Czytaj książkę: «Schiffbruch»
ANDRES BRUETSCH
SCHIFF
BRUCH
UND WAHRHEIT
ROMAN
Alle Rechte vorbehalten
© 2021 Friedrich Reinhardt Verlag, Basel
Projektleitung: Jeannine Wanner
Korrektorat: Daniel Lüthi
Cover und Layout: Romana Stamm
eISBN 978-3-7245-2519-6
ISBN der Printausgabe 978-3-7245-2454-0
Der Friedrich Reinhardt Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.
Inhalt
1 Donnerstagnacht
2 Freitag
3 Samstag
4 Sonntag
5 Montag
6 Dienstag
7 Mittwoch
8 Donnerstag
9 Freitag
10 Samstag und Sonntag
11 Montag
12 Dienstag
13 Mittwoch
14 Donnerstag
15 Freitag
16 Samstag
17 Sonntag
18 Montag
19 Später
Quellenangaben
Autor
Dank
Schicksalsschläge lassen sich ertragen –
sie kommen von aussen, sind zufällig
Aber durch eigene Schuld leiden – das ist der
Stachel des Lebens.
Oscar Wilde (1854–1900) Aus: Lady Windermeres Fächer, 1892 (Lady Windermere’s Fan: A Play About a Good Woman)
1
Donnerstagnacht
Für Lena war es immer wieder ein Abtauchen in eine Welt, in der es Unwahrheit nicht gab. Nachdem sie das winzige Mikrofon im sumpfigen Boden des Seeufers verankert hatte, stülpte sie sich die Kopfhörer über und verschwand für gut zwanzig Minuten im nachtschwarzen Wasser. Sie tat dies nicht wie eine Taucherin, umgeben von Atemgeräuschen und aufsteigenden Luftblasen. Lena gesellte sich lautlos und unsichtbar zu den Hechten, hörte ihre kräftigen Bewegungen und glaubte manchmal, einen grummelnden Wels zu vernehmen. Sicher war sie, die wendigen Flussbarsche an ihrem Geräusch zu erkennen, wie sie in flinker Art durch das Wasser pfeilten.
Um in diese Welt zu entfliehen, brauchte sie kein Auto, kein Flugzeug, es reichten ihr wenige Schritte vom Haus ihrer Eltern zum Seeufer. Dank der hochwertigen Instrumente, die sie sich mit dem Lohn als Aushilfe-Kellnerin im Seerestaurant «La Veduta» gekauft hatte, stand ihr ein unermesslich weites und vielfältiges Universum offen. Vor allem nachts, wenn der Verkehr ruhte, die Menschen schliefen und somit ihre Autos und anderen Maschinen stillstanden. Dann, wenn sich die meisten ihrer Freundinnen und Freunde virtuell im Cyberspace unterhielten und bewegten.
Kaum jemand wusste von ihrer stillen Passion. Ihre Mutter, ja, sie hatte ihr das fehlende Geld für die Unterwasser-Mikrofone, die sogenannten Hydrofone, zugesteckt.
Ihr Vater hätte es wissen können, wenn es ihn überhaupt interessiert hätte, wenn er Zeit gehabt hätte, wenn er sich um sie gekümmert hätte, nebst seiner politischen Arbeit, seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen. Ja, vielleicht hätte es ihn dann sogar fasziniert, konnte sich Lena vorstellen.
So, wie sie sich ein ganz anderes Verhältnis zu ihm hätte vorstellen können. Sie wusste nicht, was für eines, aber sicher ein anderes als das, wie sie es jetzt hatte. Auch ein anderes, als er es sich gewünscht hätte, wie Lena vermutete.
Was hatte er sie verwöhnt als kleines Mädchen, sie beschenkt, sie geherzt. Nichts blieb Wunsch, alles wurde gleich umgesetzt, wurde real. Spielzeug, Kleider, ein neues Board, andere Tapeten für ihr Zimmer, ein kleines Segelboot, alles stand da, lag vor ihr, war schon passiert – oft, bevor sie die Möglichkeit gehabt hätte, den Wunsch zu äussern. Er sagte zu ihr: «Das magst du doch … das wollen heute alle.»
Einen Spielcomputer zum Beispiel, den sie nicht anrührte, oder, vor wenigen Jahren, ein Boxspring-Bett. Warum sollte sie ihr Bett nicht mehr mögen? Aber das neue stand schon in ihrem Zimmer und das alte war entsorgt, als sie nach Hause kam. Dazu strahlte er und umarmte sie. Als sie enttäuscht, gar verärgert reagierte, dass er über ihr Bett verfügt hatte, ohne sie vorher zu informieren, zeigte er sich beleidigt. Sie hätte doch die ganze Zeit von ihrer Freundin Sandra und ihrem tollen Boxspring-Bett erzählt.
