Bangkok Oneway

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Dagmar sah sich das bunte Treiben von dem in luftiger Höhe über der Straße verlaufenden Sky-Walk an. Es war ein Kommen und Gehen von Menschen aller Schichten. Viele von ihnen schienen hier ihren Weg von oder zur Arbeit zu unterbrechen, vielleicht auch ihre Arbeitspausen dort nutzbringend zu gestalten. Anderen sah man die Dringlichkeit ihrer Hilfegesuche an Kleidung und Gesichtern an. Über die Einzäunung um die vierköpfige Brahmafigur herum wurden Berge von Blumengirlanden getürmt. Qualmende Kerzen und unzählige Räucherstäbchen hüllten die gesamte Kreuzung in Rauchschwaden. Der monotone Singsang einer Folkloregruppe und eine Vielzahl von kleinen Glöckchen konkurrierten mit dem Getöse des Verkehrs auf der sechsspurigen Thanon Rama I.

Dagmar lief der Schweiß den Nacken herunter. Sie suchte sich ein nettes Café in einer der Shopping-Malls und bestellte sich einen Eiskaffee. Sie überlegte, ob sie sich zur Sicherheit eine Toilette suchen sollte, verwarf diese Idee aber wieder. Wenn man in Thailand den ganzen Tag lang schwitzt, dann muss man fast nie auf die Toilette. Wenn doch einmal, dann ist der Urin bernsteinfarben, zähflüssig und riecht konzentriert, dachte sie und musste schmunzeln. Komisch, auf was für Gedanken man kommt, wenn man alleine in solch einer fremden Stadt herumläuft.

Dagmar blieb noch eine Weile in dem Café sitzen und grübelte. So kann es nicht weitergehen, sagte sie sich, sonst werde ich noch verrückt. Ich muss irgendetwas tun, um mich abzulenken. Sie kratzte den Schaum ihres Getränkes mit einem langen Löffel aus dem Glas. Als sie ihr Portemonnaie aus der Handtasche nahm, um zu bezahlen, fiel ihr die Visitenkarte des Rettungsassistenten in die Hand. Er hatte sie nach dem Motorradunfall gebeten, sich zu melden. Kurzerhand nahm Dagmar ihr Handy und wählte die angegebene Nummer. Der Mediziner war sehr erfreut über den Anruf und erläuterte die Arbeit seiner Organisation. Als Dagmar auf den Motorradunfall zu sprechen kam, fragte der Sanitäter, ob sie den Hergang schildern könnte und bereit wäre, als Zeugin aufzutreten. Der Unfallverursacher sei bisher nicht gefunden worden und die Polizei war im Begriff, die ganze Angelegenheit zu den Akten zu legen, wenn nicht noch sachdienliche Hinweise oder Zeugenaussagen kämen.

»Wird er denn wieder gesund werden?«, fragte Dagmar besorgt.

»Wer?«

»Na, der Motorradfahrer.«

»Oh nein, der ist gleich nach der Einlieferung ins Hospital verstorben. Er hatte wohl zu schwere Kopfverletzungen.«

Dagmar war erschüttert.

»Dann ist ja seine Familie jetzt noch ärmer dran als vorher.«

»Ja, davon kann man ausgehen, da nun wahrscheinlich der einzige Ernährer wegfällt.«

Dagmar überlegte. Sie stellte sich in Gedanken eine ältere, verhärmte Frau in verschlissener Kleidung vor, die umringt war von einer ganzen Schar ausgehungerter, weinender Kinder.

»Hatte er Familie?«, wollte sie wissen. Der Mann am Telefon konnte diese Frage nicht beantworten, da er dafür Unterlagen einsehen musste, die sich in einem anderen Raum befanden.

»Wenn Sie Zeit und Lust haben, dann besuchen Sie mich doch einfach in unserem Office«, schlug er vor.

»Ich könnte Ihnen bis dahin weitere Informationen beschaffen und Sie würden mir die Möglichkeit geben, ein bisschen Werbung für unsere kleine private Hilfsorganisation zu machen.«

So kam es, dass Dagmar schon kurze Zeit später in einem hell getünchten Raum im Stadtteil Klong Toey in einer kunstlederbezogenen Sitzecke saß und sich angeregt mit dem Rettungsassistenten Elmar Trepkau unterhielt. Elmar hatte sein Medizinstudium unterbrochen, um sich für eine kleine Organisation zu engagieren, die sich bemühte, eine dramatische Lücke im Rettungssystem der Hauptstadt zu füllen. Sie nannten sich Seelensammler. Da sich die thailändischen Krankenhäuser selbst finanzieren mussten und kaum ein Thailänder eine Krankenversicherung vorweisen konnte, rückten Rettungswagen in der Regel erst nach Klärung der Kostenübernahme zu Unfällen aus. Die Organisation finanzierte sich aus Spenden. Sie hatten einfache Rettungsfahrzeuge, mit denen sie schnell zur Stelle waren und Erste Hilfe leisteten. Anschließend verbürgten sich die Seelensammler, die offiziell Medical Emergency Volunteers hießen, für die Bezahlung von notwendigen medizinischen Behandlungen und regelten die Versorgung durch Angehörige oder durch eigene Mitarbeiter.

