebunden waren, untergraben. Es stellte sich die Frage, wie Souveränität und Freiheit aufeinander abgestimmt werden konnten. Da sich das englische Schrifttum einzig und allein mit praktischen Fragen befasste, oblag es ausländischen Beobachtern, vor allem Charles-Louis Secondat Baron de Montesquieu, die Logik der englischen Lösung herauszufinden.

16

Angetrieben von der Furcht, die europäischen monarchischen Traditionen könnten durch Formen der Willkürherrschaft ersetzt werden, suchte Montesquieu nach einem alternativen Modell. Er behauptete, ein solches im englischen System entdeckt zu haben, das auf der Grundlage des Gewaltenteilungsprinzips einen Ausgleich zwischen der königlichen Integrität, der aristokratischen Weisheit und der Meinung des Volkes ermöglichte.[15] Die Vorstellung eines Ausgleichsmechanismus im Verfassungsgefüge, dessen Aufgabe darin besteht, angesichts eines stetigen Wandels die Freiheit zu wahren, wurde von der damaligen britischen Wissenschaft bereitwillig übernommen.[16] Die große Schwäche der Analyse Montesquieus war allerdings, dass sie keine Antwort auf die Frage gab, wie das Land tatsächlich in der Praxis regiert wurde. Diese Leistung erbrachte erst ein anderer ausländischer Gelehrter.

17

Die Revolutionskrisen des Jahres 1848 erschütterten alle westeuropäischen Verfassungen; lediglich die britische Verfassung blieb unbeeinflusst. Wie wurde dies vollbracht? War die Ursache in unseren liberalen Institutionen zu suchen, die ein harmonisches Zusammenspiel zwischen den monarchischen, aristokratischen und demokratischen Elementen gewährleistet hatten? Rudolf von Gneist, der an der Berliner Universität öffentliches Recht lehrte, war davon nicht überzeugt, denn wenn die Verfassung tatsächlich auf dem Prinzip der Gewaltenteilung beruhte, wäre Großbritannien in besonderem Maße für Konflikte anfällig gewesen. Von Gneist ging in seinen Forschungen über eine nur vordergründige Analyse der Struktur der Zentralregierung hinaus und stellte dabei fest, dass das wahre Fundament der englischen Regierung nicht in der Teilung, sondern in der Einheit zu finden war. England, so von Gneist, wurde von oben bis unten von einer Klasse wohlhabender Grundbesitzer regiert, die unentgeltlich persönliche Dienste nicht nur als Mitglied des House of Lords und des House of Commons, sondern auch als Friedensrichter verrichteten, welche die Grafschaften verwalteten. Unter den augenscheinlichen Gliederungen lag eine tiefe Einheit, die von Gneist als „Selbstverwaltung“ bezeichnete.[17]

 

18

Die „eigentlich praktische Grundlage“ der englischen Verfassung bestand nicht in einem System von Rechten, sondern in einem Netzwerk von Verpflichtungen: „Nicht die Rechte des Parlaments und die Formen der parlamentarischen Regierung, sondern von unten herauf die persönliche Thätigkeit in der täglichen Arbeit des Staats hat die Größe Englands begründet.“[18] Innerhalb dieses Netzwerks spielten die Friedensrichter, die auf Empfehlung des Lord Lieutenant der Grafschaft vom König berufen wurden, eine entscheidende Rolle. Da sie sowohl mit Verwaltungs- als auch mit Justizaufgaben betraut waren, ohne dass eine wirksame Kontrolle seitens der Zentralgewalt erfolgte, stellten sie die Hauptorgane der Selbstverwaltung dar. Obwohl diese „einförmigen, nüchternen und ernsten“ Institutionen „weit entfernt von den glänzenden Bildern [sind], die durch den Verfasser des Esprit des Lois in Europa einst verbreitet wurden“, sind sie „fest und nachhaltig, und in der Stunde der Gefahr, in der Prüfung durch große Aufgaben, zeigen sie den Schwung und die Größe des Charakters einer stolzen freien Nation“.[19] Von Gneist glaubte, dass „[e]rst die Umbildung und Ermäßigung, welche die Klassengegensätze durch das Communalleben erhalten, […] die gemäßigten politischen Parteien [erzeugen], welche eine parlamentarische Regierung in englischer Weise zu führen vermögen“.[20]

19

Von Gneists Darstellung des englischen Selbstverwaltungssystems war recht komplex. Sie stellte nicht nur auf persönliche Dienste und ein aristokratisches Prinzip ab, sondern beruhte auch auf einem Verständnis dafür, dass souveräne Rechte und Kommunalverwaltung zusammengehören. Von Gneist ließ sich bei seinem Modell nicht von einer romantisch-historischen Vorstellung teutonischer Volksfreiheit leiten, bei der die Regierungsgewalt von den Gemeinden aufwärts konstruiert wurde. Er behauptete vielmehr, dass der englische Staat in hohem Maße zentralisiert sei und dass „England has to thank the Norman kings for an absolute government which enabled her to develop a consciousness of unity and strength at a time when all the great nations of the Continent were disintegrated by feudalism“.[21] Gerade weil England frühzeitig zentralisiert wurde und es keine ernst zu nehmenden Herausforderer für die souveräne Gewalt des Zentralstaates gab, war dieser in der Lage, den Organen der Kommunalverwaltung so viele Freiheiten einzuräumen. Die Autonomie der Friedensrichter bestand allerdings lediglich im Bereich der administrativen Aufgaben, und sie wurde durch die gesetzgebende Gewalt des Parlaments stark eingeschränkt und von den Common-Law-Gerichten kontrolliert.

20

Obwohl von Gneist eine wesentliche Schwäche in Montesquieus Verfassungsmodell aufgezeigt hatte, war seine eigene Interpretation der Selbstverwaltungstradition ebenfalls nicht vor Kritik gefeit. Insbesondere die Struktur der Regierung des 18. Jahrhunderts, die von Gneist als Selbstverwaltung charakterisierte, „was in truth a form of government in which all authority was monopolised by certain social and economic interests, and employed by them to their own advantage“[22], und „one of the principal features of aristocratic ‚self-government‘ was its subordination of efficiency to the maintenance of class rule“.[23] Daher liegt der Schluss nahe, dass das Fehlen einer formalen Staatstradition das Ergebnis eines hohen Maßes an Zusammenhalt innerhalb der regierenden Klasse war. Die Friedensrichter als die Bevollmächtigten der örtlichen Verwaltungen, die Parlamentarier, welche die Politik des Zentralstaates kontrollierten, und die Richter, welche die rule of judicature formten, wurden alle in einer gemeinsamen Herrschaftstradition ausgebildet. Dieses geteilte Verständnis der herrschenden Klasse trug in hohem Maße zu einem Regierungssystem bei, in dem kein Bedarf nach einem formalen Staatskonzept oder an irgendetwas, das einem Verwaltungsrechtssystem gleicht, bestand.

Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 44 Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Großbritannien › III. Der Ursprung des Verwaltungsstaates