Am schlimmsten waren für Lena Auftritte bei politischen Veranstaltungen. Weil sich ihre Mutter aus guten Gründen seit Jahren weigerte, die adrette und gleichzeitig gebildete Gattin des charmanten Regierungsrats zu mimen, musste Lena nach aussen die intakte Familie verkörpern. So hatte sie dem jungen Pianisten, der das kantonale Stipendium gewonnen hatte, den Blumenstrauss zu übergeben, oder dem Rektor – der zu jener Zeit gleichzeitig ihr Mathematik-Lehrer war – den Schlüssel zur neuen Turnhalle zu überreichen.
Je älter sie wurde, je hübscher und fraulicher sie sich entwickelte, umso lieber schien ihr Vater, der Regierungsrat, sie an seiner Seite zu sehen. Bis sie sich weigerte. Nicht nur weil sie, wie sie ihm etwas grob sagte, keine Lust mehr verspürte, als Maskottchen aufzutreten, sondern vielmehr, weil seine politische Haltung immer weniger mit ihrer übereinstimmte.
Das war auch der Moment, als er sein Verhalten ihr gegenüber veränderte. Plötzlich, fiel ihr auf, sprach er kaum mehr mit ihr. Wenn er mit ihr sprach, kritisierte er sie für ihr Aussehen, ihre Kleider und mehr und mehr zog er ihre Ansichten ins Lächerliche.
Auch berührte er sie kaum mehr – kein Küsschen, keine Umarmung. Darüber war sie allerdings froh, denn sie hatte seit Langem angefangen, sich gegen seine Umarmungen zu wehren. Auf seinem Schoss hatte sie sich seit jeher unwohl gefühlt und sie konnte es nicht ausstehen, wenn er sie auf die Lippen küsste.
«Was hast du auch? Ich bin doch dein Vater!», sagte er dann verletzt.
Es tat selbst Lena leid, dass sie ihm auswich. Doch je älter sie wurde, desto heftiger war ihre Ablehnung. Schliesslich begann sie sich für ihr Verhalten zu schämen, empfand es als «nicht normal». So sehr, dass sie ihre innersten Gefühle ihrer Mutter anvertraute.
Das hätte mit ihrer Entwicklung zur jungen Frau zu tun, meinte sie, und sei durchaus normal.
Sie hätte es doch schon als kleines Kind nie gemocht, wenn er sie anfasste, erwiderte Lena.
«Mach’ dir keine Sorgen. Nicht alle Menschen mögen das, das ist nicht so besonders …»
Das Thema war somit erledigt, zumindest für ihre Mutter. Lena fühlte sich in diesem für sie wichtigen Empfinden von ihr alleine gelassen.
Umso mehr suchte sie bei ihr die körperliche Nähe.
Es gab eine Phase, da war sie geradezu süchtig nach der Wärme, die sie bei ihrer Mutter fand. Obwohl sie damals schon siebzehn Jahre alt war, liebte es Lena, zu ihr ins Bett zu schlüpfen, während ihre Mutter in einem ihrer unzähligen Bücher las und ihr Vater bis spät abends an politischen Veranstaltungen unterwegs war. Kurz bevor er nach Hause kam, schickte die Mutter sie jeweils zurück in ihr Zimmer. Doch einmal waren sie beide eingeschlafen und erwachten erst, als er schon im Zimmer stand. Im Halbschlaf sah sie die Silhouette ihres Vaters und wie er gerade hastig die Krawatte unter dem Hemdkragen hervorschlenzte. Vor allem an das zischelnde Geräusch des Krawattenstoffs konnte sie sich erinnern und an den Satz:
«Was soll denn das? Sie ist doch kein Kind mehr …» Nicht: «Du bist doch kein Kind mehr.» Und Lena wusste seit dieser Nacht: Sie war kein Kind mehr. Nicht mehr das Kind ihres Vaters.
In der Folge entwickelte sich ihre Liebe für das stille Universum der ungehörten Töne. Sie wusste, dass sich die Forschung mehr und mehr für die «stummen Fische» interessierte, man bereits wusste, dass Fische untereinander kommunizieren und sich in ihrem Gehirn eine Art neuronales Sprachzentrum befindet.