»Na, dann wollen wir mal schauen«, murmelte Elmar und schlug einen Aktenordner auf. Er las Dagmar daraus vor:

»So ... Bamrung Artmak, geboren am 15.8.2515, also 1972 nach christlicher Zeitrechnung, am Soundsovielten bei einem Motorradunfall mit Beteiligung des unbekannt flüchtigen Fahrers eines Toyota City Ace mit schweren Kopfverletzungen sowie Fraktur der Wirbelsäule ... und so weiter ... eingeliefert im Sathorn Hospital ... den Folgen seiner Verletzungen erlag. Ich erinnere mich, dass es ziemlich lange gedauert hat, bis wir ihn einliefern konnten. Wir haben seinen Angehörigen in einem Dorf in der Nähe von Sawankhalok – das ist nicht weit von Sukhothai entfernt – Bescheid gegeben. Bamrung ist verheiratet und hat wohl auch Kinder. Die Verwandten sind leider finanziell nicht in der Lage, den Leichnam in ihr Dorf überführen und dort bestatten zu lassen.«

Dagmar schluckte betroffen.

»Und was passiert dann mit der Leiche?«

»Moment, hier steht etwas ...« Elmar blätterte in den Dokumenten.

»Hier: Die Leiche wurde verbrannt und anonym beigesetzt.«

»Es fand also nicht einmal irgendeine Zeremonie statt? Und die Familie konnte auch nicht nach Bangkok kommen?«

Elmar schüttelte bedauernd den Kopf. Dagmar schwieg bestürzt. Wieder malte sie sich die Situation dieser armen Familie irgendwo in der thailändischen Provinz aus.

»Und was ist mit dem Motorrad passiert?«

Elmar deutete aus dem Fenster.

»Das hat uns die Polizei hier auf den Hof gestellt. Es sieht gar nicht einmal so übel aus. Die Plastikverkleidung ist gebrochen. Der Blinker und der Spiegel fehlen, aber sonst ... Wahrscheinlich springt die Mühle sogar sofort an.«

»Bekommt dann die Familie wenigstens das Moped?«, fragte Dagmar.

»Wenn sie es abholt. Wir können so etwas nicht leisten. Für solche Dinge reichen unsere Mittel und unsere Kapazitäten nicht aus. Wir versuchen, Menschenleben zu retten, alles andere sprengt einfach unsere Möglichkeiten.«

Dagmar war erschüttert.

»Ich hätte nie gedacht, dass die Menschen in diesem Land so gleichgültig miteinander umgehen!«

»Nein, so dürfen Sie das nicht sehen«, widersprach Elmar vehement. »Dieses Land hat sich erst vor wenigen Jahren von einem Entwicklungsland zu einem modernen Staat mit internationalem Niveau gemausert. Das geht in solch kurzer Zeit nicht ohne Defizite. Früher gab es eine kleine superreiche Oberschicht und eine riesige Masse an gleichmäßig armen Menschen. Heute haben wir eine große und wirtschaftlich bedeutende Mittelschicht, wenige Superreiche und kaum noch Menschen, die so arm sind, dass ihnen die Grundlagen für ein normales Leben fehlen. Das wird natürlich mit einem gewissen Maß an Egoismus und Rücksichtslosigkeit bezahlt, jedoch keineswegs schlimmer, als wir es in unserer eigenen Heimat haben. Durch die teilweise noch lückenhafte Infrastruktur fällt das nur leider stärker ins Gewicht als bei uns. Nehmen wir mal als Beispiel den Motorradunfall von Herrn Bamrung Artmak. Das thailändische Rechtssystem hinkt entwicklungsmäßig noch viele Jahre europäischem Recht hinterher. Hier herrschen noch viel stärker überbrachte Vorstellungen von Schicksalseinflüssen. Ob an diesem Unfall nun der geflüchtete Autofahrer oder Herr Bamrung Schuld hatte, ist gar nicht entscheidend. Wahrscheinlich hätte der Autofahrer aufgrund seiner mutmaßlich besseren wirtschaftlichen Situation die alleinige Schuld zugesprochen bekommen. Da Motorradunfälle häufig tödlich enden, würde dem Unfallgegner vermutlich eine sehr hohe Geldstrafe auferlegt werden, möglicherweise sogar zusätzlich eine Haftstrafe. Diese Strafe würde nicht deshalb verhängt, weil er gegen irgendwelche Regeln der Straßenverkehrsordnung verstoßen hatte, sondern alleine deswegen, weil er durch seine Anwesenheit am Unfallort mitursächlich für den Tod des Unfallopfers war. Das ist für unser Rechtsempfinden absurd, aber hier in Thailand denkt man nun mal so. So ist es doch klar, dass sich nach einem Unfall jeder Beteiligte so schnell wie möglich aus dem Staub macht. Kein Mensch kümmert sich um die Versorgung der Opfer – es könnte ja dazu führen, dass man in die Schuldfrage hineingezogen würde!«

Dagmar hörte sich Elmars Ausführungen interessiert an. Ihre Gedanken kreisten um ihren Mann. Ob dieses schwer nachvollziehbare Verhalten der Thailänder eine Erklärung dafür war, dass ihr Heinz so völlig ohne jede geringste Spur verschwunden war? Sie erzählte dem jungen Mediziner von ihrem Mann, doch auch Elmar hatte keine Idee, in welcher Richtung Dagmar ermitteln sollte.

»Wo würden Sie denn in Bangkok nach einem Vermissten suchen?«

Elmar überlegte.

»Na ja, das Naheliegendste wäre doch, dass ihm etwas zugestoßen ist und dass er jetzt in irgendeinem Krankenhaus liegt.«

»Wie viele Krankenhäuser gibt es denn in Bangkok?«

Elmar holte tief Luft und machte eine ausholende Armbewegung.

»Wir arbeiten alleine mit vierundfünfzig Hospitälern zusammen. Und das sind längst nicht alle.«

»Vierundfünfzig?!«

Dagmar schluckte. Sie stellte sich vor, wie sie wochenlang durch eine völlig fremde Großstadt irrte und versuchte, ohne Sprachkenntnisse Ärzte und Krankenschwestern zu befragen. Ihr Ohnmachtsgefühl wuchs ins Unermessliche.

»Und wenn ich das Moped zu der Familie des Verunglückten bringen würde?«

»Nur zu! Die würden Sie sicherlich mit offenen Armen empfangen.«

 

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, bot sie dem Mediziner unsicher an. »Ich kümmere mich um das Motorrad und Sie versuchen, so viele Krankenhäuser wie möglich nach meinem Mann abzusuchen.«

»Ich werde mich gerne für Sie umtun. Das würde ich zwar auch ohne Gegenleistung machen, aber darüber, dass die Familie auf diese Weise wenigstens die wenigen Habseligkeiten des Verstorbenen erhält, freue ich mich natürlich.«

*

»Hast du Lust auf etwas Nachtleben?«, fragte Ute durchs Mobiltelefon.

»Ich habe Lust zu allem, was mich irgendwie aus dieser deprimierenden Situation herausholt«, erwiderte Dagmar.

So schlenderten Dagmar, Ute und Rainer Holl zunächst durch die Soi Patpong, drei Nebenstraßen der Thanon Silom, die eine Mischung aus Touristen-Nepp-Trödelmarkt und heruntergekommenem Puff- und Anmachbar-Viertel darstellten.

»Musst du mal gesehen haben«, hatte Rainer Dagmar gegenüber behauptet, die er gleich von Anfang an geduzt hatte. »Nicht unbedingt ein weiteres Mal, aber einmal solltest du schon hier gewesen sein.«

Das Gedränge in den engen Gassen war dermaßen unangenehm, dass sich das Trio entschloss, schnellstmöglich weiterzuziehen. Sogar Kinderwagen wurden von käsigen Touristen in fadenscheiniger Schlabberkleidung quer durch die Menge geschoben. Die drei kämpfte sich ihren Weg durch die Menschenmassen, um dann fluchtartig in das nächstverfügbare Taxi zu steigen. Anschließend ging es in eine Diskothek, die sich im vierundzwanzigsten Stockwerk eines Hotels befand. Dagmar war vom Ambiente des 24NightFly völlig begeistert, sie tanzte für ihr Leben gerne. Während Ute und Rainer in einer mit weißem Leder bezogenen Sitzecke saßen und Cocktails tranken, bewegte sich Dagmar ausgelassen zu moderner Popmusik. Nach einer Weile ging sie an die Bar und bestellte sich ein Bier. Dann kehrte sie zu den anderen beiden zurück.