Ein lautes Geräusch riss sie aus ihren Gedanken. Verwirrt streifte sie den Kopfhörer ab und hörte jetzt das dumpfe Gurgeln eines schweren Motors im Wasser. Was geschah, konnte sie nicht erkennen, das Schilf stand dicht, zudem war es dunkel.
«Das muss ein Motorboot sein. Es hat sich vermutlich im sandigen Boden festgefahren», dachte sie. Jedenfalls tönte der Motor, als würde das Boot auf wenigen Metern hin- und herfahren. Lena packte ihr Equipment zusammen.
Das Motorengeräusch wurde ruhiger, dann leuchtete kurz ein Suchscheinwerfer auf. «Das kann eigentlich nur das Schiff meines Vaters sein», überlegte sie sich, und tatsächlich drang wenig später Licht aus der hölzernen Bootshütte, welche auf dem Grundstück ihrer Eltern lag. Dann krachte es, Holz zersplitterte, der Motor wurde abgewürgt. Stille.
Lena war beunruhigt, was war da geschehen? Mit ihrem Vater konnte das nichts zu tun haben. Der könnte das Boot blindlings unbeschadet in die Hütte fahren. Doch wer sonst könnte es sein? Nicht mal die Mutter liess er ans Steuer seiner geliebten «Aurora». Obwohl sie sich ängstigte, schlich Lena, geschützt vom hohen Schilf, seitlich an die Hütte heran. Sie vernahm das vertraute Quietschen der Ketten, das Boot wurde hochgehievt.
Ruhe. Später das leise Geräusch von Wasser, das vom Schiff abtropfte. Jetzt das Knarren der Tür, Licht aus – Schritte auf dem Holzsteg. Die Silhouette eines Mannes, Lena glaubte, ihren Vater zu erkennen, verwarf diese Vermutung. Sie verhielt sich ruhig und wartete. Eine, zwei Minuten – reglos. Dann ging sie vorsichtig zur Bootshütte, schob die dürre Holztüre auf.
Das Schiff hing wie üblich in den Gurten, einen halben Meter über Wasser. Also musste das doch ihr Vater gewesen sein, der soeben über den Steg gegangen war. Niemand sonst hätte in der kurzen Zeit das schwere Boot fachgerecht versorgen können. Doch was hatte er gemacht? Der Bug war eingeschlagen, aus dem grossen Leck tropfte noch das Wasser. Er musste heftig den Steinsockel der Hütte gerammt haben, vermutete sie. War er betrunken? Doch so wirkte er nicht, wie er da über den Steg gegangen war. Das alles passte nicht zusammen, wunderte sich Lena.
2
Freitag
Es würde kein gewöhnlicher Freitag werden. Aline wird zwar wie üblich um neun in der Bibliothek sein, Philip wird wie üblich ein Croissant zu viel bringen, da er wie üblich vergessen wird, dass Doris am Freitag nur nachmittags arbeitet. Auch wird sich kaum etwas Unerwartetes ereignen. Bücher werden geholt, andere zurückgebracht, DVDs ausgeliehen, CDs angehört. Vermutlich wird auch eine Schulklasse auftauchen, um zu erfahren, wie es heute in einer modernen Bibliothek zu- und hergeht. Und bestimmt wird Herr Moos – als Kläusi Moos stadtbekannt – schon beim Eingang warten, um anschliessend in der Zeitungsecke in seiner verwahrlosten Art die anderen Besucherinnen und Besucher zu nerven.
Ungewöhnlich wird sein, dass sie selber bereits um elf Uhr die Bibliothek verlassen wird, um zu Hause Frau Herrmann zu treffen, die einmal mehr das Catering für den Abend zubereiten wird. Wie Alines Mann Patrick meinte, werden an die achtzig Leute aus Politik-, Finanz und Wirtschaft auftauchen. «Sogar ein halbes Dutzend aus dem Kulturkuchen», fügte er an.
Noch stand Aline in der modernen Küche in ihrem Haus, braute sich einen Kaffee und freute sich darauf, ihn wie jeden Morgen stehend auf der Veranda zu trinken. Sie liebte die halbe Stunde für sich allein, kurz nach sechs Uhr. Dazu hörte sie die Nachrichten am Radio.
Erst dann erschien üblicherweise Patrick, der seinerseits die Nachrichten beim Rasieren im Badezimmer bereits gehört hatte. Zu einem gewöhnlichen Tag passte auch der Duft seines Rasierwassers, der Patrick gleichsam voranschwebte und ihn so ankündigte.