»Das macht total Spaß, warum tanzt ihr nicht?«, fragte sie außer Atem.

»Ich habe noch nie getanzt«, antwortete Ute barsch. »Ich bin damals auch ohne dieses Fruchtbarkeitsritual schwanger geworden.

»Was ist das für eine tolle Musik?«, wandte sich Dagmar an Rainer.

»Das nennt sich, glaube ich, Techno. Das wird wohl von Maschinen gemacht und nicht von Menschen.«

»Techno ist Marschmusik für Kinder!«, spottete Ute.

»Na hör mal, zwischen Marschieren und Tanzen ist ja wohl noch ein himmelweiter Unterschied! Außerdem: Mir gefällt´s und ich bin schließlich kein Kind mehr!«

Ute rollte mit den Augen.

»Was hörst denn du für Musik?«, fragte Dagmar.

»Ich höre gar keine Musik – höchstens mal ganz leise.«

»Ich finde, dieses Techno hat etwas Hymnisches«, fuhr Dagmar fort.

»Etwas Hymnisches, ja?!«

»Na ja, man kann gut danach tanzen«, bemerkte Rainer abschätzend. »Und man kann gut Mädchen abschleppen ... oh! Ist mir so rausgerutscht!«

Schuldbewusst sah er Ute an, die nur den Kopf schüttelte.

»Rainer ist Junggeselle aus Leidenschaft, musst du wissen!«

Sie leerte ihr Glas und hielt es Rainer entgegen. Ohne eine Frage zu stellen, ging der damit in Richtung Bar, um Nachschub zu holen. Dagmar wippte mit dem ganzen Körper zur Musik.

»Diese fette Kick zu den Sythie-Flächen haut wirklich rein!«, schwärmte sie Ute vor.

»Fette Kick? Sythie-Flächen? Wovon redest du um Himmels willen?!«

Ute sah ihre Begleitung fassungslos an.

»Ja, ich bin musikalisch vorgebildet. Meine Tochter ist mit einem Musiker verheiratet.«

»Deine Tochter?«

»Ja ich habe eine Tochter. Eine Tochter und zwei Enkelsöhne, Benjamin und Ole. Und einen Schwiegersohn, der der Leadsänger der berühmten Los Spaccos ist.«

Ute, die ihre lederne Umhängetasche soeben nach einem Labello durchsucht hatte, sah Dagmar fassungslos an.

»Los Spaccos? Verarscht du mich jetzt gerade ein bisschen?«

»Nein, ich verarsche dich ganz und gar nicht!«

Dagmar machte eine pathetische Handbewegung.

»Die europaweit bekannte und erfolgreiche Band Los Spaccos hatte zwei richtige Hits: Es gibt so viel Scheiße auf der Welt – und alles kostet Geld – und alles kostet Geld und Du bist aus der Welt – Du bist nicht mal hier da. Zwei Hits, unendlich viele Flops und ein Groupie mit Namen Sarah – das ist meine Tochter. Und diesem Groupie hat der untalentierte, hässliche und eingebildete Leadsänger Dennis Vieregge – genannt Hupe – die Unschuld, die Jugend, das gesamte Sparvermögen und seiner Mutter den Verstand geraubt.«

Dagmar nahm einen großen Schluck Singha-Bier.

»Ach ja, Spaßpunk nennen die ihre Musik. Spaßpunk! Als sie ihn dann endlich zusammen mit einem anderen Groupie im Bett erwischt hatte, haben Heinz und ich eine Flasche Champagner geköpft. Wir haben so laut gejubelt, dass die Nachbarn die Polizei wegen Ruhestörung gerufen haben. Nachdem wir denen die Situation erläutert hatten, hat das ganze Stadtviertel ein Fest gefeiert, mit Kapelle und Feuerwerk. Tja, zu früh gefreut! Meine schlaue Tochter war schwanger und verzieh diesem Vollidioten.«

»Und jetzt haben sie zwei Kinder«, vervollständigte Ute.

»Die Jungs sind wirklich süß. Die kommen voll nach der Oma – mütterlicherseits.«

»Und ist jetzt alles in Ordnung? Ich meine jetzt, wo deine Tochter und der – na, der Musiker – eine Familie sind, ist euer Verhältnis besser geworden?«

Dagmar wiegte ihren Kopf.

»Zu Sarah ja. Das ist deutlich entspannter als vorher. Aber dieser Punk ist jetzt auch noch spießig geworden. Das ist nicht zum Aushalten. Ein klapperdürres Pickelgesicht mit durch Flüssigbaustahl gefestigtem Irokesenschnitt, der mit einer Obi-Heckenschere die Buchsbaumeinfriedung seines Parkplatzes trimmt. Er wischt sich seine Popel an den speckigen Leopardenleggins ab und ich muss mir Filzpantoffeln anziehen, damit ich sein geöltes Eichenparkett nicht zerkratze. Ja sag mal, spinn ich?!«

Rainer kam mit zwei Gläsern und einer Bierflasche zurück.

»Ich hab mein Bier doch noch gar nicht alle«, protestierte Dagmar.

»Mach hin. Das Zeug muss weg. Bier hält sich nicht so lange.«

Rainer fingerte eine violettsilbrig glänzende CD aus seiner Gesäßtasche hervor und hielt sie Dagmar hin.

»Hier. Das war kein Techno, sondern Lounge-Musik. Lounge-Sensation 2015, habe ich dir eben mal vom DJ brennen lassen. Was die jetzt gerade spielen, könnte aber Techno sein.«

»Du kennst hier wohl jeden, was?«

Dagmar nahm die CD erfreut entgegen und steckte sie in ihre Handtasche.

»Zumindest in den Rotlichtvierteln ist er bekannt wie ein bunter Hund«, knurrte Ute.

»Hey, was bist du denn so gereizt?«

Rainer setzte sich und wischte sich ein paar Tropfen verschütteter Cola mit Mekong von seinen Hosenbeinen.

»Wenn du wieder mal Stress mit Stäffenny hast, musst du ihn bitteschön nicht an uns auslassen.«

»Ich habe keinen Stress mehr mit Stäffenny! Das hat sich ausgestresst!«

Mit bitterem Gesichtsausdruck nahm Ute einen großen Schluck aus ihrem Glas.

»Wie jetzt? Hast du doch selbst gekündigt?«, fragte Rainer erstaunt.

»Sie ist mir ein paar Sekunden zuvorgekommen und hat mich rausgeschmissen!«

Dagmar mischte sich ein:

»Wer ist denn diese Stäffenny?«

Ute sah erst Rainer und dann, nach kurzem Zögern, Dagmar an. Dann fing sie an zu erklären:

»Stefanie Conner ist meine Vorgesetzte beziehungsweise war meine Vorgesetzte.«

»Sie hat ihr den Job ausgespannt, dieses Miststück!«, fügte Rainer hinzu.

»Das stimmt doch gar nicht, Rainer!« Ute wandte sich wieder Dagmar zu.

»Ich war jahrelang Reiseleiterin hier in Thailand. Zunächst waren die Rundreisen noch relativ abenteuerlich. Es wurde in mehr oder weniger schlechten Bussen gefahren, viel Improvisation und Spontaneität war gefordert und auch die Gäste waren darin einbezogen. Ich erinnere mich zu gerne an eine Tour, auf der der Bus nicht anspringen wollte. Hätten wir auf einen Ersatz gewartet, dann wäre uns ein ganzer Tag verloren gegangen, also packten alle Gäste mit an, um den Bus anzuschieben. Nach jedem Stopp wieder aufs Neue. Wir haben da ein richtiges Zeremoniell draus gemacht, mit beschwörendem Einreden, Räucherstäbchen und Blumenschmuck am Kühlergrill. Gegen Ende der Reise hatte unser Hokuspokus tatsächlich Wirkung gezeigt und das Fahrzeug sprang wieder von selbst an. Es war eine tolle Zeit. Dann ging mir der Wandel der Thailandtouristen mehr und mehr auf die Nerven. Ich wechselte in andere Länder wie Indien, Nepal und Indonesien. Als die Stelle der Niederlassungsleiterin Thailand vakant wurde, rief mich die Firma nach Bangkok. Vier Jahre lang saß ich fast ausschließlich in einem klimatisierten Büro und bekam kaum etwas vom Sonnenlicht mit. Deshalb beantragte ich eine Versetzung auf eine andere Stelle irgendwo im Konzern. In den letzten Jahren hatte es Veränderungen in der Firmenzentrale gegeben. Wir sind an die Börse gegangen und all die guten Leute, mit denen ich von Beginn an zu tun hatte, alle, die ich kannte und die mich kannten, sind abgewandert. In leitende Positionen waren Manager vorgedrungen, die vom Reisen und von den Besonderheiten der fremden Länder überhaupt keine Ahnung hatten. Es wurde ständig alles umorganisiert, nur des Umorganisierens wegen. Und dann kommt da auf einmal dieses blondierte Fräulein Conner angewackelt, Beautycase größer als ihr Reisekoffer, und will unserem seit Jahren eingespielten Team erklären, wie man Reiseleitung macht. ›Nennt mich einfach Stäffenny, ganz unkompliziert. Wir repräsentieren Spaß und gute Laune.‹ Dieses Weibsstück hatte mich von Anfang an auf dem Kieker. Erstens, weil ich all das in- und auswendig kannte, was sie erst noch mühsam erlernen musste und zweitens, weil ich beliebt bin. Bei den Kollegen, den Gästen und den Geschäftspartnern. Stefanie Conner ist eine Siebenundzwanzigjährige ohne jegliche Auslandserfahrung und ihr wurde die Leitung von Martan Travel Thailand übertragen. Ich musste ihre Fehler korrigieren und davon gab es viele. Ist doch klar, dass sie damit ein Problem hat! Im ersten halben Jahr hat sie mich noch auf Rundreise geschickt, weil sie zu wenige Leute hatte, aber seitdem lässt sie mich nur noch die Drecksarbeit machen und schikaniert mich, wo sie kann.«