Heute war das anders. Das Aftershave war intensiver und Patrick stand bereits vor halb sieben auf der Veranda. Zudem schwatzte er viel. Insbesondere ärgerte Aline, dass er – rücksichtslos, wie sie fand – das Radio abdrehte und meinte: «Können wir kurz den Abend besprechen? Ich habe heute ein sehr enges Programm. Zudem ist mir ein Malheur passiert.» Den letzten Satz sagte er, als handle es sich um eine Nebensächlichkeit.
«Was für ein Malheur?», wollte Aline wissen.
«Mit dem Boot», erklärte er. «Irgendwie war wohl das Gaskabel verklemmt. Jedenfalls, beim Hineinmanövrieren ins Bootshaus ist’s passiert. Ich habe den Bug eingedrückt.»
«Und was hat das mit dem heutigen Tag zu tun?», fragte Aline nach.
Er werde das Boot gleich heute Morgen zu Piccinonno in die Werft bringen, da der heute Nacht noch in die Ferien fahre.
«Und er hat heute Morgen noch schnell Zeit, dein Boot zu reparieren?»
«Sieht so aus.»
«Da kann ja der Schaden nicht gross sein. Hast du dich verletzt?» Sie schaute kurz auf die Wunde oberhalb seines linken Auges.
«Nicht weiter schlimm … das Schilf, ich müsste es längst zurückstutzen.»
Aline nahm ihre halbvolle Kaffeetasse zur Hand:
«Kurz nach elf kommt Sabine Herrmann, um den Raum für den Abend vorzubereiten. So weit ist alles organisiert. Ich wäre froh, wenn du vor fünf Uhr hier wärst», sagte Aline und ging zurück in die Küche. Patrick rief ihr hinterher:
«Könntest du mich in einer Stunde in der Werft abholen?»
«Unmöglich – frag’ Lena … vielleicht hat sie Zeit.»
«Warum in aller Welt sollte sie keine Zeit haben?»
Aline gelang es nicht, Patricks schnippische Bemerkung zu überhören. Seine Sticheleien gegen Lena fand sie ätzend. Um eine schlechte Stimmung zu erzeugen, reichte mittlerweile, dass Lena und er im gleichen Raum waren.
Für viele Jahre war Lena sein Stolz, seine Freude gewesen. Er hatte ihr die ersten Buchstaben beigebracht, hatte sie schwimmen gelehrt, später Wasserskifahren, ging mit ihr in den Nationalpark. Die Beziehung von Lena zu ihm war vertrauter, als die zwischen Lena und ihr. Bis vor ungefähr fünf Jahren, ja, so lange musste es her sein, da änderte alles.
Sie hörte Patrick, wie er im Büro neben dem Eingang herummachte, wohl nach etwas suchte. Er suchte immer etwas, erschien es Aline.
Die fast leere Kaffeetasse stand jetzt neben der elektrischen Zahnbürste im Badezimmer im ersten Stock. Wie jeden Tag trug Aline erst etwas Tagescreme auf, dann Mascara, Lippenstift. Sie bürstete ihre langen Haare, die an den Schläfen grau wurden. Dabei dachte sie: «Frauen um die fünfzig sind geschieden, haben kurze Haare und gehen ans Locarno Film Festival.» Sie war seit sechsundzwanzig Jahren nicht geschieden, hatte lange Haare, ging gerne ins Kino, aber kaum je ans Locarno Film Festival.
Lena hatte annähernd schwarze Haare, dachte Aline, nicht wie sie, auch nicht wie Patrick. Nun, er war mittlerweile kahl. Mit Bart wäre er ein Hipster, dachte sie mit einem Lächeln. Sie schaute sich genauer im Spiegel an.
«Ich habe ein ernstes Gesicht», sagte sie sich.
Tatsächlich waren es nicht Lachfalten, die ihr schönes Gesicht mit feinen Linien zeichneten, mit jedem Monat etwas präziser.
Aline zog sich den sommerlichen Hänger über, den sie sich im letzten Frühjahr in Aigues Mortes gekauft hatte.
Patrick trat ins Schlafzimmer, suchte sein Handy und verlegte dabei den Bootsschlüssel.
«Wolltest du nicht zur Werft?»
«Doch, wieso?»
«Weil du soeben den Schlüssel verlegt hast …»
Er habe Lena eine SMS geschrieben, dass sie ihn abhole. «Ich hoffe, die schläft nicht wieder bis elf Uhr …»
Lena hatte vor knapp zwei Monaten beim zweiten Anlauf – was Patrick beschämend fand – die Matura geschafft. Sie freute sich jetzt auf ihr Biologie-Studium.