»Du hast keine Protegés mehr in dem Laden«, warf Rainer ein. »Ich hätte sofort das Handtuch geworfen, wenn ich gesehen hätte, was da auf mich zukommt. Du warst ja der Meinung, dass alles wieder wie früher werden würde. Wird es aber nicht, Schätzchen!«

*

Ute hatte Brötchen organisiert, es gab Filterkaffee und echten Käse.

»Wir Expats brauchen hier in Bangkok auf nichts zu verzichten«, hatte sie Dagmar vorgeschwärmt. Expat nannten sich die Ausländer, die in fremden Ländern eine neue Heimat suchten, ohne dort jemals wirklich Wurzeln zu schlagen. Gefrühstückt wurde am Küchentresen in Utes Hotelsuite. Nach einer durchzechten Nacht, zunächst in der Diskothek und später noch in einer Szenebar, die fast ausschließlich von jungen Thailändern der gehobenen Mittelschicht besucht wurde, hatte Dagmar ein weiteres Mal bei Ute auf der Couch übernachtet. Die beiden Frauen unterhielten sich über das Leben in einer exotischen Riesenmetropole, aber natürlich wurde auch wieder das Verschwinden von Dagmars Ehemann Heinz thematisiert.

»Hast du überhaupt schon einmal versucht, ihn auf seinem Handy anzurufen?«, fragte Ute.

Hektisch suchte Dagmar ihr eigenes Mobiltelefon hervor und wählte die Nummer ihres Mannes. Nach einer Automatenansage in thailändischer Sprache wurde auf Englisch mitgeteilt, dass der Teilnehmer vorübergehend nicht erreichbar sei.

Ute machte ihrem Schützling ein Angebot.

»Warum ziehst du nicht vorläufig bei mir ein?«, schlug sie vor. »Dein Hotelzimmer wird dich auf Dauer ein Vermögen kosten und für eine gewisse Zeit reichen meine zwei Schlafräume und die große Wohnküche wohl auch für zwei Personen.«

Dagmar zögerte, bevor sie dankbar einwilligte. Sie fühlte sich wohl und sicher in Gegenwart ihrer neuen Freundin, andererseits hatte dieser Schritt etwas Definitives, sich einzurichten auf eine längerfristige Situation. Allzu gerne wollte sie aber daran glauben, dass ihr Heinz plötzlich und guter Dinge wieder auftauchen würde. Martan Travel hatte sich im Bemühen um das Wohlergehen seiner Kunden nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Davon, dass man eine Obhutspflicht seinen Gästen gegenüber hatte, wollte man in der Zentrale Bangkok nichts wissen. Frau Conner war für Dagmar nicht zu sprechen oder ließ sich durch ihre Mitarbeiter verleugnen. Diese wiederum stellten Preisnachlässe für die verpatzte Rundreise und Entschädigungszahlungen in Aussicht, die später mit der deutschen Zentrale ausgehandelt werden müssten. Für die momentane Situation und für jedwede Fürsorge wollte sich niemand zuständig fühlen. Ute war wütend über das Verhalten ihres ehemaligen Arbeitgebers, war aber aufgrund ihres fristlosen Rausschmisses, verbunden mit einem Hausverbot in allen Niederlassungen von Martan Travel Thailand, nicht in der Lage, Entscheidungen herbeizuführen.