«Lass sie doch – bald fängt für sie ein anderes Leben an», wandte Aline ein.
«Wird auch Zeit … mit zweiundzwanzig Jahren.»
«Was spielen zwei Jahre für eine Rolle im Leben …»
«Zwei Sekunden können entscheidend sein … Ich werde kurz vor fünf hier sein.» Patrick war weg. Manchmal fragte sich Aline, wie viel von diesem Patrick, in den sie sich vor vielen Jahren verliebt hatte, noch in ihm war. Sicher, sein Äusseres war komplett anders. Die langen Haare waren ebenso verschwunden wie die seinerzeit bewusst mehr als lockere Kleidung. Wäre auch peinlich, wenn er noch so daherkäme.
Wenn er – was fast nie vorkam – auf der Veranda im alten Rattan-Sessel sass und für wenige Minuten nachdenklich auf den See schaute, kam er ihr heute noch geradezu verletzlich vor. So hatte sie ihn kennengelernt. Doch jetzt, sobald er merkte, dass man ihn beobachtete, war dieser Mensch weg. Vielmehr, er wurde innert einer Sekunde zu dem, was er im Verlauf der Jahre aus sich gemacht hatte: Anwalt, Politiker, eloquent, effizient, erfolgreich. Ein Mann, der Probleme erkennt und sie verschwinden lässt. So radikal, wie er seine eigene Verletzlichkeit, seine Sensibilität hatte verschwinden lassen. Aline vermied gedanklich den Begriff «Achtsamkeit» – obwohl er im Zusammenhang mit dem, was sie an Patrick vermisste, gepasst hätte. Sie mochte Begriffe nicht, die für eine Zeit Mode und überall, selbst in der Werbung, zu lesen und zu hören waren – wie Nachhaltigkeit, oder eben Achtsamkeit.
Der See war spiegelglatt an diesem Sommermorgen. Weit weg dümpelten zwei Fischerboote. Patrick liess die havarierte «Aurora» zu Wasser und fuhr rückwärts aus dem Bootshaus. Es war nur noch wenig Benzin im Tank und um das Boot noch etwas hecklastiger zu machen, stellte er sich weit hinten ins Schiff. Auf diese Art bliebe das Leck während der kurzen Fahrt zur Werft über der Wasserlinie, dachte er. Zum Glück war ja nichts wirklich passiert, vor ein paar Stunden, kurz vor Mitternacht. Sachschaden. Zudem, was macht so ein Trottel ohne Licht nachts auf einem Ruderboot, oder was immer es war. Er war – das musste er zugeben – unvorsichtig gefahren und hatte das verdammte Pech, in der dunklen Bucht in das einzige Boot zu krachen, welches ausser ihm noch unterwegs war. Zudem war er leicht beschwipst, wie auch Ernst, den er kurz vorher beim Steg aussteigen liess.
Normalerweise wäre er an dieser Stelle im Schritttempo gefahren, also nach Vorschrift, schon wegen dem Strandbad gleich nebenan. Aber nachts um halb zwölf! Er hatte Licht, bei ihm war alles in Ordnung.
Die «Aurora» pflügte sich mit geringer Geschwindigkeit durch das ruhige Wasser.
Es waren an die zwanzig Holzschiffe gewesen, alle mindestens fünfzig Jahre alt, die sich gestern zum traditionellen Stelldichein «Barrique» beim alten Hafen versammelt hatten. Wie jedes Jahr trafen sich die selbsternannten Seebären mit ihren «Oldtimern» anschliessend zum Nachtessen im «La Veduta», und wie jedes Jahr begleitete ihn dabei sein alter Freund Ernst. Und, ebenfalls wie jedes Jahr fuhr Patrick ihn kurz vor Mitternacht zurück zum Steg, wo Ernst jeweils seinen Roller parkte. Alles gut, alles friedlich, die Temperatur hochsommerlich mild. Dann, er war eben erst vom Steg weggefahren, aus dem Nichts der Dunkelheit der Aufprall, ein dumpfer, hohler Schlag. Wasser schlug ihm ins Gesicht, das schwere Boot stieg wie ein wildgewordenes Pferd unkontrolliert in die Höhe, um nach wenigen Sekunden schräg und mit durchdrehendem Motor auf das Wasser zu klatschen. Ihn selber schleuderte es beinahe aus dem Boot, wobei er heftig mit der Stirne auf der Windschutzscheibe aufschlug. Letztlich warf es ihn rücklings auf den Hintersitz. Den Schmerz spürte er noch immer. Der alte V8-Motor blockierte und starb ab. Einige Momente der Ruhe, Wassergeräusche, dann eine stöhnende Männerstimme, lauter werdend, hilferufend. Wenige Sekunden später die Stimme einer Frau, von weiter weg: «Marius?» – erst besorgt, dann laut. Schrie sie? Ja – letztlich war es ein Schreien. In heilloser Panik, versuchte Patrick drei-, viermal das dümpelnde Schiff zu starten, fluchte. Da, endlich brüllte der Motor auf und das Boot brauste mit ihm am Steuer in einer wilden Kurve davon.
Von dieser Sekunde an gab es für ihn nur noch einen Gedanken: Es ist nichts passiert. Nein – es ist nichts passiert.
Jetzt, an diesem Sommermorgen, sah er sich allein auf dem weiten See. Ihm war recht, dass er niemandem auffiel mit dem kaputten Bug. Vor allem ein Polizeiboot hätte gerade noch gefehlt. Am linken Arm hatte er sich verletzt. Ein langer, geschwungener Schnitt war’s, der liess sich durch das Hemd verdecken. Aline hasste Kurzarmhemden … Und die Verletzung an der Stirn, die gestern unangenehm stark geblutet hatte, die, würde er behaupten, habe er sich in der Dunkelheit zwischen Bootshaus und Steg eingefangen. Ja, genau so legte er sich das alles zurecht.
Und ab jetzt: «Weiterdenken», sagte sich Patrick, «weiterdenken».
Heute war sein Abend. Seine Wiederwahl in den Regierungsrat würde gefeiert werden. Sie war letztlich knapp ausgefallen. Die Kandidatin der Öko-Partei – zugegeben eine sympathische Frau – war ihm bedrohlich nahegekommen. Doch er gewann mit einem kleinen Vorsprung und so blieb die bürgerliche Mehrheit im Rat gesichert. Ernst hatte ihm gestern anvertraut, dass er für die Grüne gestimmt habe … so wie er, Patrick, das früher auch gemacht hätte.
Tatsächlich waren sich Ernst und Patrick an einer AKW-Protestaktion erstmals begegnet – vor mehr als dreissig Jahren.
Der umstrittene geplante Autobahnzubringer, fand Ernst, müsste ja vor allem ihm ein Dorn im Auge sein. Mit diesem Stelzenbau würde das Seeufer über mehr als zwei Kilometer für Generationen verunstaltet. Auch in dem Punkt hatte Ernst recht.
Piccinonno stand am Steg, als Patrick in die Bucht einbog.
«Hoppla … hast du einen deiner Barrique-Kollegen gerammt …», rief Piccinonno ihm zu.
«Zum Glück nicht, dafür die eigene Bootshütte …», antwortete Patrick schalkhaft.
Ivan Piccinonno war um die vierzig, gross, kräftig und immer verhalten gut gelaunt. Patrick hatte ihm einmal gesagt, dass man stets in besserer Stimmung von ihm weggehe, als man gekommen sei. Und wie Patrick Ivan in seinen lumpigen Shorts dastehen sah, fühlte er sich so wohl, wie seit gestern Abend nicht mehr. «Alles war gut, alles wurde gut», sagte er sich immer wieder.
Der Vorname Ivan passte nicht zu Piccinonno. Nicht zu ihm als Erscheinung und nicht zu seinem italienischen Familiennamen.
Dass Patrick solchen Gedanken nachhing, gab ihm für einen Moment die Gewissheit, dass sich seine Gemütslage beruhigte.
Ivan hatte den gerüstartigen Hafentrailer über die Rampe bereits so weit ins Wasser gefahren, dass man das Schiff mit dem Tau problemlos zwischen die beiden Böcke ziehen konnte, die das Boot an Land stützten.
Mit seinem Traktor zog Piccinonno die eingedrückte «Aurora» zum Liegeplatz, der während der Sommerzeit fast unbenützt blieb. Es war noch immer früher Morgen und die Sonne versteckte sich scheu hinter den hohen Pappeln, die das weite Gelände abgrenzten.
«War wohl Vollmond gestern», scherzte Ivan und kuppelte routiniert den Trailer ab. «Du kollidierst mit der eigenen Bootshütte, ein anderer überfährt einen verliebten Kajakfahrer …»
«Gestern?», tat Patrick überrascht.