 

»Natürlich haben die keine personellen Kapazitäten mehr für Notfälle«, entrüstete sie sich. »Nachdem so viele Mitarbeiter gekündigt haben.«

*

Gegen halb elf am Vormittag wurde Dagmar telefonisch zu einem Gespräch auf die zuständige Polizeidienststelle gebeten. In einem hellen, holzvertäfelten Büro wurde sie von einem gepflegt aussehenden Offizier in blank gebügelter Uniform zu den Einzelheiten über das Verschwinden ihres Mannes befragt. Es war ein Dolmetscher und Bevollmächtigter der deutschen Botschaft anwesend, der Dagmar ein gewisses Gefühl von Sicherheit vermittelte. Die bekannten Fakten stellten eine mehr als dürftige Grundlage für weitere Nachforschungen dar. Der Polizeibeamte ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass er im Grunde genommen nicht den geringsten Fahndungsansatz erkennen konnte.

»Wir werden das Foto Ihres Mannes veröffentlichen und dann auf Hinweise hoffen«, hatte er gesagt. Nach dem etwa halbstündigen Gespräch lud der Botschaftsmitarbeiter Dagmar zu einem Kaffee ein und sprach einige wichtige Aspekte für die weitere Zeit in Thailand an.

»Wir haben für Sie ein Visum für die Dauer der Nachforschungen beantragt«, erklärte er.

Damit konnte sich Dagmar quasi unbefristet in dem Land aufhalten und musste sich nicht auch noch mit Fragen der Aufenthaltserlaubnis herumschlagen. Für eventuelle finanzielle Engpässe wurde ebenso Hilfe in Aussicht gestellt wie für die bevorstehende behördliche Kommunikation mit ihrer Heimatstadt. Der Beamte drückte noch einmal sein Bedauern über die unglückliche Situation aus, dann verabschiedete er sich freundlich.

*

Als Dagmar, wie verabredet, mit ihrem gesamten Gepäck in Utes Hotelappartement erschien, war diese gerade damit beschäftigt, ihrerseits einen Koffer zu packen.

»Was ist los?«, fragte Dagmar verunsichert.

»Mach dir keine Gedanken, ich muss nach Sukhothai fahren. Möglicherweise wartet dort ein Job auf mich. Rainer hat mich gerade angerufen, ich soll übermorgen am frühen Vormittag dort vorsprechen.«

»Nimmst du mich mit?«, fragte Dagmar bittend.

Ute unterbrach ihre Reisevorbereitungen und zögerte einen Moment lang.

»Warum nicht? Wir müssen dort aber übernachten.«

Dagmar war erfreut und erleichtert. Sofort begann sie, eine Reisetasche zu packen.

»Sagtest du Sukhothai?«, fragte sie Ute plötzlich.

Ute nickte wortlos und Dagmar fing an, hektisch zu werden.

»Wir müssen ein Motorrad mitnehmen. Das ist ganz wichtig!«

Sie nahm ihr Mobiltelefon und wählte die Nummer des Sanitäters Elmar Trepkau.

»Hey, was erzählst du da?! Von was für einem Motorrad redest du?«, warf Ute ein.

Dagmar erzählte Elmar aufgeregt von der bevorstehenden Reise nach Sukhothai, unterbrochen von Utes Protesten.

»Wir fliegen mit Bangkok Airways, versuch da mal, ein Motorrad mit an Bord zu nehmen. Von was für einem verdammten Motorrad faselst du da eigentlich die ganze Zeit?!«

Zwölf Stunden später saßen die beiden Frauen in einer schäbigen Sitzgruppe, die so etwas wie eine Hotellobby im Grand City Hotel darstellen sollte, und warteten auf einen Fahrer namens Khun Pravat. Khun Pravat besaß einen alten, aber sorgsam gepflegten Pick-up der Marke Isuzu. In vielen Jahren hatte er immer wieder Fahrten im Auftrag von Martan Travel erledigt und so waren er und Ute bestens miteinander bekannt.

»Als wir hier in Bangkok diese schwere Überschwemmung hatten, ist Pravats Haus völlig zerstört worden«, erzählte Ute, während die beiden Frauen auf den Fahrer warteten. »Der arme Kerl tat uns im Office richtig leid, da wir ihn und seine ganze Familie seit Jahren gut kannten und wussten, dass es bei denen gerade so zum Leben reicht. Wir haben dann eine kleine Umlage gemacht und ihm damit geholfen, seine Behausung wiederherzustellen.«

»Gibt es denn keine Gebäudeversicherungen in Thailand?«, fragte Dagmar erstaunt.