«Ja. Kurz vor Mitternacht … in der Schwanenbucht, gleich beim Strandbad.» Mehr wisse er nicht, er hätte da etwas am Radio gehört.
«Verletzte?», fragte Patrick.
Offenbar sei ein Mann verletzt worden, Genaueres wisse er nicht. Ivan fotografierte mit dem Handy den Rumpf der «Aurora».
«Was machst du da?», wollte Patrick wissen.
«Versicherung – die brauchen Bilder …»
«Was – Versicherung … vergiss das. Mein Fehler, also bezahle ich auch.»
«Das wird teuer – aber wie du meinst.»
«Fängst du gleich an mit der Arbeit?»
«Ja, gleich nach den Ferien, habe ich dir doch gesagt am Telefon. Oder willst du selber schon mal anpacken? Ich weiss ja, wie gerne – und zugegeben nicht mal schlecht – du an deiner hölzernen Lady herummachst …»
«Das hast du mir beigebracht», lachte Patrick. «Nein, ich habe keine Zeit – im Herbst dann wieder.»
«Lässt du das Schiff hier draussen?», wollte Patrick wissen.
«Warum nicht? Das liegt doch hier bequem», meinte Piccinonno bereits in bester Ferienlaune.
Er, wandte Patrick ein, möchte allerdings, dass es nicht grad so in der Öffentlichkeit herumstehe, man kenne ihn, man kenne das Boot … und, ihm sei das peinlich.
«Das war ein Scherz», lachte Ivan. Natürlich werde er das Boot in die Halle fahren. Eine «Beauty» wie die «Aurora» lasse man doch nicht auf einem verwaisten Platz herumliegen. Zudem stehe die Halle im Sommer meist leer und unnütz herum.
Er solle nicht vergessen, gleich auch das «Unterwasser» zu machen, ergänzte Patrick. So müsse man das im Herbst nicht nachholen.
«Ah, da kommt Lena!», freute sich Ivan, als er sie auf dem Velo in das Gelände einbiegen sah. Weniger erfreut zeigte sich Patrick.
«Wo ist das Auto?»
«Mama hat ihr Auto mitgenommen und mit deinem fahre ich nicht, weisst du ja.» Lena gab Piccinonno einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange. «Long time no see», lachte Lena.
Sie schaute sich flüchtig das havarierte Boot an.
«Dann warst also doch du das, der gestern Nacht in das Bootshaus krachte.»
«Wieso doch? Hat dir Mama etwas erzählt?»
«Nein, ich war im Schilf und hab’s gehört.» Patrick stutzte einen Moment. Dann:
«Ah, im Schilf, wirklich – ja. Dumm gelaufen, irgendwas war da mit dem Gaskabel …»
Er wusch sich flüchtig die Hände im Seewasser, blickte dabei über die Schulter zu Lena und bemerkte: «Nur, wie komme ich jetzt zu meiner Sitzung? Um neun muss ich dort sein.»
«Da, nimm’ das Velo, ist für dich, ich gehe zu Fuss … habe ja Zeit.»
Patrick griff kopfschüttelnd zum Handy.
«Was soll der Blödsinn! Ich bestelle ein Taxi …»
Bis ein Taxi hier sei, wäre er allerdings mit dem Velo längst in der Stadt, erlaubte sich Ivan zu sagen.
Man sah Patrick an, dass er sich das Szenario in der Werft ganz anders vorgestellt hatte. Er schob die Zähne über die Unterlippe und verzog die Augenbrauen. So, wie er es immer tat, wenn irgendetwas anders ablief, als er es wollte, dachte Lena.
Schliesslich fasste er sich, entschied sich doch für das Velo, stieg eher unbeholfen auf und meinte:
«Dann also … schöne Ferien, Ivan. Und, eh, wann kommt das Schiff in die Halle?»
«Noch heute Morgen, Du kannst dich beruhigt auf den Weg machen.» Patrick verabschiedete sich hastig und radelte los.
«Es könnte regnen», tröstete er sich und versuchte mit den Gängen zurechtzukommen, und «zum Glück ist es erst halb neun und noch angenehm kühl». Viel schlimmer wäre es, wenn er in der Mittagshitze mit verschwitztem Hemd vor dem Regierungsgebäude ankeuchen würde. Er glaubte sie zu hören, die zynischen Kommentare: «Ah – sportlich, Herr Girard, haben Sie die Partei gewechselt? Oder ist was mit Ihrem Fahrausweis?» Irgendwelche blöden Kommentare hätten ihm in seiner Verfassung gerade noch gefehlt. Doch jetzt, kurz vor neun, war noch niemand von den Medien vor dem Regierungsgebäude.