»Wo denkst du hin?! Hier wird fast gar nichts versichert. Außerdem gibt es Pravats Haus offiziell überhaupt nicht. Er hat es selbst gezimmert – selbstverständlich ohne jegliche Genehmigung. Es steht auf einem Grundstück, das irgendeinem Onkel gehört, der Karriere bei der Armee gemacht hat. Früher war dort eine Mangobaum-Plantage. Der Onkel hatte sich nicht mehr für die Bäume interessiert und dann haben halt seine diversen Verwandten zur Säge gegriffen und eine illegale Siedlung angelegt. Der Mensch muss ja schließlich irgendwo wohnen.«

»Und du hast der Familie des Fahrers Geld für den Wiederaufbau gegeben? Das finde ich aber höchst anständig von dir!«

»Ich habe ihm ein bescheidenes Martan-Darlehn verschafft und er zahlt die Anleihe brav in kleinen Raten zurück. Wir können uns auf unsere Thailänder wirklich verlassen. Das geht alles ohne große Förmlichkeiten. In Deutschland wird bei Katastrophen viel Wirbel gemacht, aber wahrhaft praktische Hilfe gibt es dort doch überhaupt nicht!«

»Na ja, bei uns gibt es aber auch kaum Naturkatastrophen«, gab Dagmar zu bedenken. »Dazu kommt, dass unsere Häuser alle viel massiver sind als hier. So ein gemauertes Haus bleibt bei einer Überschwemmung komplett stehen und schwimmt nicht den nächsten Fluss herunter, wie in Asien.«

Khun Pravat war ein richtiger Kauz, eigensinnig, manchmal stur, aber er war zuverlässig und loyal.

Zwar war Ute immer noch etwas grantig über Dagmars Extratour und verärgert über sich selbst darüber, dass sie sich hatte überreden lassen, aber der Zweck dieser Aktion stimmte sie ein wenig versöhnlich. Khun Pravat fuhr langsam rückwärts in die Einfahrt des Hotels, auf der Ladefläche des Fahrzeugs ein verbeultes Motorrad. Er hatte es in der Zentrale der Medical Emergency Volunteers abgeholt und sich die näheren Umstände erklären lassen. Er kannte die Adresse der Familie, für die das Moped bestimmt war, und er war instruiert worden, wie er Dagmar bei ihrer Mission unterstützen sollte.

Ute nahm auf dem Beifahrersitz Platz und Dagmar zwängte sich auf die enge Rückbank, auf der sich Gepäck stapelte.

»Wird’s gehen?«, fragte Ute und versuchte vergeblich, ihren Sitz eine Idee weiter nach vorne zu rücken. Dann stellte sie Pravat und Dagmar gegenseitig vor. Als der Fahrer den Namen Dagmar hörte, verzog sich sein Gesicht zu einem breit gespannten Grinsen, dicht an der Grenze zum lauten Losprusten. Dagmar registrierte das. Es machte sie unsicher. Der Mann suchte Halt für seinen Blick in belanglosen Dingen am Straßenrand.

»Was hat er?«, fragte Dagmar ihre Freundin.

»Was meinst du?«, erwiderte diese.

»Der Fahrer macht sich doch irgendwie lustig über mich! Nachdem du mich ihm vorgestellt hast, kann er sich doch kaum zurückhalten, um nicht loszulachen. Ist etwas mit mir?«

Ute sah den Thailänder prüfend an, dann fragte sie ihn einfach. Nun war es vorbei mit seiner Beherrschung. Unter lautem Lachen erklärte er Ute, dass Dagmar auf Thailändisch Hundearsch bedeutete. Dak Mah – Arsch Hund. Wieso hatten diese Farang immer so komische Namen? Auf dieses Wortspiel war Ute selbst noch nicht gekommen, obwohl sie derartige Übersetzungsvarianten sehr mochte und sich, seitdem ihre thailändischen Sprachfähigkeiten doch recht passabel geworden waren, köstlich darüber amüsieren konnte.

»Weißt du, warum die Barmädels ihre männlichen Verehrer meistens Darling nennen?«, klärte sie Dagmar auf. »Sie sagen Dak Ling. Das klingt für Ausländer so, als ob sie die englische Aussprache nicht richtig hinbekämen, in Wirklichkeit bedeutet es Affenarsch. Frauen betiteln sie mit Madame, also Mah Dam, Hund schwarz, schwarzer Hund. Von diesen Wortspielchen gibt es Hunderte. Dazu kommen ein unschuldiger Gesichtsausdruck und ein zuckersüßes Lächeln und schon ist die Verarsche perfekt.«