Andererseits, sagte er sich, wenn man ihn auf dem Velo sähe, wäre das nicht mal schlecht. Man musste ja nicht grün sein, um Velo zu fahren. Zudem, ein ökologisches Bewusstsein war ihm geblieben, auch wenn Ernst ihm das absprach.
«Dennoch», überlegte sich Patrick auf Lenas Velo: «Warum tut sie mir das an? Warum weist Lena mich auf diese Art zurecht, warum weigert sie sich geradezu sektiererisch – und das erst seit ein paar Monaten – mein Auto zu fahren. Hat das mit diesem Gabriel zu tun?»
«Wieso brauchst du so ein Riesenauto?» Was für eine Frage? Das hätte sie doch früher nie gekümmert.
«Egal», dachte er. Beunruhigend war vielmehr, dass Lena ihn gestern Abend beobachtet hatte.
Was genau hatte sie gesehen? Und, dass sie jetzt mit Piccinonno alleine um das Schiff herumschlich, regte Patrick geradezu auf. Vermutlich schauten sie sich gemeinsam den Schaden am Bug an, dann den zerkratzten Rumpf und würden sich fragen, was da wirklich passiert war.
Für einen Augenblick packte Patrick der Gedanke, in die Werft zurückzufahren. «Ach was», beruhigte er sich und trat umso entschlossener in die Pedale.
Lena half Ivan beim Manövrieren des bockigen Trailers, auf dem schwer die havarierte «Aurora» lag. Lena wies ihn ein, stellte da und dort ein Hindernis zur Seite, sodass Ivan das lange Holzschiff Heck voran in die Halle rollen konnte. Er koppelte den Anhänger ab und überprüfte die Bremsen.
«Hast du eigentlich den Motorbootschein?», wollte Ivan wissen. Lena verneinte.
Sie hatte einen Segelschein, aber keinen, der ihr erlaubte, das schwere Motorboot zu steuern.
«Warum fragst du?»
«Weil der Boden arg zerkratzt ist, als wäre jemand auf Grund gefahren und nicht mehr weggekommen.»
«Aha», lachte Lena, «und da denkst du, das kann nur eine Frau sein … Macho, du.»
«Dein Vater kennt doch den See in- und auswendig … ihm würde ich das wirklich nicht zutrauen.»
Ivan und Lena schauten sich den Rumpf an. Tatsächlich sah er im hinteren Teil malträtiert aus. Die Epoxid-Beschichtung war zerkratzt, stellenweise bis auf das Holz. Ivan fotografierte den Schaden.
Wenig später schleppte er eine dunkelgraue Plane an und begann sie über das Schiff zu spannen. Lena half ihm dabei. Als das Boot fachmännisch zugedeckt war, meinte Ivan:
«So ein edles Schiff, der grobe Schaden tut richtig weh, findest du nicht?»
Lena schaute zu, wie Ivan mit der Hand behutsam über den Bootsrumpf strich, als würde er den Bauch eines grossen Fischs streicheln.
«Du bist ein besonderer Mann», sagte Lena.
«Wie meinst du das?»
«Einfach so …»
Er lachte verlegen und klopfte jetzt kräftig auf den Rumpf.
«Voilà – nach den Ferien mache ich mich an die Arbeit.»
«Wohin gehst du eigentlich?», erkundigte sich Lena.
«Sardinien. Wir fahren heute Nacht los und nehmen morgen die erste Fähre.»
Beide verliessen die Halle. Ivan versteckte den Schlüssel an einem geheimen Ort, «den alle kennen, die hier ihr Schiff einlagern», grinste er. Lena wünschte ihm eine gute Reise und machte sich auf den Weg.
Sie ging dem Seeufer entlang und dachte über die vergangene halbe Stunde nach.
Merkwürdig war das alles gewesen, irgendwie surreal, mit den kurzen, zusammenhangslosen Momenten: das aufgebockte Schiff, darunter zwei Männer. Sie auf dem Velo. Die kurze Aufregung ihres Vaters. Dann, als wär’s eine Szene aus einem Buñuel-Film, ihr Papa als älterer Herr im dunklen Anzug, der auf einem klapprigen Damenvelo aus dem öden Werftgelände in eine undefinierte Landschaft radelt. Die fast schwarze Decke über dem halbtoten Schiff.